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Wiesbaden

Friede in Koch-Land - oder wie man Nazis marschieren lässt

Korrespondentenbericht, Infomail 484, 11. Mai 2010

Ein Paradebeispiel an ausgeklügelter Taktik in Zusammenarbeit von Verwaltung, Justiz, ausführender Staatsgewalt und BürgerInnenbündnis konnten engagierte AntifaschistInnen am 8. Mai, dem 65. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands, in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, bzw. deren Vorort Erbenheim erleben.

Vorgeschichte

Ursprünglich war die angemeldete Nazidemo seitens der Stadt im März 2010 in Wiesbaden verboten. Danach Funkstille. Ein breites Bündnis aus vielen verschiedenen Organisationen querbeet von Antifa über Pax Christi bis zur SPD mobilisierte zu "Gegenveranstaltungen" unter dem Motto: „Naziaufmarsch am 8. Mai in Wiesbaden verhindern: We can do it!“

"Keinen Fußbreit den Faschisten!" könnte man gemeinhin als Blockadeaufruf verstehen, macht aber nur Sinn, wenn es dafür auch ein Blockadekonzept gibt. Ob dies allerdings vom Bündnis so gewünscht wurde, stelle ich bewusst provokativ in Abrede, da Blockadeaufrufe immer konträr zum Konsens mit der bürgerlichen Ordnung stehen und nur von wirklichen entschlossenen AkteurInnen umgesetzt werden.

Und so nahm die unglückselige Geschichte ihren Lauf. Erst gegen Ende April ließ die Jamaica-Koalition die Katze aus dem Sack; um möglichen wirtschaftlichen Schaden von den Gewerbetreibenden der Landeshauptstadt am sonnigen Mai-Einkaufssamstag abzuwenden wurde der Naziaufmasch schlichtweg ins benachbarte Erbenheim verlegt. Dort, und am Ort des von den Nazis auserwählten Objektes der Begierde, am Air Field der US-Armee, sollten die (Neo)Faschisten ihren braunen Senf ungehindert ablassen dürfen.

Dazu wurden die verantwortlichen Ortsfunktionäre in Erbenheim nicht einmal konsultiert, was bei diesen einigermaßen Empörung hervorrief, man will ja wenigstens gefragt werden. Erbenheim wurde entlang der Bahnlinie in zwei Zonen aufgeteilt. Zwar versuchte das Bündnis, sich der veränderten Sachlage anzupassen und die "No-Go-Area" für Antifaschisten in Alt-Erbenheim durch einen angemeldeten Mahngang im Zentrum der Ortes zu unterlaufen, doch das Kasseler Verwaltungsgericht entschied schlussendlich im Sinne der Faschisten - was sonst?!

Tausende reisen an

Trotz der schlechten überregionalen Mobilisierung machten sich tausende von AntifaschistInnen auf den Weg, und ich unterstelle vielen der Anreisenden per se die Absicht, mehr vorgehabt zu haben, als den ganzen Tag an der Kundgebung des Bündnisses abzuhängen, von wo aus man sehr offensichtlich die Faschisten nicht mal verbal attackieren konnte.

Es kamen also jede Minute mehr AntifaschistInnen an Bahnhof Wiesbaden und kurze Zeit später in Erbenheim an, und es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass das Konzept "No-Go-Area" insgesamt gegriffen hatte. Der Tunnel in den südlich der Bahnlinie gelegenen Ortsteil war schon weit vorab durch Hamburger Gitter dicht. Die wenigen Bullen dahinter merkten, dass dieser Ort offensichtlich nicht zum Durchbruch auserkoren war. Aber welcher dann?

Nach einer offiziellen Gegenkundgebung morgens um 8 Uhr, als die Staatsgewalt noch relativ relaxed war, ging es dann also auf Orientierungsmarsch durchs Gelände.

Es war aber schnell klar, dass weder östlich noch südlich der Bahnlinie ein Durchkommen nach Süden möglich war. Engagierte AnwohnerInnen gaben den Bullen auch noch letzte Hinweise zum Stopfen von "Schlupflöchern" und kamen so, wie auch später beim Spalier an der heimischen Gartenmauer und der Bereitstellung für günstige Bullenkameraplätze auf hauseigener Veranda, ihrer Bürgerpflicht nach.

Nun waren die Bündnisverantwortlichen mit der Situation konfrontiert, dass weit mehr als die offensichtlich erwarteten GegendemonstrantInnen anreisten und sich erst unkoordiniert, dann aber geschlossen und vehement gegen die Abwartesituation im sich mittlerweile formierenden Polizeikessel zur Wehr setzen wollten. Dagegen konnte auch die trotz Wahlkampf in NRW eigens angereiste Hannelore Kraft (SPD) nichts ausrichten.

Nun war Taktik gefragt: Wie lenkt man einen sich unzweifelhaft auf Blockade ausgerichteten Aktionsdrang in sozialverträgliche Bahnen?

Darin haben die Reformisten Übung, das können sie. Man schickt den anschwellenden Block unter Angabe von etwaigen oder tatsächlich vorhandenen Anreise-Busblockaden durch die Staatsgewalt erst nach rechts Richtung Schnellstraße, lässt ihn verharren, verhandelt mit den absperrenden Cops, schickt den Block zurück, auf einen Vorstadthügel.

Der mittlerweile auf mehrere Hundert angewachsene Block marschiert mit kämperischen Parolen durch die Vorstadt von Erbenheim, aufs freie Feld hinaus, um dann führungslos vor nicht einmal 20 Ordnungshütern ins Stocken zu geraten. Nun war wieder "Bündnistaktik" gefragt, verhandeln, Zeit schinden, nächstes Ziel definieren ... Lächerlich, vor uns lag das freie Feld und dahinter die Bahnlinie. Hunderte auf der anderen Seite der Linie hätten das Staatsmachtkonzept ins Wanken gebracht.

Statt dessen: "Bitte dem Bauern nicht das Feld zertrampeln!" Gut, man geht als ordentlicher Antifaschist - könnte ja sein, dass die Scholle einem Kleinbauern gehört, der mit der Ernte seine Familie ernähren muss - auch darauf ein, die anderen, zu wenigen, wurden von den Cops wieder eingefangen.

Diese Situation nicht genutzt zu haben, die Bewegung nicht mobilisiert zu haben, das lasse ich als mein persönliches uncouragiertes Verhalten hier voller Scham im Raum stehen!

Weil: hier war die Gelegenheit, wahrscheinlich die Beste des Tages. Aber im Nachhinein schlauer zu sein, ist auch keine Kunst.

Doch die Zielrichtung wurde wieder einmal vom Bündnisverantwortlichen definiert und die Stimmung heizte sich massiv dadurch an, dass die Staatsmacht sich nun überall in den Weg stellte, paradoxerweise auch dort, wo schlicht und ergreifend der Rückweg zur Kundgebung angetreten werden sollte. Bullen überall, die Uhr tickt und die Nazis werden immer mehr.

Da macht es wenig Sinn, weit ab vom Geschehen auf einem Vorstadthügel auf "Go" zu warten, auch wenn der Verhandlungsführer das so aushandeln will. Also ketten, drücken und durch, geht doch. Erstes Erfolgserlebnis an diesem mittlerweile sonnigen Maitag, dass fühlt sich gut an und macht Bock auf mehr!

Mit etwas mehr Engagement und Entschlossenheit hätten wir, wieder in Nähe des Kundgebungsplatzes angekommen, die in westlicher Linie verlaufende Bullensperre schlicht und ergreifend weggedrückt. Sprichwörtlich in letzter Sekunde stellten die ihre Wannen quer und Wannen schieben sich schlecht. Wir waren ausgebremst.

Die Bündnismenschen verhandelten wieder. Klar ist es eine Farce, wenn neben dem offiziellen "Antifa-No-Go-Area" de facto ein zweites und drittes installiert ist und sich der Widerstand auf den Kundgebungsort beschränken soll. Natürlich gab es Repressionen, viele willkürliche Übergriffe auch auf Minderjährige und Dauerfilmung par excellence, von überall, besonders von besagter Anwohnerhaustreppe.

An dieser Stelle sei die Nachbarin des Bullenverandahausbesitzers hervorgehoben und zur Frau des Tages gekürt: sie stellte nicht den Bullen, sondern den AntifaschstInnen ihre Toilette zur Verfügung. Das ist Courage und verdient Respekt!

Mehrfach wurden nun auch vom Lautiwagen während des Programms Aussagen laut, dass man den DemoteilnehmerInnen ja von seiten der Verantwortlichen keine Spaziergangsbeschränkungen auferlegen könne und man eine Erweiterung des Bewegungsraumes fordere, Kesselvergrößerung sozusagen. Irgendwie schien man doch noch auf Einsicht der Staatsmacht zu hoffen oder wenigstens an deren vorhandenes "demokratisches" Bewußtsein zu appellieren, oder man tat zumindest so.

Doch kein Zentimeter Bullenbewegung, wir also weiter, gleiches Szenario, versetzt, eine Seitenstraße höher. Noch keine Wannen, nur Bullen und auch nicht allzu viele, auch kein Bündnisverantwortlicher mehr, der noch irgendwas koordinierte. Formieren, drücken, schieben und bewegen, weiter, vorwärts ... Zweiter Erfolg des Tages?

Greifbar nah. Immerhin wären die Nazis noch zu packen gewesen. Also Kraft in die Bewegung, nach vorn: "yes we can!" real und nicht nur verbalradikal!

Koch-Land

Doch spätestens jetzt war endgültig Schluß-mit-lustig in Koch-Land.

Schließlich gilt es, Faschisten zu schützen, die man zwar pro forma ablehnt, aber wie eine absterbende Gattung immer wieder explizit im Einklang mit dem gehuldigten herrschenden Demokratieverständnis - also mit dem Demokratieverständnis der Herrschenden - unter Artenschutz stellt. Hier herrscht Meinungsfreiheit, jedenfalls Meinungsfreiheit für Faschisten und die wird geschützt, koste es was es wolle! Und besonders gerne gegen den „linken Mob“. Also Knüppel aus dem Sack und Pfefferspray gratis in die Runde.

Und wenn die Staatsmacht unter Helm und Schale ihr wahres Gesicht zeigt, dann tut das weh, verletzt und zwar recht körperlich.

Nun galt es erst mal die Verletzten zu behandeln, Capsaicin in den Augen, auf Haut, Haaren und Kleidung, in der Luft, das ist nicht der Stoff, aus dem Träume sind. Damit fühlen sich auch die, die den Knüppel nicht auf den Kopf oder in die Rippen bekamen, recht brutal niedergeschlagen. Nun war sprichwörtlich schlagartig klar, dass an diesem Tag die Repression 1:0 gewonnen hat, und die Faschos gleich mit - obwohl die mit ihrer ausgesprochen schlechten Mobilisierungsfähigkeit ihre proklamierten Ziele klar verfehlten. Aber staatlichen Geleitschutz, VIP-Parkplätze, eigene S-Bahn-Waggons mit separaten Bodyguards, das will unsereins auch nicht haben - da scheißen wir drauf! Und zwar ganz dick!

Um den Frust, den nun auch die Bündnisverantwortlichen spürbar ausdrückten, wenigstens noch ansatzweise in ein positives Signal umzumünzen, wurde das an Ironie kaum zu übertreffende Angebot der Staatsmacht, die Kundgebung noch mal auf Sichtweite an die Nazis herankommen zu lassen, abgelehnt und statt dessen eine spontane Rückmarschdemo nach Wiesbaden angemeldet.

Das war dann auch ganz nett - wann marschieren wir in Hessen mal ohne Polizeispalier? - und das mitten auf einer sonst hoch frequentierten Schnellstraße, von wo die nun gut zu überblickende Masse der Bewegung nicht nur von den Bullen fürs Erinnerungsalbum abgelichtet werden konnte. Mit guter Mucke vom Lauti war auch das Brennen an unvermummten Körperteilen etwas besser zu ertragen, allerdings nur bis zum nächsten Blockpoint der Bullen, der Hauptverkehrskreuzung vor dem Wiesbadener Bahnhof, der offensichtlich schon den First-Class-Teilnehmern des Tages zur Abreise reserviert war.

Nein, mir platzt jetzt beim Schreiben nicht dafür der Kragen, dass wir da nicht einfach durchmarschiert sind - ist eben Scheiße, wenn die ersten Reihen denken, sie spielen Sitzblockade, obwohl die Bullen zuerst blockieren - aber was kann letztendlich meine arme Tastatur dafür, dass Widerstand nicht nur formuliert, sondern gelebt werden muss, ständig - und dass die Ge(h)- und Verbote der herrschenden Ordnung so tief in unseren Köpfen sitzen und Müdigkeit, Nervengift etc. ihr Übriges tun.

Der Rest war dann noch Bullengegängel am Bahnhof und nach Berichten anderer etwas Stress auf der Abschlusskundgebung, zweistellige Festnahmezahlen und jede Menge Verletzte bei den AntifaschistInnen. Den Rest und das, was ich vergessen habe, entnehmt bitte den Berichten und natürlich den Lügen der bürgerlichen Presse. Auch mit dem Zahlenschätzen hab ich´s nicht so.

Was mir eindeutig gefehlt hat, war eine breitere Beteiligung von MigrantInnenorganisationen, aber Wiesbaden ist eben nicht Marxloh!

Und wir waren natürlich - bei aller persönlichen Selbstkritik - im Team der Hammer, aber das wissen wir ja.

8. Mai: Naziaufmarsch verhindern! Flugblatt von Arbeitermacht und REVOLUTION Kassel

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