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100.000 beim bundesweiten Bildungsstreik - ein großer Schritt vorwärts

Infomail 393, 15. November 2008

Der bundesweite Bildungsstreik am 12. November war ein enormer politischer Erfolg. Zählt man die Teilnehmerzahl aller Demonstrationen und Streiks zusammen, wie sie auf schulaction.org berichtet wurden, so sind es schon jetzt über 100.000 - obwohl noch längst nicht alle Zahlen eingetroffen sind. Auch die bürgerliche Presse spricht von 70.000 bis 80.000. In jedem Fall handelt es sich um eine enorme Zunahme gegenüber den Protesten im Juni diesen Jahres, als rund 30.000 SchülerInnen auf die Straße gegangen waren.

Das zeigt, dass wir es mit eine wachsenden Bewegung zu tun haben; mit einer Bewegung, die auch beginnt, auf Universitäten überzugreifen und Solidarität von Teilen der Eltern und LehrerInnen zu erhalten sowie große Sympathie in der Bevölkerung genießt.

Die Ursache dafür ist nicht in einer besonderen Taktik der Bewegung oder in besonders neuen Forderungen zu suchen. Vielmehr ist die Ursache dafür die tiefe Krise des gesamten bürgerlichen Bildungssystem, die zu einer permanenten Verschlechterung der Bildungs- und Ausbildungssituation nicht nur für die Masse der Arbeiterklasse, sondern auch deren relativ privilegierten Schichten - der Arbeiteraristokratie - und der Mittelschichten bis hin zu Teilen des Bildungsbürgertums führt. Diese Situation wird noch verschärft durch die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems.

Es wird auch deutlich, dass mehr und mehr SchülerInnen nicht mehr bereit sind, die bestehenden Zustände hinzunehmen - im Ggenteil: sie wollen aktiv werden.

Die Protestformen

Die große Anzahl der TeilnehmerInnen am Schulstreik und den Demonstrationen darf freilich nicht über die Unterschiedlichkeit der lokalen Bündnisse, ihre politische Klarheit und Radikalität hinwegtäuschen.

In einigen Städten gingen die Aktionen über bloße Demos hinaus. In Oldenburg wurde eine Schule besetzt, in Hannover durchbrachen SchülerInnen und Studierende die Bannmeile um den Landtag und wurden von der Polizei attackiert. In Berlin gingen Tausende in die Humboldt-Universität, besetzten diese symbolisch und sprengten ein Treffen von Managern, die über weitere Privatisierungsvorhaben öffentlicher Dienste diskutierten.

Wir bedauern - wie auch das „Berliner Bündnis-Bildungsblockaden einreißen!“ -, dass dabei auch Teile der Aussetzung zum Gedenken an die jüdischen Opfer des 9. November 1938 zu Bruch gingen. Dies war jedoch von den TeilnehmerInnen der spontanen Aktion keineswegs beabsichtigt und vielmehr der Enge des Uni-Foyers geschuldet. Den Protest an die Uni zu tragen, Manager-Seminare zu stoppen und Fahnen und Transparente in einer kurzfristigen Besetzung vom Balkon zu hängen, war eine legitime und richtige spontane Aktion - und sicher ein Höhepunkt der Demonstration, der zeigt, welcher Elan und welche Spontanität in den SchülerInnen und Studierenden steckt.

Bürgerliche beginnen mit Hetze gegen Bildungsproteste

In einigen Städten kam es im Vorfeld der Proteste nicht nur zu den „üblichen“ üblen Einschüchterung und Drohungen durch Rektoren und reaktionäre LehrerInnen gegen streikwillige SchülerInnen. So wurden z.B. auffällig viele Klausuren auf den 12. November gelegt.

Neben diesen schon zur Gewohnheit gewordenen Schikanen agitierten in manchen Städten auch Ableger der Jungen Union und von ihnen gestellte „Schülervertreter“ gegen den Streik. So distanzierte sich der Frankfurter Stadtschülersprecher vom Aufruf des Jugendbündnisses und gab eine Presseerklärung ab, in der er sich gegen den Streik aussprach und vor „linksextremistischer" Unterwanderung warnte.

Das wurde z.T. auch von der bürgerlichen Presse - einschließlich ihres “sozial-liberalen” Parts - aufgenommen. So schrieb die Frankfurter Rundschau am 12.11.:

“Die Schülervertretung der Stadt Frankfurt hat sich vom Unterrichtsboykott in mehreren hessischen Städten distanziert. Die Organisationen vertreten nach Ansicht von Stadtschulsprecher Eric-Jan Krausch ‘nicht die nötige Mehrheit, um einen Streik auszurufen’.

‘Wo kommt das schon vor, dass eine Minderheit die Mehrheit regiert?’, heißt es in einer am Mittwoch veröffentlichten Mitteilung. Initiator des Protests in Frankfurt ist stattdessen das ‘Jugendbündnis Frankfurt/Offenbach, die von stramm linken und teils linksextremistischen Gruppen dominiert wird.” Also solche werden im Artikel unter Berufung auf den Verfassungsschutz SDAJ, DIDF-Jugend, REVOLUTION/Frankfurt/M., Solid und Die Linke.SDS. angeführt.

Trotz dieser Diffamierung folgten auch in Frankfurt/M. Tausende dem Aufruf der „Minderheit“ - und noch viel mehr in ganz Hessen.

Natürlich nahmen die bürgerlichen Medien auch die militanten Aktionen in Berlin und Hannover zum Anlass, gegen die „Randalierer“ und „Krawallmacher“ und die entstehende Bewegung zu hetzen.

In Hannover wurden von der CDU-Landesregierung sogar Landtagsabgeordnete der LINKEN und der Grünen für die „Ausschreitungen“ verantwortlich gemacht. V.a. die Springer-Presse und der Spiegel hetzen gegen die Berliner DemonstrantInnen. Sie werfen den Jugendlichen die Zerstörung von Bildern der Ausstellung über die Enteignung von Juden und JüdInnen durch das Nazi-Regime als Antisemitismus vor.

Dabei unterschlägt die Presse „natürlich“, dass die DemonstratInnen diese Ausstellung keineswegs mutwillig zerstören wollten. Vielmehr ist dieser bedauerliche Schaden auf die Enge des Raumes im Foyer der Universität zurückzuführen, wo die Gänge gerade 1,5 Meter breit und für die hineindrängenden mehrere Hundert SchülerInnen natürlich zu eng waren. Die meisten Zeitungen unterschlagen „natürlich“ auch, dass die Veranstalter und OrganisatorInnen der Demonstration ausdrücklich ihr Bedauern über diese Beschädigungen ausdrückten und ihre Hilfe beim Wiederaufbau anboten.

Stattdessen findet eine zynische Inszenierung statt, um die spontane Wut der Masse zu diskreditieren und die gemäßigteren Teile der Bewegung, reformistische und klein-bürgerliche Parteien wie LINKE und Grüne, Gewerkschaftsführungen und ElternvertreterInnen zur „Distanzierung“ aufzurufen oder jedenfalls zukünftig für „Mäßigung“ einzutreten.

Die Managerveranstaltung, die im ersten Stock gestört wurde, versucht hier auch gleich, auf den verständlichen Sympathien für die Ausstellung mitzuschwimmen, gibt sich unschuldig als „Privatveranstaltung“, die „zufällig“ über Patentrechte debattierte.

Damit sollen nicht nur die Legitimität, Notwendigkeit und durchaus vorhandene Sympathie für radikalere Protest- und Aktionsformen unter Jugendlichen wie in der Bevölkerung insgesamt verunglimpft werden. Gerade wenn 100.000 oder mehr auf die Straße gehen und dafür in Kauf nehmen, an der Schule disziplinarisch drangsaliert zu werden, zeigt das, dass eine gewisse Entschlossenheit entsteht, die sich weiter radikalisieren und verbreiten könnte. Daher antworten Staat und Presse darauf mit einer Mischung aus Repression, Diffamierung und Integration – sprich positive Berichterstattung für „gute“, weil harmlosere Aktionen, während gegen militantere Aktionen Breitseiten geschossen werden.

An Repression mangelt es natürlich erst recht nicht. Allein in Berlin wurden 13 SchülerInnen festgenommen. Etliche wurden von Bullen verprügelt. In vielen anderen Städten kam es ebenfalls zu massiven Provokationen, Festnahmen usw. durch die Staatsbüttel. Aber auch in vielen anderen Städten kam es zu Einschüchterungen, Provokationen usw. durch die Staatsmacht.

Die Rolle von Linkspartei, Gewerkschaften und LehrerInnen

Die große Sympathie für die Proteste in der Bevölkerung äußert sich auch darin, dass sich (fast) jeder Politiker, fast jeder Bonze, fast jeder Kapitalist genötigt sieht, selbst zu betonen, wie wichtig „die Bildung“ an und für sich ist.

Zugleich haben jedoch Medien, Staatsapparat und Regierungsparteien begonnen, gegen die entstehende Bewegung zu hetzen und diese zu diffamieren.

Doch zugleich mangelt es auch nicht an Anbiederung. Selbst der Berliner LINKEN-Chef Liebig hat neuerdings seine „Solidarität“ bekundet. Auf der Demonstration war von der Berliner Partei DIE LINKE jedoch nichts zu sehen. Auch in anderen Städten glänzte sie meist durch Abwesenheit.

Das ist kein Wunder, schließlich exekutiert DIE LINKE, wo sie in der Landesregierung oder in Stadtverwaltungen im Amt ist, ebenso wie SPD, CDU, FDP, Grüne eine bürgerliche, kapitalistische Bildungspolitik und Verwaltung.

Auch die Rolle der DGB-Gewerkschaften und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), bei der die meisten LehrerInnen organisiert sind, muss kritisch beurteilt werden.

In vielen Städten unterstützte die GEW die Aktionen materiell, jedoch ohne selbst aktiv die Mobilisierungen zu unterstützen. Selbst in Berlin, wo zeitgleich ein Lehrerstreik stattfand, konnte sich die GEW-Spitze zu keinem offenen Aufruf für den Schulstreik durchringen. Das ist ein entscheidendes politisches Hindernis für ein Zusammengehen von SchülerInnen, Studierenden, Beschäftigten im Bildungswesen!

Ein anderes Problem war und ist die Zusammenarbeit von GEW und ver.di mit der reaktionären Gewerkschaft der Polizei (GdP). In Berlin befinden sich GEW, ver.di in einer Tarifgemeinschaft im Öffentlichen Dienst mit der Polizei.

Als RevolutionärInnen lehnen wir diese Zusammenarbeit ab. Wir sind dagegen, dass die Tarifverhandlungen der ArbeiterInnen und Angestellten im Öffentlichen Dienst - wie von der GEW und ver.di-Führung gehandhabt - im Gleichtakt mit den Bullen laufen, so wie wir auch gegen die GdP-Mitgliedschaft im DGB sind.

Im Berliner Bündnis stand daher auch die Frage, ob es eine gemeinsame Kundgebung mit den drei Gewerkschaften geben solle (also unter Einschluss der GdP) oder ob eine gemeinsame Kundgebung mit GEW und ver.di nur unter Ausschluss der GdP in Frage komme.

Der rechte, opportunistische Flügel des Berliner Bündnisses aus SAV, SDAJ und i-REVO (eine Abspaltung von der internationalen Jugendorganisation REVOLUTION, welche in enger Sympathie zur Gruppe Arbeitermacht und zur Liga für die Fünfte Internationale steht), argumentierte für eine gemeinsame Kundgebung mit GEW, ver.di und GdP.

SAV und SDAJ meinten, dass es sich bei den Bullen ja „auch um Lohnabhängige“ handle und man nicht sektiererisch sein solle. I-REVO sprach zwar von der GdP als „reaktionärer Organisation“, die Frage einer gemeinsamen Kundgebung wäre aber eben kein „Prinzip“, sondern nur eine „taktische Frage“ und dem Ziel, mit den Gewerkschaften zusammen zu agieren, untergeordnet.

Glücklicherweise kam es nicht zu dieser anvisierten gemeinsamen Kundgebung mit der Bullengewerkschaft, gegen die sich von Beginn an der linke Flügel des Bündnisses aus AIR (Antifaschistische Initiative Reinickendorf), um ARAB (Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin), Gruppe Arbeitermacht, Landesschülervertretung und REVOLUTION vehement ausgesprochen hatten.

Warum? Weil die Polizei wie alle Repressionskräfte eben nicht einfach eine Gruppe von Lohnabhängigen wie jede andere sind, sondern der Inhalt ihrer Tätigkeit Unterdrückung und Sicherung des bestehenden Systems ist. Das zeigte sich auch wieder während des Schulstreiks, als die Bullen z.B. die streikenden SchülerInnen daran hinderten, in andere Schulen zu gehen, um die SchülerInnen zu Mitmachen zu animieren. Daher sind auch die Forderungen nach höheren Einkommen für die Repressionskräfte des Staates, für mehr Personal, mehr Ausrüstung usw. keine Forderungen, die wir unterstützen. Die GdP ist eine reaktionäre Gewerkschaft, die selbst nicht nur Lohn- und Gehaltsforderungen aufstellt, sondern „natürlich“ auch für eine Verschärfung der Repression und mehr Polizeibefugnisse eintritt. Die GdP vertritt auch die prügelnden „KollegInnen“, wenn diese wieder einmal gegen linke Demos am Ersten Mai oder gegen AntifaschistInnen vorgehen. So hat sie „selbstverständlich“ auch die Angriffe auf die Schülerdemos der Vergangenheit gerechtfertigt, hat sich der Hetze gegen die migrantischen SchülerInnen (Stichwort Rütli-Schule) mit rassistischen Statements angeschlossen.

Und mit dieser Bande wollten SAV, i-REVO und SDAJ allen Ernstes eine gemeinsame Kundgebung machen, um die „Einheit mit den Gewerkschaften“ zu demonstrieren!

Der 12. November hat gezeigt, dass das nicht nur prinzipiell und taktisch vollkommen opportunistische gewesen wäre. Das Verhalten der Bullen - 13 Festnehmen, Observierung Hunderter, wiederholtes Anhalten der Demoroute, frühzeitiges Auslösen der Abschlusskundgebung durch die Polizeibehörde - hat auch praktisch gezeigt, in welches politische Desaster dieser Vorschlag geführt hätte. Es hätte das Berliner Bündnis unter den fortschrittlichen Jugendlichen, wie unter den am meisten unterdrückten, v.a. migrantischen SchülerInnen bis aus die Knochen blamiert und diskreditiert.

Die Lehre daraus kann nur lauten: Gemeinsamer Kampf mit den Beschäftigten, gemeinsame Aktion mit Gewerkschaften wie ver.di und GEW - aber nicht um jeden Preis. Ein gemeinsame „Aktion“ und Kundgebung mit eine Gewerkschaft wie der GdP, die höhere Einkommen für jene Cops fordert, die dieselbe Demo angreifen, SchülerInnen schlagen und festnehmen, kann es nicht geben - auch wenn das bedeutet, dass eine GEW-Führung dann keine gemeinsame Kundgebung mit SchülerInnen und Studierenden macht.

Die politische Verantwortung dafür, dass es zu keiner solchen gemeinsamen Kundgebung mit den LehrerInnen kam, liegt eben nicht beim Streikbündnis, sondern bei GEW- und ver.di-Führungen, die einen gemeinsamen „Kampf“ mit den Bullen einer gemeinsamen Front mit SchülerInnen und Studierenden vorgezogen haben.

Lehren für die Zukunft

Dieses Beispiel illustriert auch, dass sich die Bewegung in Zukunft über ihre politischen Ziele, Strategien und Taktiken klarer werden muss.

Die Bildungsfrage ist - wie jede große Frage in dieser Gesellschaft - eine Klassenfrage. Es ist die Frage, in wessen Interesse, mit welchen Mitteln und Methoden, das marode bürgerliche Bildungssystem reformiert oder ersetzt wird. Zweifellos ist es richtig, dass heute der Kampf gegen die jüngsten „Gegenreformen“ und Angriffe der Herrschenden geführt werden muss; dass wir eine Bewegung aufbauen müssen, die dem bürgerlichen Staat und der herrschenden Klasse mehr und mehr die Kontrolle über dieses System streitig macht.

Das heißt aber auch, dass wir die Frage nach einer anti-kapitalistischen, sozialistischen Alternative zum bestehenden System aufwerfen und in Formen eines Programms von Übergangsforderungen positiv, sprich revolutionär beantworten müssen.

Der Kampf für eine Verbreitung, Radikalisierung und bessere Koordinierung der Bewegung muss daher einhergehen dem Aufbau einer revolutionären, kommunistischen Jugendorganisation, von REVOLUTION.

Trotz und gerade wegen des Erfolges dieses ersten bundesweiten Schulstreiks ist es notwendig, auf diesem Level aufzubauen und die Aktionen als Auftakt einer weit größeren, besser koordinierten Bewegung zu verstehen, die in nächster Zeit weit machtvollere Streiks an Schulen und Universitäten organisiert.

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