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Libyen

Gaddafi will Aufstand in Blut ersticken

Martin Suchanek, Infomail 542, 13. März 2011

"Jetzt sind wieder 90 Prozent des Landes unter unserer Kontrolle, bald ist alles zu Ende."

So äußerte sich Gaddafis Sohn Seif al-Islam gegenüber den italienischen Tageszeitungen "Corriere della Sera" und "Republica".

Auch wenn der Sohn des Diktators dabei den Mund zu voll genommen haben mag, so ist trotz unterschiedlicher Berichte aus Libyen eines klar: Der Volksaufstand ist in der Defensive. Den Aufständischen droht die Niederlage im Bürgerkrieg – womöglich schon in den nächsten Tagen.

Strategisch wichtige Städte wie Ras Lanuf mussten geräumt werden und werden nun wieder von den Milizen und Garden des Regimes kontrolliert. Die Städte Brega und Misrata sind nach heftigen Luftangriffen von Regierungstruppen mit Panzern und Artillerie umstellt und könnten bald fallen.

Sollten Gaddafis Truppen siegen, droht ein Massaker in den eroberten Städten und ein weiterer Vormarsch auf Bengazi, das Zentrum der Rebellion. Das Regime wird sich beeilen, die aufständischen Massen, eine genuine Volksrevolution, die alle Schichten der Bevölkerung von der kleinen (einheimischen) Arbeiterklasse über das Kleinbürgertum bis hin zu Teilen der Oberschicht umfasst, in Blut zu ersticken und so Fakten zu schaffen.

Konter-revolutionäre Konsequenzen einer Niederlage des Aufstandes

Eine Niederlage der Aufständischen – die Hauptgefahr dieser Tage – hätte enorme konter-revolutionäre Auswirkungen:

1. Würde es zu blutiger Unterdrückung tausender militanter KämpferInnen führen, die auch in Libyen ein pro-imperialistisches, repressives und korruptes Regime stürzen wollten. Es würde das Vertrauen der Masse der vor allem jugendlichen Aufständischen in ihrer eigene Kraft, in die Möglichkeit ihrer eigenen Befreiung erschüttern und könnte viele für eine kürzere oder längere Periode demoralisieren.

2. Der politische Differenzierungsprozess unter den Aufständischen, der ohnedies erst am Beginn steht, würde blockiert werden. Dies würde bedeuten, dass ein unbedingt notwendiger politischer Ablösungsprozess von den aktuellen, konservativen, reaktionären FührerInnen der Aufständischen, die selbst keiner oder kaum einer demokratischen Kontrolle durch ihre Basis unterliegen, erschwert wird. Heute stehen diese unter dem Druck der durch die Revolution mobilisierten ArbeiterInnen, Armen, städtischen KleinbürgerInnen. Die Massen sind bewaffnet, sie können ihre eigenen Organe und Volkskomitees – Keimformen zukünftiger Räte – entwickeln. Schließlich können sie so nicht nur ihre bestehenden Führungen testen – sie können auch daran gehen, eine alternative, genuin revolutionäre proletarische Führung bilden und diese mit ihren Klassengeschwistern in Ägypten u.a. Ländern verbinden. All das wäre schlagartig zu Ende, in Blut ertränkt oder in die Illegalität gezwungen, würde Gaddafi das Land zurückerobern.

3. Würde es auch für viele andere, von den Massen bedrängte Regime wie Jemen, Saudi Arabien, Bahrain verdeutlichen, dass die blutige militärische Unterdrückung von Massenbewegungen ihre Haut und ihre Herrschaft retten kann. Es würde dazu führen, dass es in anderen Ländern schwerer wird, die Massen und auch Teile der Armee für einen Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu gewinnen.

Daher ist die Unterstützung der Aufständischen ein Gebot der Stunde für die internationale Arbeiterbewegung, für alle InternationalistInnen, Anti-KapitalistInnen und Anti-ImperialistInnen der Welt.

Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Bewegung in Ägypten und Tunesien. Diese müssen die Unterstützung der Aufständischen fordern und versuchen, materielle und personelle Hilfe zu organisieren. Das bedeutet nicht nur die Lieferung von Waffen, sondern auch die Organisierung von Freiwilligenverbänden, die Seite and Seite mit den Aufständischen gegen die Streitkräfte Gaddafis kämpfen.

Nur so lässt sich die militärische Überlegenheit von Gaddafis Berufsoldaten sowie ihre weit überlegen Ausrüstung (Lufthoheit, Mehrzahl von Panzern, Artillerie und weit überlegene Logistik) wettmachen. Nur so können Entschlossenheit und Heroismus der Aufständischen zu einer wirksamen Kraft werden.

Charakter der Revolution

Die Unterstützung der libyischen Revolution muss auch einhergehen mit einer Aufklärung über deren politischen Charakter. Gerade in Deutschland orakeln zahlreiche stalinistische und vermeintlich anti-imperialistische Linke, ob das Gaddafi-Regime nicht doch irgendwie „anti-imperialistisch“ oder „sozial“ wäre, ob sich Linke nicht auf die Seite des Regimes zu stellen hätten oder wenigstens „neutral“ bleiben sollten. Das wird noch zusätzlich genährt durch die reale Drohung einer imperialistischen Intervention – sei es eine Flugverbotszone, die von EU, NATO und UN verhängt würde oder gar durch  direkte Intervention mit Bodentruppen.

Dazu ist folgendes festzuhalten. Erstens hat das Regime Gaddafi schon seit der Unterstützung der „Koalition der Willigen“ im Krieg gegen den Irak seinen vorherigen „Paria“-Status gegenüber dem Westen verloren. Im Gegenteil, das Regime in Libyen wurde rasch zu einem wichtigen Verbündeten v.a. des französischen und italienischen Imperialismus und zu einem hochgerüsteten Grenzposten der Imperialisten, der die rassistische Abschottung der EU militärisch und polizeilich abgesichert hat.

Zweitens war das Gaddafi-Regime immer ein bonapartistisches, diktatorisches Regime, das keine wirkliche Befreiung der Arbeiterklasse u.a. Unterdrückter je im Sinn hatte.

Den Großteil der Arbeit im Landes mussten MigrantInnen verrichten, darunter etwa 1,5 Millionen ÄgypterInnen, aber auch viele andere aus den Ländern Asiens.

Somit hatte Libyen eine Sozialstruktur, die den Rentner-Staaten und Petro-Monarchien auf der arabischen Halbinsel ähnelt. Der große Ölreichtum konnte auf größere Teile einer insgesamt relativ kleinen Bevölkerung von 6 Millionen verteilt werden – und zwar letztlich nach dem Kriterium der größten Nähe und Willfährigkeit gegenüber der herrschenden Clique um Gaddafi. Es ist kein Wunder, dass ein solches System niemals die tradierten, rückständigen Formen der libyschen Gesellschaft - die „Clans“ - überwinden, sondern nur inkorporieren und letztlich perpetuieren konnte.

Ein solches Herrschaftssystem hat natürlich auch seine eigene Logik. Die ihm eigene Willkür, Vetternwirtschaft und die Gier nach Bereicherung muss zu immer größeren inneren Konflikten führen. Der Impuls der arabischen Revolution, die Auswirkungen der steigenden Lebensmittelpreise und die zunehmende soziale Ungleichheit bis hin zu ganzen Schichten, die zunehmend verarmen, musste letztlich zur Explosion, zur Revolte, zum revolutionären Aufstand führen.

Das ist auch der reale, fortschrittliche Charakter der Massenbewegung in Libyen, die aber – anders als in Ägypten oder Tunesien – rasch die Form des Bürgerkriegs annahm.

An diesem fortschrittlichen Charakter des Aufstandes ändert selbstverständlich auch die Tatsache nichts, dass sich reaktionäre Kräften („Clanführer“, alte auch rechte und pro-monarchistische Opposition; ehemalige Funktionäre des Gaddafi-Regimes wie der ehemalige Innenminister und jetzige Sprecher der provisorischen Regierung in Bengazi).

Für MarxistInnen bestimmt sich der fortschrittliche oder reaktionäre Charakter einer Bewegung, eines Aufstandes nicht nach diesem oder jenem Führer, sondern aus dem Klassencharakter und Zielen des Aufstandes. Der Kampf gegen eine Diktatorenclique und für die Errichtung demokratischer Verhältnisse ist ein gerechtfertigter und berechtigter Kampf, den RevolutionärInnen und die Arbeiterklasse unterstützen, ja unterstützen müssen, um selbst die Führung des Kampfes zu übernehmen und diesen mit dem Kampf für eine sozialistische Umwälzung zu verbinden.

Nein zur imperialistischen Intervention!

Der fortschrittliche Charakter des Aufstandes zeigt sich aber auch darin, dass er den Imperialisten ganz und gar ungelegen kam. Nach Ben Ali und Mubarak droht nun ein weiterer Büttel der Imperialisten, v.a. der EU-Mächte, zu stürzen. Die beiden anderen Despoten waren von ihren ehemaligen „Verbündeten“ und Herrn fallengelassen wurden, um den Apparat und die Strukturen ihres Regimes – und somit den Einfluss der Imperialisten – zu retten. Gaddafi und sein Clique wollten nicht zu einem weiteren Bauernopfer werden. Daher spielen sie die Karte der Repression und können dabei auf ihre eigenen „Spezialtruppen“ setzen, die loyal zum Regime geblieben sind.

Es war aber der Volksaufstand, der für die Imperialisten Gaddafi zum „Problem“ machte. USA, EU, NATO, die deutsche und französische Regierung teilen trotz aller erneuter Dämonisierung Gaddafis ein Ziel des libyschen Regimes: die Befriedung und politische Neutralisierung des Aufstandes und die Zerstörung aller Formen der politischen Mobilisierung der Massen.

Die Imperialisten trauten zuerst Gaddafi nicht zu, dass er wieder Herr der Lage werden könne. Vor allem aber fürchten sie, dass er auf revolutionäre und gewaltsame Weise gestürzt werden könne und dass daraus ein Vorbild für alle Länder der Region werden könnte.

Daher begann rasch die Diskussion um Flugverbote und Intervention. Sarkozy, der noch vor kurzem Gaddafi empfangen hatte und nun noch rasch ein paar Kabinettsmitglieder feuern ließ, die vom libyschen Regime Urlaubsreisen bezahlt bekamen, fordert vehement die militärische Intervention. Zweifellos steckt dahinter auch ein Stück Abenteurertum. Wichtiger ist aber, dass der französische Imperialismus darum kämpft, in seinem wichtigsten Einflussgebiet als „Ordnungsmacht“ erscheinen zu können. Die USA und Britannien sympathisieren mit einer Militärintervention, während Deutschland und Italien etwas reservierter sind. Russland und China lehnen diese ab.

Hinter diesen unterschiedlichen Positionen stehen letztlich verschiedene, ja gegensätzliche aktuelle Interessen, aber auch „Risikoabwägungen“ einer Intervention, nachdem die NATO-Staaten auch im Irak und Afghanistan nicht vermochten, ihre ursprünglichen Kriegsziele trotz Milliardenaufwendungen und hunderttausender Soldaten durchzusetzen. Daraus erklärt sich auch, warum es trotz aller Krokodilstränen für das libyische Volk so schwer für die Großmächte der Welt ist, sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu einigen.

Eine imperialistische Intervention gegen Gaddafi würde ihm nicht nur erlauben, sich selbst ein „anti-imperialistisches“ Mäntelchen ähnlich dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad umzuhängen. Eine erfolgreiche Intervention der Imperialisten würde zur Besetzung des Landes, zur direkten Sicherung der natürlichen Rohstoffe für deren Konzerne, v.a. aber auch zur Zerstörung aller Ansätze eigener Kampf- und Organisationsstrukturen der ArbeiterInnen und ihrer Verbündeter und zu einer Entwaffnung der Bevölkerung durch die Imperialistischen führen. Es würde dazu führen, dass die Grenzen zwischen Libyen, Tunesien und Ägypten von den Imperialisten kontrolliert würden. Das wäre ein Albtraum für die Flüchtlinge – insbesondere für alle, die nach Europa wollen. Es wäre aber auch eine enorme Erschwernis beim Aufbau direkter Verbindungen zwischen den Aufständischen in Libyen mit der Bewegung in Ägypten und Tunesien. Es würde deren internationale Befruchtung und Kooperation erschweren, wenn nicht ersticken.

Die Gründe für die imperialistische Intervention sind – wie die aller anderen solchen „Rettungsmissionen“ – ganz und gar verlogen und reaktionär. Sie müssen entlarvt und alle Interventionsanstrengungen bekämpft werden!

Aber das darf nicht zu einer falschen Sicht auf den Libyen-Aufstand und das Gaddafi-Regime führen. Es darf nicht dazu führen, dem Schicksal des Aufstandes abwartend oder gleichgültig gegenüber zu stehen. Im Gegenteil: Wir sind mit dem Aufstand gerade jetzt, wo die Massen der ArbeiterInnen, der Jugend davor stehen, von Gaddafis Schergen hingemetzelt zu werden, solidarisch. Die libysche Revolution ist bedroht. Ihre Niederlage wäre ein schwerer Schlag nicht nur gegen die Aufständischen im Land, sondern gegen die gesamte demokratische Bewegung in den arabischen Ländern, die ihre reaktionären, despotischen und pro-imperialistischen Regime zu stürzen droht.

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