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Bilanz der bundesweiten Anti-Krisen-Demos am 12. Juni

Wie weiter in der Mobilisierung gegen das Sparpaket?

Martin Suchanek, Infomail 492, 14. Juni 2010

Insgesamt ca. 45.000 demonstrierten am 12. Juni in Berlin und Stuttgart gegen das Kürzungspaket der Regierung - gegen Arbeitslosigkeit, Kopfpauschale und Bildungsklau.

Organisiert wurden die Demonstrationen vom Bundesweiten Bündnis „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ (www.kapitalismuskrise.org), das von über hundert Organisationen, Gewerkschaften, Parteien unterstützt wird, darunter auch Arbeitermacht und die kommunistische Jugendorganisation REVOLUTION.

Ein politischer Erfolg

Insgesamt muss die Mobilisierung als politischer Erfolg gewertet werden - trotz Polizeiprovokationen in beiden Städten und bürokratischer „Rednerauswahl“ in Stuttgart.

Zweifellos hat das Mega-Kürzungspaket der Regierung in den letzten Tagen dazu geführt, größere Teile der Bevölkerung für die Demonstration oder jedenfalls deren Anliegen zur Erreichen.

Auch wenn das Sparpaket wesentlich die ärmsten und entrechtetsten Teile der Arbeiterklasse – Arbeitslose und Kinder – trifft, so hat es eine moralische und politische Empörung, ein Solidaritätsgefühl weit über diese Schichten hinaus ausgelöst. Vielen ist auch klar, dass es mit diesem Paket nicht zu Ende sein wird, sondern dass weitere Angriffe auf alle Lohnabhängigen folgen werden (Renten, Gesundheitsreform, Mehrwertsteuer ...).

Hinzu kommt, dass sich die Regierung in der Defensive und in einer tiefen Krise befindet, weil sie nicht nur Sympathien in der Bevölkerung verliert, sondern vor allem, weil sie über ihren eigenen Kurs gespalten ist, weil sie zwischen Angriff mit oder ohne sozialpartnerschaftliche Einbindung der Gewerkschaftsführungen und der SPD schwankt. Ein angeschlagener politischer Gegner wie die Bundesregierung darf sicher nicht unterschätzt werden. Das zeigt sich schon darin, dass die Kürzungsprogramme schon am 9. Juni durch Parlament und Bundesrat gepeitscht werden sollen. Aber ein angeschlagener Gegner ermutigt auch zur Offensive.

Zu den Demonstrationen

Daher waren die 45.000 bundesweit ein Erfolg. Bei den Demonstrationen in Berlin und Stuttgart zeigte sich folgendes Bild:

1. Beide waren mit rund 20.000 etwa gleich groß.

2. Die Berliner Demonstration war zweifellos stärker durch linke politische Organisationen, AntikapitalistInnen, KommunistInnen, SozialistInnen, aber auch MigrantInnen geprägt. Auch die Linkspartei hatte einen größeren Anteil, obwohl sie erst sehr spät zu mobilisieren begonnen hatte. Die sichtbare gewerkschaftliche Präsenz war hingegen in Berlin schwach und v.a. auf ver.di und NGG beschränkt.

Stuttgart war hingegen von Gewerkschaften dominiert, was nicht nur einen linkeren und kampffähigen Apparat und Unterbau von verdi in Baden-Württemberg repräsentiert. Es zeigt auch, dass die Lohnabhängigen im Westen die Krise als viel tieferen Einschnitt erleben, Millionen von Kurzarbeit, Abstieg, Verarmung bedroht sind, während im Osten viele schon jahrlang mit Hartz-Regelsätzen auskommen müssen und die Demontage eines Großteils der Industrie schon vor 20 Jahren stattfand.

3. Das drückte sich auch bei den RednerInnen aus und in der Frage der Auseinandersetzung mit den bürokratischen Apparaten. In der Berliner Mobilisierung ist der Einfluss von Linkspartei und Gewerkschaftsbürokratie sicherlich viel geringer gewesen als im Süden. Dort nahmen schließlich auch SPD und Grüne „in letzter Minute“ Einfluss auf die RednerInnen der Abschlusskundgebung, setzten den Gewerkschaftslinken Tom Adler ab und den rechten SPDler Schmiedel durch, der sich u.a. für das Bahnprojekt S21 einsetzt und bei Einführung der Hartz-Gesetze ver.di mit dem Gewerkschaftsaustritt gedroht hatte, sollte die Gewerkschaft dagegen mobilisieren.

Die Berliner Demo war politisch radikaler. Hier sprachen sich die meisten RednerInnen gegen Kapitalismus und für den Aufbau einer Massenbewegung gegen die Krise aus. In einem Grußwort aus Griechenland hieß es:

“Es ist höchste Zeit für ein lautes, unüberhörbares Nein: Nein, wir zahlen nicht für eine Krise, die wir nicht verursacht haben! Nein, wir unterwerfen uns nicht der Doktrin eines neoliberalen Europas. Nein, wir werden nicht bei unseresgleichen nach Sündeböcken suchen! Gemeinsam sagen wir überall auf den Straßen und Plätzen Europas: Nein zu diesen Sparplänen auf unsere Kosten! (…)

Es ist Zeit für eine radikale Veränderung, Zeit das Undenkbare zu denken! Schauen wir auf das wahre Schreckgespenst, das Europa verfolgt – den Kapitalismus!“

4. Es wäre jedoch falsch und kurzsichtig die größere politische Radikalität zum einzigen Kriterium für den Erfolg zu machen. Die Stuttgarter Demo hatte zweifellos den Vorzug gegenüber Berlin, dass sie tiefer in die gewerkschaftlich organisierten Schichten der Arbeiterklasse hinein wirkte und mobilisierte, also jene gesellschaftlichen Kräfte, die wir gewinnen müssen, wenn wir erfolgreich gegen die Krise kämpfen wollen.

5. Auch wenn die letzten Tage mehr Menschen ermutig haben, zu den Demonstrationen zu kommen, so war die Teilnahme mit 45.000 vor allem eine Teilnahme von AktivistInnen der Klasse und der sozialen Bewegungen. Über diese hinaus wurden nur in geringem Umfang mobilisiert. Das soll den Erfolg jedoch nicht schmälern. Schließlich gab es nicht wenige „linksradikale“ Gruppen und rechte Gewerkschaftsbürokraten, die noch zu Jahresbeginn vor einer Demonstration im Juni „gewarnt“ hatten, weil keiner Wissen können, welche „Stimmung“ dann vorherrschen würde. Mit dieser Politik des Abwartens hätte es – Stimmung hin oder her – keine Demonstration, keine Mobilisierung, keine bundesweit sichtbare Massenaktion gegeben; es wäre ein fataler Fehler gewesen.

Aber wir waren schon einmal so weit in der Mobilisierung gegen die Krise: am 28. März 2009 bei den Demonstrationen in Frankfurt und Berlin. Doch danach verabsäumten es die Anti-Krisenbündnisse, aus den Demonstrationen den Kern einer kämpferischen und schlagkräftigen Bewegung zu formen. Jetzt haben wir eine „zweite Chance“, die nicht wieder vertändelt werden darf.

Wie mit Repression und Vereinnahmungsgefahr umgehen?

In Berlin wie in Stuttgart kam es auf unterschiedliche Weise zu Polizeiprovokationen. Neben den „üblichen“ Vorkontrollen gab es in Berlin schon während der Demonstration Provokationen durch Polizeikräfte, die mit scharfen Hunden DemonstrantInnen provozierten. Die Demonstration musste mehrmals anhalten, um eine Abspaltung des „anti-kapitalistischen Blocks“ zu verhindern.

Auf der Abschlusskundgebung kam es zu wiederholten Provokationen, als Polizeitrupps durch die Kundgebung liefen, willkürlich Leute einschüchterten und provozierten. Diese Taktik der Polizei wiederholt sich mittlerweile in Berlin immer wieder und hat den Zweck, Menschen, die selten auf Demos gehen, von der Teilnahme an weiteren Kundgebungen abzuschrecken und zu verängstigen.

In der Berliner Torstraße, wo die Polizei mit scharfen Hunden die Demo provoziert hatte, soll ein Sprengsatz aus der Demonstration geworfen worden sein, der 15 Beamte verletzt hätte. Innensenator Körting (SPD) und die Polizeigewerkschaft sprechen gar von einer „neuen Qualität“ von Gewalt und „Mordanschlägen“. Diese Panikmache und Hysterie, sieht „natürlich“ nicht nur von den Provokationen der Bullen gänzlich ab, sie versucht auch, eine politisch sinnlose und kontraproduktive Aktion eines einzelnen billig zur Hetze gegen eine entstehende Bewegung zu instrumentalisieren.

Der Einsatz der Polizei wirft aber ein anderes Problem für die Zukunft auf. Wir müssen bei allen Großdemonstrationen mit Provokationen rechnen. Ebenso können sich in diesem gesellschaftlichen Klima der Deklassierung Verzweiflungsaktionen mehren. Daher ist ein organisierter Demonstrationsschutz aller Kräfte, die sich an der Demo beteiligen, nötig, um entschieden Gegenwehr leisten zu können und zu verhindern, dass Bullen in Zukunft problemlos durch Abschlusskundgebungen laufen können.

In Stuttgart hingegen riefen die Veranstalter die Polizei zum Schutz von SPD- und Grünen-RednerInnen, die massiv ausgepfiffen wurden. Dabei war es keineswegs nur der autonome Teil der Demonstration, der gegen die Rede von Schmiedel in Rage geriet. Die meisten DemonstrantInnen konnten nicht verstehen, warum ausgerechnet ein Verteidiger der Hartz-Gesetze ein Hauptredner auf der Kundgebung sein sollte.

Hinzu kam, dass der „innere Kreis“ der Stuttgarter Vorbereitung bürokratisch und ohne weitere Absprache im eigentlichen Bündnis Schmiedel und einen Grünen-Redner durchgesetzt hatte, dafür aber den bekannten oppositionellen Gewerkschafter Tom Alder von der Rednerliste strich!

Wir verurteilen schärfstens, dass die Organisatoren Polizeihundertschaften gegen die Pfiffe und Eierwürfe auf Schmiedel einsetzten! Es ist durchaus richtig und nachvollziehbar, dass sich DemonstrationsteilnehmerInnen nicht jede bürokratisch hinter dem Rücken der eigentlichen Vorbereitungsgruppe ausgehandelte Rednerliste vorsetzen lassen.

Wohl aber wirft der Fall Schmiedel ein grundsätzlicheres Problem auf. Wie verhalten wir uns gegenüber der Gewerkschaftsführung und der SPD, die jetzt auf die Proteste aufspringen? Wie kann eine Vereinnahmung verhindert werden?

Ein Teil der radikalen Linken antwortet darauf mit der Forderung, SPD und Gewerkschaftsspitzen außen vor zu lassen. Diese Position halten wir für falsch und einen sektiererischen Weg in die Sackgasse, der letztlich den Reformisten mehr nützt als schadet.

Warum? Die Gewerkschaftsführung steht an der Spitze der mit Abstand größten Massenorganisation der Arbeiterklasse. Wenn wir über Demos hinauskommen wollen zum politischen Streik gegen das Sparpaket, so müssen wir einen Weg finden, die Gewerkschaftsmitglieder dafür zu gewinnen. Dazu sind Forderungen an deren bestehende, sozialdemokratische Führung unerlässlich. So können diese unter dem Druck der Basis entweder gezwungen werden, weiter zu gehen, als sie wollen, oder es kann zumindest größeren Teilen ihre Mitglieder praktisch gezeigt werden, dass die Bürokratie einer Mobilisierung entgegensteht und eine oppositionelle, klassenkämpferische Bewegung gegen diese notwendig ist.

Wer diese Taktik ernst nimmt, muss sich auch dem Problem des verlängerten politischen Arms der Gewerkschaften – der SPD – stellen. Diese dominiert letztlich die Gewerkschaften und diese Dominanz wird nicht dadurch gebrochen, indem die SPD nur denunziert wird. Sie muss als reformistische Partei, d.h. als bürgerliche Partei, die sich sozial auf die Arbeiterklasse stützt, auch aufgefordert werden, ihren aktuellen, „radikalen“ Sprüchen von Widerstand Taten folgen zu lassen.

Die „Vereinnahmung“ einer Massenbewegung kann letztlich nur verhindert werden, wenn wir den Kampf aufnehmen, die bestehenden Führungen der Arbeiterklasse in den Kampf gegen die Regierung zu ziehen – das heißt heute, DGB-Gewerkschaften, Linkspartei und eben auch SPD.

Denn sie mögen heute nicht die Demonstrationen von 45.000 Menschen kontrollieren, doch sie kontrollieren die große Mehrheit der Klasse politisch und organisatorisch. Wenn wir die Arbeiterklasse – v.a. ihren organisierten Teil in den Gewerkschaften – betrachten, so ist klar, dass diese bereits seit Jahrzehnten „vereinnahmt“ sind und dass wir es jetzt mit einer Situation zu tun haben, wo diese Vereinnahmung geschwächt werden kann, wenn wir eine klare Taktik gegenüber diesen reformistischen Führungen anwenden. Dazu gehören: Forderungen zur Mobilisierung, Kontrolle über die Mobilisierung durch demokratische Aktionsbündnisse, durch offene Diskussion und Beschlussfassung über Forderungen, Aktionen, Rednerlisten usw.

Nächste Schritte

Diese Fragen müssen in jedem Fall in den Bündnissen diskutiert werden. Nur so können wir vorankommen. Wir schlagen als nächste Schritte vor:

Kundgebung/Demonstration in Berlin gegen das Sparpaket am 9. Juli, anlässlich der Diskussion im Bundestag; Protestaktionen und Kundgebungen in anderen Städten!

Aufbau von Anti-Krisenbündnissen in jeder Stadt, jedem Stadtteil und deren bundesweite Vernetzung!

Rasche Einberufung einer Aktionskonferenz, an der alle unterstützenden Organisationen und Bündnisse teilnehmen sollen, um einen gemeinsamen Mobilisierungsplan zu erstellen - bis hin zum politischen Massenstreik gegen das Sparpaket!

Wahl einer bundesweiten Koordinierung!

Organisierung eines internationalen, europaweiten Streik- und Aktionstages gegen die Krise im September. Einbringen und Beschließen dieses Vorschlags auf dem europäischen Sozialforum in Istanbul!

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