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Ärztestreiks

Viel Wut im Bauch

Infomail 254, 12. April 2006

Bei den seit Monaten andauernden Aktionen der ÄrztInnen handelt sich eigentlich um zwei Protestwellen: die der angestellten KlinikärztInnen sowie der niedergelassenen PraxisbesitzerInnen.

Streik und Standesbewusstsein

Erstere bestreikten in den letzten beiden Märzwochen Unikliniken und Landeskrankenhäuser mit Schwerpunkten in Bayern, Baden-Württemberg und NRW und bis zu 22.000 TeilnehmerInnen. Am 22.3. machten Tausende in Hannover ihrem Unmut Luft, wo der Vorsitzende der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), Hartmut Möllring (CDU), das niedersächsische Finanzministerium leitet.

Derselbe hält auch gegen einen fast zwei Monate währenden Streik der Landesbediensteten von ver.di eisern an der Forderung der TdL nach Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich fest. Zu einer Einigung ist es auch mit dem Marburger Bund (MB), der Vertretung der KlinikärztInnen bisher nicht gekommen. Der MB wäre bereit, einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 42 Stunden zuzustimmen, sogar „freiwillig“ bis zu 48 Stunden arbeiten zu lassen. Aber die Länder wollen nur 2 Stunden ausgleichen und zudem an Verschlechterungen für neu eingestellte MedizinerInnen festhalten, für die der Bundesangestelltentarif (BAT) ja nicht mehr gilt.

Der MB hat die Tarifgemeinschaft mit ver.di aufgekündigt, nachdem diese der Abschaffung des BAT zugestimmt und den neuen TVÖD unterschrieben hatte. Seitdem gilt für seine schon länger beschäftigten Mitglieder im Bereich aller Krankenhäuser, auch die nicht den Bundesländern gehören, praktisch der alte BAT weiter aufgrund tariflosen Zustands, sofern nicht Sonderverträge abgeschlossen wurden.

Die TdL hat seit einigen Monaten die Regelungen des TVÖD zur Arbeitszeit gekündigt, will ihn damit verschlechtern. Länder wie Berlin und Hessen sind aus dem Länderverbund ausgeschert und haben Sondertarifverträge ausgehandelt. Kommt die TdL mit ihrem Vorhaben durch, können auch die kommunalen Tarifverträge aufgrund der Meistbegünstigungssonderklausel verschlechtert werden. Letzteres ist der Hintergrund dafür, dass einige Bundesländer wie z.B. Bremen das Länderergebnis abwarten anstatt ihre Kommunalverträge wie Baden-Württemberg, Hamburg und Niedersachsen selbst aufgekündigt zu haben.

Dem Marburger Bund sind im letzten Halbjahr die Klinikärzte scharenweise zugelaufen. Zum einen liegt das an ver.dis weitreichenden Zugeständnissen an die „Arbeitgeber“ in den Kliniken und darüber hinaus im gesamten Öffentlichen Dienst. Zum anderen gehörten KlinikärztInnen zu einer Schicht lohnabhängiger Mittelschichten, deren Status über dem der klassischen Arbeiteraristokratie lag.

Dies ist heute mindestens bei Assistenz- und StationsärztInnen fragwürdig geworden. In den letzten 20 Jahren und mit deutlicher Beschleunigung seit Einführung der Fallpauschalen hat sich der Druck auf ihre Arbeitsverhältnisse gewaltig erhöht. Die jüngste „Rebellion“ der ehemaligen HalbgöttInnen in Weiß dagegen ist logisches und progressives Resultat davon!

Allerdings fühlen sich die meisten subjektiv nicht zur Arbeiterklasse gehörig. Davon zeugt ihr nach wie vor nur ungenügend aufgebrochenes Standesbewusstsein, ihr Zugehörigkeitsgefühl - ganz gegen den objektiven wirtschaftlichen Trend zur Proletarisierung dieser Schichten - zu den „KollegInnen“ der Mittelklasse unter den niedergelassenen PraxisbesitzerInnen bzw. professionellen Mittelschichten wie Chef- und OberärztInnen.

Für die Sache der Arbeiterklasse ist es natürlich ein großes Unglück, wenn ihre verräterischen, nach wie vor auf Sozialpartnerschaft gepolten Gewerkschaftsführungen diesen objektiven Trend nicht nur nicht befördern, sondern einen ganzen Berufszweig in den Krankenhäusern praktisch zurück in die Arme einer vom ständischen Vertretungsprinzip her rückständigen Organisation, wie sie der MB verkörpert, stößt.

Gerade darum müssen auch Revolutionäre den Kampf der Klinikärzte im MB unterstützen, aber die ständischen und z.T. spalterischen Forderungen sowie Kampfmethoden scharf kritisieren. Warum unterstützt der MB nicht den Kampf um die 38,5 Stundenwoche der ver.di-Streikenden, sondern bietet 42 - 48 Stunden für seine Klientel im Vorweg an? Sind ÄrztInnen nicht jüngst völlig zu Recht für das Urteil des europäischen Gerichtshofes auf die Barrikaden gegangen, demzufolge Bereitschaftsdienst mehr als bis jetzt als Arbeitszeit anerkannt und bezahlt werden soll? Logischerweise muss das mit der Forderung nach Neueinstellungen verknüpft werden. Die Arbeitszeitverlängerung liegt zu beidem quer!

Warum schließen sich die Mitglieder des MB in den Kommunen nicht dem aktuellen ver.di-Streik an? Das ist, wenn man den kleinbürgerlichen Klassencharakter des MB ignoriert, deshalb auch völlig unverständlich, weil im Dezember 2005 der MB seine Mitglieder in den kommunalen Krankenanstalten bereits zum Streik aufgerufen, Notdienstpläne ausgearbeitet hatte und erst in buchstäblich letzter Sekunde nach der einstweiligen Verfügung eines Kölner Gerichts die ganze Aktion aus Feigheit vor der bürgerlichen Justiz abgeblasen hat!

Ein gewichtiger Grund für Standesdünkel und Duckmäusertum bei den KlinikmedizinerInnen liegt im dualen deutschen Gesundheitswesen begründet: die meisten betrachten die lange Ausbildungszeit als Angestellte auf den Stationen als notwendiges, vorübergehendes Übel, als Vorleistung für das eigentliche Berufsleben mit einer lukrativen Praxis. Doch auch diese Perspektive verflüchtigt sich in weite Ferne.

Aufstand gegen die „Diktatur“ der Krankenkassenbürokratie

Bei der größten Ärztedemonstration in der Geschichte der BRD protestierten am 24.3. 30000 PraxisärztInnen in Berlin gegen die „Rationierungsmedizin“ von Schwarz-Rot. Dies war bereits die 2. Aktion seit Jahresbeginn. Kritisiert wurde insbesondere das Arzneimittelversorgungswirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) im Volumen von 1,3 Mrd. €. Wer überdurchschnittlich teure Arzneimittel verordnet, wird mit Honorarabzug bestraft (Bonus-Malus-Regelung).

Bundesärztekammerpräsident Hoppe klagte die Kassenärztlichen Vereinigungen als Erfüllungsgehilfen staatlich verordneter Rationierungspolitik und rechte Hand der Sparwut aller Sozialversicherungskassen an. Es könne nicht sein, dass das Gesundheitssystem ausschließlich zu Lasten eines Berufsstandes saniert werden solle. Diese Äußerung ist natürlich geradezu ein Witz angesichts der Gesetzgebung gegen die Versicherten in den letzten Jahren.

Aber eines stimmt: auch „ehrbare“ MittelständlerInnen im Gesundheitswesen sollen vermehrt Federn lassen - im Interesse des Großkapitals im Allgemeinen - an Senkung der „Lohnnebenkosten“ nämlich - wie im Besonderen - für die Monopolpreise der Pharma- und Medizintechnikbranche! Und das ist das Gemeinsame an beiden Ärzteaktionen, die aus einer objektiv unterschiedliche Klassenlage heraus unternommen werden, und die eigentliche Lehre aus beiden Protestwellen: um die globale Konkurrenzfähigkeit der BRD-Multis auf dem Weltmarkt herzustellen bzw. zu bewahren, opfert die herrschende Klasse nicht nur lohnabhängige, aber politisch loyale Mittelschichten, sondern auch ein Herzstück der klassischen Wählerbasis der christlichen „Volksparteien“, die KleinunternehmerInnen im Gesundheitssektor.

Die Angriffe auf die Arbeiterklasse sind ja schon selbstverständlich. Diese hat auch kein Interesse an einer unkritischen Unterstützung der Forderungen der PraxisbesitzerInnen. Die haben in Verkennung der wahren Sachlage ihre eigenen Feinde schon in Regierung und Einrichtungen, die immerhin von der Arbeiterbewegung erkämpft wurden, in welch bürokratisch degenerierter Form auch immer, verortet und sich damit auf die Seite ihrer großkapitalistischen TotengräberInnen geschlagen!

Hoppe empfiehlt als letztes Mittel die Rückgabe der Kassenzulassung. Die Aufkündigung des Sozialversicherungswesens ist sicherlich nicht im Interesse der lohnabhängigen überwältigenden Bevölkerungsmehrheit; das Gesundheitswesen ist dann für große Teile nicht oder nur bei vollständiger Verschuldung bezahlbar. Effizienter wird es auch nicht (USA). Viele Arztpraxen werden schließen müssen.

Die ehemaligen BesitzerInnen können sich ja ehedem lohnarbeitenden Personen in der Hartz-Agentur für Arbeitslosigkeit anschließen und dann bei „Standesherrn“ Hoppe beschweren, der ja die Einheit eines Berufsstandes zu verteidigen vorgibt, der sich um seinen Kleinbürgerkern herum organisiert, also ökonomisch in Auflösung begriffen ist, verursacht von der wirklich herrschenden Klassenfraktion, dem imperialistischen, globalen Monopolkapital. Es ist letzteres, dem der Praxisärzteprotest objektiv zuarbeitet. Kein Grund für uns, in Jubel auszubrechen. Wir unterstützen also nicht den Protest, sondern nur seine latent gegen die Pharmaindustrie gerichtete Komponente und sagen: „Nicht Praxen und Versicherte sollen bluten, sondern der medizinisch-industrielle Komplex!“

Diese Herangehensweise bietet günstige Gelegenheit, den revolutionären Standpunkt des Proletariats im Gesundheitswesen zu popularisieren. Die zukünftige herrschende Klasse hat natürlich kein Interesse an einem undurchsichtigen, ineffizienten Gesundheitswesen, das um teure Kleinunternehmensmedizin herum organisiert ist. Wir wollen das duale System zugunsten von Polikliniken und Genossenschaftsstrukturen abschaffen. Nur dieses liegt nicht quer zu medizinischem Fortschritt, benötigt und beschäftigt die heutigen Massen von MedizinerInnen. Die Profitorientierung des Gesundheitssektors, zunehmend auch des öffentlichen, setzt sie zunehmend außer Kurs, bedeutet ihren beruflichen Ruin parallel zur Untergrabung der Gesundheit breitester Volksmassen.

Die aktuelle Situation liefert wichtige Lehren für MarxistInnen: den strukturellen Krisencharakter der BRD, der auf einen Strukturbruch mit ehernen Säulen für den Konservatismus zusteuert; wie das Kleinbürgertum politisch sich dem Großbürgertum unterwirft, auch wenn es in Bewegung gerät, vorausgesetzt - wie leider immer noch - das Proletariat verfügt nicht über eine auch in dieses Beziehungsgeflecht eingreifende revolutionäre Klassenführung; einen umfassenden Krisenbegriff, der weit über das in der Linken übliche Umverteilen von unten nach oben hinausgeht, sondern politische, ökonomische und soziale Erdbeben schon noch unter der Oberfläche registriert, das begreift, dass dem Proletariat von der Geschichte immer gebieterischer die Aufgabe der Rettung des Fortschritts überhaupt gestellt wird. Sein Versagen würde die Zukunft der ganzen Menschheit verspielen!

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