Der Letzte macht das Licht aus

Der Letzte macht das Licht aus

Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale

 

1933-1940:

Trotzkis Verteidigung und Weiterentwicklung des Programms

Die Prinzipien der revolutionären Komintern • Die perspektivische Wende der Komintern • Stalin zerstört die revolutionäre Komintern • Die ILO stellt der Komintern den Totenschein für die Revolution aus • Nur die Trotzkisten kämpfen für die Revolution • Die Vierte Internationale wird gegründet • Die Methode des Übergangsprogramms • Das alte Programm der Sozialdemokratie • Die Bolschewiki brechen mit der Zweiten Internationale • Das Programm als Brücke zu den Massen • Ein Aktionsprogramm • Das Wesen der Übergangsforderungen • Zusammenbruch der Vierten Internationale während des Krieges

1940-1953:

Die Epigonen zerstören Trotzkis Internationale

Andere Sektionen folgen Cannon: Nationalismus bei den franzˆsischen Trotzkisten • Wiederaufbau der Vierten • Trotzkis Perspektiven erweisen sich als falsch • Die Notwendigkeit einer neuen Perspektive • Die IV. Internationale optiert für Dogmatismus • Die Zerstörung der britischen Sektion • Der Bruch zwischen Tito und Stalin • Pablo entwaffnet die IV. Internationale • Das Internationale Komitee spaltet sich ab • Der wahre Grund für die Abspaltung der SWP • Healy - Pionier des "Entrismus sui generis" • Der französische Kampf gegen Pablo • Der zentristische Weltkongreß 1951 - keine revolutionäre Opposition zu Pablo

Zentrismus und Stalinismus:

Die Verfälschung der Analyse Trotzkis

Die Vierte Internationale nach dem Krieg • Das Problem der strukturellen Assimilierung • Tito-Stalin Bruch • Der "Doppelcharakter" des Stalinismus • Mandels "orthodoxe" Revisionen • 1953 und danach: Programmatische Revisionen • Mandels ökonomische Revisionen • Hansen und Kuba • Hansen macht das trotzkistische Programm überflüssig • Die Theorie der strukturellen Assimilierung • Die spartacistische Schule der Stalinophilie • Spartacisten kapitulieren vor dem Stalinismus

1963-1974:

Das Vereinigte Sekretariat bis zum 10. Weltkongreß

Ursprünge der Wiedervereinigung • Der Charakter der Fusion von 1963 • Die ersten Krisen: Sri Lanka und Algerien • "Strukturelle Reformen" • Wurzeln der Guerrilla-Wende • Der zunehmende Linksradikalismus des VS • Der 9. Kongreß • Bolivien und Argentinien: Guerrilla-Linie in der Praxis • Die Entwicklung des Fraktionskampfs • Der 10. Weltkongreß

1980-1991:

Altersschwacher Zentrismus

Nikaraguas langer Schatten • Verallgemeinerungen der nikaraguanischen Erfahrung • Die Sektionen setzen die neue Wende um • Revolution in Polen • Lähmung und Anpassung angesichts Gorbatschows • Die Krise des Stalinismus in Osteuropa • Perspektiven für Osteuropa und für das VS • SWP(US): Von der Blutvergiftung zur Selbstamputation • Können die neuen Oppositionellen das VS retten? • An einem Wendepunkt

Vor dem 14. Weltkongreß:

Der letzte Walzer des Vereinigten Sekretariats?

Die Konsequenzen für den Aufbau der Internationale • Belgien und Frankreich • Eine ernüchternde Bilanz

Vor dem 14. Weltkongreß:

Abwege des Pessimismus

Eine Kritik des programmatischen Manifests des Vereinigten Sekretariats • Kleinbürgerlicher Pessimismus • Programmatische Flexibilität • Wann ist ein Programm kein Programm?

Socialist Action (US):

Der Mythos vom linken Flügel des VS

Eine Partei ... • ... aber welche? • Von der PRT zu den Zapatisten • Castros "taktischer Rückzug" • ... und der Ron Careys

Brief an die RSB-Ortsgruppen München und Paderborn

Imperialismustheorie und die Rolle des deutschen Imperialismus • Krieg in Bosnien • Castro, Kuba und eine Analyse, die weder Fisch noch Fleisch • Was ist die PKK?

Korrospondenz zwischen den Leitungen von GAM und RSB

Brief der GAM an den RSB vom 7.12.1994 • Brief des Politischen Sekretariats des RSB vom 20.2.1995 • Brief der GAM an die Leitung des RSB vom 17.3.1995 ( 1. Zu den Differenzen bezüglich Programm, politischem Selbstverständnis und aktuellen Aufgaben, 2. Die Haltung zur IV. Internationale, 3. Ist eine loyale Zusammenarbeit im RSB mit unseren Vorstellungen vereinbar?, 4. Warum wollen wir überhaupt in den RSB eintreten? ) • Brief der GAM an die Mitglieder des RSB vom 19.4.1995 ( 1. Was heißt programmatische Übereinstimmung?, 2. Die Ursache der Krise des Vereinigten Sekretariats, 3. Warum sollen wir dem RSB nicht beitreten? )

Die VSP-Pleite und die Lehren im RSB

 

 

 

1933-1940:

Trotzkis Verteidigung und Weiterentwicklung des Programms

Bei ihrer Gründung 1938 war die Vierte Internationale die einzige konsequente revolutionär kommunistische Strömung auf der Welt. Andere Tendenzen der degenerierenden Komintern stürzten entweder in den Reformismus ab, wie die rechte Opposition unter Bucharin, Brandler, Maurin und Lovestone, oder versteinerten zum Sektierertum, wie Urbahns und Bordiga. Viele Führungspersönlichkeiten der internationalen Linksopposition, hervorragende Gründer von Komintern-Sektionen, hielten dem Druck der bitteren Niederlagen für die Arbeiterklasse in den 30er Jahren nicht stand. Die Niederlagen in Deutschland, Spanien, Frankreich und v.a. der blutige Triumph von Stalins bonapartistischer Clique in der UdSSR trieben Linksoppositionelle wie Nin, Sneevliet und Rosmer auf zentristischen Schlingerkurs.

Es mangelte ihnen an Bereitschaft, Trotzki in seinem Vorhaben zur Gründung einer neuen Internationale zur Seite zu stehen. Trotzki hatte gehofft und erwartet, mehr Kräfte und ein breiteres Spektrum von historischen kommunistischen Führern aus der leninistischen Periode der Komintern in einer neuen Internationale vereinigen zu können. Es sollte nicht sein. Allein die Internationale Kommunistische Liga (IKL) und dann die Bewegung für eine IV. Internationale (BVI) bewahrten die grundlegenden Prinzipien und Taktiken der ersten vier Kongresse der Komintern. Und nur sie waren es, die diese Prinzipien und Taktiken weiterentwickelten, um den gewaltigen Herausforderungen der 30er Jahre begegnen zu können.

Die bürokratische Entartung der russischen Revolution wirkte sich sogleich auch jenseits der Grenzen der Sowjetunion aus. In der Komintern wurden ihre negativen Folgen in der Bewertung des Versagens der KPD bei der Führung des Aufstands von 1923 spürbar. Unter Sinowjews Leitung beging die Komintern noch eine Reihe von verheerenden ultralinken Fehlern (z.B. die Erhebung in Estland). Ihre Sektionen wurden unter der Losung der "Bolschewisierung" durchgreifend bürokratisiert. Nationale Führungen wurden auf Basis ihrer Ergebenheit vor der herrschenden Fraktion der KPdSU ausgewählt. Mit dem Aufstieg des Stalin/Bucharin-Blocks glitt die Komintern in ihren Beziehungen zur britischen Gewerkschaftsbürokratie rasch in Rechtsopportunismus ab. Der Block mit ihr, das anglo-russische Komitee, wurde trotz des Verrats der Gewerkschaften im britischen Generalstreik 1926 weitergeführt.

Nachdem 1927 eine Politik der Liquidation der chinesischen KP in die bürgerlich nationalistische Kuomintang betrieben worden war und in die Katastrophe von Shanghai geführt hatte, drehte sich die Komintern wieder nach links. Sie inszenierte die Kantoner Kommune. Dieser schlecht vorbereitete Aufstand wurde durch das ehemalige Ehrenmitglied der Komintern Chiang Kai Chek grausam unterdrückt. In Rußland selber zerstörte die entstehende bürokratische Kaste in Gefolgschaft Stalins die Parteidemokratie, wendete Polizeimethoden gegen jegliche Opposition an und steuerte eine wilde Zickzacklinie in der Wirtschaftspolitik.

In all diesen Fragen führte die linke Opposition unter Leitung von Leo Trotzki einen entschlossenen Kampf für die Rückkehr der Komintern zum revolutionären Kurs der ersten vier Kongresse. Die linke Opposition hatte ihren Ursprung in der russischen Partei, etablierte sich aber nach Trotzkis Verbannung aus der Sowjetunion als internationale, jedoch externe Fraktion der Komintern mit dem erklärten Ziel einer Reform der Internationale, ihrer Sektionen und des einzigen Staates, wo eine Sektion an die Macht angelangt war, der UdSSR.

Die Positionen der internationalen Linksopposition zur Sowjetunion, zu Deutschland 1923, Britannien 1926 und China 1927 gründeten sich auf den programmatischen Errungenschaften der bolschewistischen Partei sowie den auf den ersten vier Komintern-Kongressen angenommenen Thesen und Resolutionen.

Die Prinzipien der revolutionären Komintern

Die Komintern war in der revolutionären Nachkriegsperiode 1919-1923 aufgebaut worden und hatte eine für die Kommunisten von heute vorbildhafte organisatorische und politische Methode herausgearbeitet. Ihre Kongresse waren demokratische Foren, auf denen die besten kommunistischen Führer ihrer Zeit ihre Taktiken debattieren konnten. Ihr Vollzugskomitee (EKKI) und ein Netzwerk von Aktivisten bildeten die zentralisierte Struktur, mit der die Entscheidungen der Kongresse international durchgeführt werden konnten. Die Komintern systematisierte die Methoden des demokratischen Zentralismus als Organisationsform revolutionärer Kampfparteien und Partei der kommunistischen Weltrevolution.

Aus der verallgemeinerten Erfahrung der russischen Revolution wurde ein klarer Trennungsstrich zwischen Kommunismus und Reformismus gezogen. Die revolutionäre Eroberung der Macht durch das Proletariat und die Internationalisierung der Revolution war das Ziel der Komintern. Mit bloßen Proklamationen gab sie sich nicht zufrieden, sondern war bestrebt, eine Reihe von starken aktiven Sektionen aufzubauen, die imstande waren, diese Ziele mit Hilfe revolutionärer Taktiken zu verwirklichen.

Zu diesem Zweck unterzog die Komintern 1919-1922 die sich rasch wandelnde politische und wirtschaftliche Weltlage und das daraus erwachsende Verhältnis der Klassenkräfte einer ständigen Untersuchung. Sie operierte mit einem Verständnis des Imperialismus als Epoche des kapitalistischen Niedergangs, der Kriege und Revolutionen. Aber sie verstand auch die Bedeutung von Perioden in dieser Epoche: revolutionären, vorrevolutionären, stabilen, defensiven, konterrevolutionären. Perspektiven dienten als Anleitung zum Handeln, die Schwerpunkte des Komintern-Programms und die taktische Linie wurden den verschiedenen Nachkriegsperioden angepaßt.

Die perspektivische Wende der Komintern

Auf den ersten beiden Kongressen wurden die Hauptlosungen korrekt zur Formierung von Sowjets und dem Kampf um die Macht ausgegeben. Der Sieg der russischen Revolution, die Unruhen in Deutschland und die ungarischen Ereignisse deuteten darauf hin, daß dieser Weg erfolgreich sein würde. Doch unmittelbar nach den Niederlagen 1919/1920 in Deutschland, Ungarn und Italien, die dem Verrat der Parteien der II. Internationale und der Inkonsequenz der zentristischen USPD und PSI geschuldet waren, überprüfte die Komintern ihre Perspektiven. Auf dem 3. Kongreß im Juni 1921 wurden diese Niederlagen, ihr Einfluß auf die Arbeiterklasse und die Atempause für die wichtigsten kapitalistischen Regierungen voll erfaßt.

Die Linie des Herangehens wurde von der unmittelbaren Machteroberung in die "Eroberung der Massen" abgeändert. Die Sektionen wendeten die Methode der Bolschewiki von Februar bis September 1917 an, die Methode der Einheitsfront mit den reformistischen Parteien und der Aufforderung an sie zum Bruch mit der Bourgeoisie und zum Handeln im Interesse der Massen. Diese Methode leitet über zur Losung der "Arbeiterregierung" und zu den Übergangsforderungen als Mittel, das Vertrauen der Massen in eine kommunistische Führerschaft zu gewinnen. Diese Positionen sind in den auf dem 3. Kongreß verabschiedeten Thesen zur Taktik enthalten. Sie wurden in den Thesen zur Taktik des 4. Kongresses im Dezember 1922, dem Aktionsprogramm in den Gewerkschaften auf dem 3. Kongreß und den Thesen zur Einheitsfront wiederum auf dem 4. Kongreß ausgebaut.

Neben den allgemeinen taktischen und programmatischen Leitlinien entwickelte die Komintern Positionen zu einer ganzen Reihe von speziellen Themen. Zur nationalen Frage und später zur anti-imperialistischen Einheitsfront wiesen die entsprechenden Thesen auf den fortschrittlichen Charakter der nationalen Befreiungskämpfe und die Pflicht für Kommunisten hin, sie gegen den Imperialismus zu unterstützen. Aber gleichzeitig betonten sie als Kernfrage die Wahrung der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse in den unterdrückten Ländern. Nationale Befreiung war kein Endziel für die Komintern, sie war Bestandteil des Kampfes für die proletarische Revolution.

Die Arbeit unter den unterdrückten Massen, den Frauen, der Jugend, den Schwarzen, den Arbeitslosen und den Bauern, wurde von der Komintern als Pflicht für Kommunisten hervorgehoben. Darin brach die Komintern entschieden mit der arbeiteraristokratischen Problemferne der 2. Internationale, die den kolonialen Massen und unterdrückten Nationalitäten kaum Beachtung geschenkt hatte.

Das Herzstück aller Komintern-Positionen waren zwei grundlegende Prinzipien: die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse, d.h. ihres Programms, und die Anwendung von Taktiken wie der Einheitsfront, um die Massen für das kommunistische Ziel der Diktatur des Proletariats zu gewinnen. Die erste Bedingung für einen taktischen Kompromiß war die Möglichkeit für Kommunisten, ihre strategischen Positionen in der Öffentlichkeit darzustellen und die jederzeitige Freiheit, Kritik an ihren zeitweiligen Bundesgenossen zu üben.

Die Komintern hat ihr Vorhaben zur Neuerarbeitung des marxistischen Programms nie vollendet. Der Block aus Restaurationisten und bürokratischen Zentristen unter Bucharin und Stalin hat seinen reaktionären Slogan vom "Sozialismus in einem Land" schließlich in dem degenerierten Komintern-Programm festgeschrieben. Das Scheitern der Komintern vor der Aufgabe der programmatischen Wiedererarbeitung und Neubestimmung sollte von großer Tragweite für die Kommunisten sein, die für den Wiederaufbau der kommunistischen Internationale nach dem Verfall der Komintern eintraten.

Stalin zerstört die revolutionäre Komintern

All diese Prinzipien wurden von der stalinisierten Komintern geopfert. In Britannien pries man 1926 die Gewerkschaftsführer, statt sie zu bekämpfen. In China holten die Kommunisten das Banner des Proletariats ein und hißten statt dessen die Fahne der bürgerlichen Nationalisten.

In der ultralinken "dritten Periode" beging die Komintern entgegengesetzte, aber nicht minder verhängnisvolle Fehler. Das Programm des 6. Kongresses war von Theorie und Praxis des "Sozialismus in einem Land" geprägt und legte den Internationalismus der frühen Komintern ab. Die Sektionen wurden zu Pfändern von Stalins Außenpolitik. Die Einheitsfront wurde zugunsten der Rotfront oder "Einheitsfront von unten" aufgegeben, einer Taktik, die auf der Idee beruhte, daß Sozialdemokratie und Faschismus Zwillinge seien. Das Programm selber beschränkte sich auf abstrakte Allgemeinplätze über den Kapitalismus. Es gründete, anders als bei der frühen Komintern, nicht auf jüngsten Lebenserfahrungen des internationalen Klassenkampfes.

Auf dem 6. Kongreß vollzog sich die durchgängige Stalinisierung der Komintern. Die faule Frucht dieses Prozesses zeigte sich schließlich 1933, als der Stolz der kommunistischen Internationale, die KPD, kampflos vom Faschismus zerstört wurde. Nicht die Waffen der Faschisten, sondern der Verrat der Sozialdemokratie und die ultralinke Politik der KPD stürzten die deutsche Arbeiterklasse in erster Linie ins Unglück. Die Zurückweisung der Einheitsfront durch die KPD ebnete den direkten Weg in die deutsche Niederlage. Dieses einschneidende Ereignis legte die kriminelle Politik des Stalinismus bloß. Doch keine einzige Komintern-Sektion wollte dies wahrhaben. Stalins Linie in Deutschland wurde von allen rückwirkend unterstützt. Die Komintern erwies sich also endgültig als lernunfähig angesichts ihrer Fehler. Sie war für die Revolution verloren.

Trotzki und die linke Opposition vertraten bis zur deutschen Niederlage und deren unmittelbaren Auswirkungen 1933 die Position, daß die Komintern reformierbar wäre. Die internationale Linksopposition (ILO) reichte wiederholt Wiederzulassungsgesuche als Fraktion der Komintern ein. Das hinderte sie aber keinesfalls daran, ihre Position zu Britannien, China und später zu Deutschland und dem Aufstieg des Faschismus darzulegen. Trotzki sagte unmißverständlich, daß die Komintern das revolutionäre Programm auf ihrem 6. Kongreß aufgegeben hatte, als sie Bucharins Programm annahm. Das Komintern-Programm war somit nicht entscheidend für Trotzkis Reformperspektive. Die endgültige klassenkollaboratorische Wende der Komintern (das Überschreiten der Klassenlinie) kam hingegen nicht vor 1935 mit dem Stalin-Laval-Pakt und der Wende zur Volksfrontpolitik in Frankreich und später international.

Die ILO stellt der Komintern den Totenschein für die Revolution aus

Für Trotzkis Reformperspektive gab den Ausschlag, daß die Komintern während ihrer revolutionären Periode in einigen Schlüsselländern eine revolutionäre Massenvorhut organisiert hatte. In der Existenz dieser Vorhut, besonders in Deutschland, wo sich das Schicksal Europas entscheiden sollte, sah die ILO den möglichen Hebel zur Reform der Komintern, hinter dem eine mächtige Kraft steckte, die sich gegen die Stalin-Clique wenden könnte. Bedingung dafür war aber, daß sie ihre Führer los werden konnte, ehe deren Politik den eigenen Untergang durch den Faschismus besiegelte. Diese Überlegung bestimmte die Orientierung der ILO bis 1933. Die Zerstörung der Massenorganisation KPD und das Versagen aller Sektionen, darauf eine korrekte Antwort zu geben, untergruben die Grundlage für die Reformperspektive.

Die anderen KPen waren selber unter dem Einfluß der Politik der "dritten Periode" geschrumpft. Der Mitgliederschwund fiel so drastisch aus, daß er viele Parteien zu kleinen Sekten degradierte. In Frankreich fiel die KPF, die 1924 noch 110.000 Mitglieder gegenüber 35.000 der SFIO aufwies, 1932 auf 30.000 zurück, von denen kaum mehr als die Hälfte zur aktiven Mitgliedschaft gezählt werden konnten. In Britannien lief ein ähnlicher Prozeß ab, allerdings in verkleinertem Maßstab. 1930 war die Mitgliederzahl auf 2.500 gesunken, weniger als die Hälfte im Vergleich zu 1922. Rechnet man den Höchststand von 1926 (10.000) ein, so bedeutete das einen enormen Verlust.

Die Reformperspektive mußte geändert werden. M. Shachtman, 1933 ein führender Kopf der ILO, sprach dies im Vorwort zu "Geschichte und Prinzipien der linken Opposition" aus:

"Der Zusammenbruch der deutschen Kommunistischen Partei tilgt die letzte Sektion mit Massenanhang oder -einfluß aus den gelichteten Reihen der Kommunistischen Internationale. ...Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß die deutschen Ereignisse sowie die bürokratische Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit, die die Fehler und den Zerfall des Stalinismus und seiner Parteien, die ihnen gefolgt sind, vertiefen werden, uns zu der unausweichlichen Schlußfolgerung bringen, daß die Kommunistische Internationale vom Stalinismus erdrosselt worden ist, bankrott ist und sich nicht mehr erholen kann oder auf marxistischem Fundament restauriert werden kann."

Mit der Tatsache, daß es zugelassen wurde, daß die stalinistische Bürokratie die Komintern und die in ihr organisierten Massen erdrücken konnte, war bewiesen, daß jene Massen kein Hebel zur Reform sein und werden konnten. Seitdem schickten sich die Trotzkisten an, neue Parteien und eine neue Internationale aufzubauen. Die Aufgabe bestand nun darin, die Massen von der Komintern, der Sozialdemokratie und allen Formen des Zentrismus loszubrechen und sie für eine neue Internationale zu gewinnen. In einer Periode von Niederlagen, den 30er Jahren, erwies sich dies als äußerst schwierig. Die Kräfte der ILO/IKL/BVI hielten indes die Traditionen, Methoden und die theoretischen Errungenschaften der kommunistischen Bewegung am Leben. Damit war ihr Kampf auch ein Wechsel auf die Zukunft. Trotzki erkannte selber die Bedeutung dieser Leistung, so gering sie auch jenen schien, die voller Ungeduld, die Massen zu führen, zu dem Schluß kommen, daß der Kommunismus ein Hindernis auf dem Weg zu den Massen sei:

"Wie die neue Internationale geformt wird, welche Stadien sie durchlaufen wird und welche Gestalt sie schließlich annehmen wird, das kann heute niemand vorhersagen. Und es gibt auch gar keinen Grund dafür, denn die geschichtlichen Ereignisse werden es zeigen. Aber es ist notwendig, am Anfang ein Programm zu formulieren, das den Aufgaben unserer Epoche gerecht wird. Auf der Grundlage dieses Programms müssen Gesinnungsgenossen, die Pioniere der neuen Internationale mobilisiert werden. Kein anderer Weg ist gangbar."

Nur die Trotzkisten kämpfen für die Revolution

Unter Trotzkis Anleitung analysierten die ILO und ihre Nachfolger IKL/BVI den Klassencharakter korrekt, die Rolle und Dynamik des Faschismus, einer Massenbewegung, die sich auf Kleinbürgertum und Lumpenproletariat stützt und durch die atomisierende Zerschmetterung der Organisationen des Proletariats in den Dienst des Finanzkapitals stellt. Die revolutionäre taktische Antwort auf diese Bedrohung lautet: Schaffung einer antifaschistischen Arbeitereinheitsfront. Mit Hilfe einer solchen Taktik wäre es den Kommunisten möglich gewesen, den Bankrott der reformistischen Führer zu entlarven, ohne den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse zu gefährden. Mit ihr hätte der Faschismus zermalmt, die kommunistische Klassenführung errungen und zur proletarischen Machtergreifung vorangeschritten werden können.

Die Trotzkisten analysierten den Degenerationsprozeß in der UdSSR. Die Abkapselung des Sowjetstaats und die außerordentliche materielle wie kulturelle Zurückgebliebenheit der russischen Gesellschaft zur Zeit der Revolution bildeten den Nährboden für die Wucherung einer breiten schmarotzenden Bürokratie. Diese Kaste, angeführt von der Stalin-Fraktion, hatte die Arbeiterklasse der politischen Macht beraubt und ihre Vorhut terrorisiert und ausgelöscht. Die Trotzkisten erklärten diese Entartung auf jeder Stufe und formulierten die Strategie der politischen Revolution gegen die Bürokratie als einziges Mittel zur Wiederherstellung der politischen Macht des Proletariats im degenerierten Arbeiterstaat. Zugleich hielt die IKL/BVI eine korrekte Politik der bedingungslosen Verteidigung der übriggebliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution (vergesellschaftete Industrie, Außenhandelsmonopol, Plan) gegen die kapitalistisch-restaurativen Bestrebungen der Imperialisten aufrecht.

In Frankreich und Spanien untersuchten und bekämpften die Trotzkisten die stalinistische und sozialdemokratische klassenkollaboratorische Politik der Volksfront, die die Organisationen und Interessen der Arbeiterklasse der Politik der imperialistischen Bourgeoisie unterordnete. Trotzki leitete die kleinen Gruppen der BVI bei der Anwendung von Taktiken an, die den Gegebenheiten der stabileren imperialistischen Demokratie in Britannien und den USA angepaßt waren. In diesen Ländern und in Frankreich entwickelte er den "Entrismus" als kurz- bis mittelfristiges taktisches Manöver, das darauf abzielt, Revolutionäre an die Spitze der Vorhutelemente des Proletariats zu stellen, das noch nicht bereit ist, mit den reformistischen Massenorganisationen zu brechen.

Diese Taktik kann die Herausbildung eines revolutionär kommunistischen Flügels und einen scharfen Kampf sowohl gegen eine linkszentristische "revolutionäre" Opposition wie auch gegen die rechten bürokratischen Führer fördern. Der Entrismus stand zwar in Zusammenhang mit der Formierung zentristischer Tendenzen in reformistischen Parteien, aber die Trotzkisten beteiligten sich keinesfalls an der Bildung von zentristischen Blöcken oder näherten sich gar selber zentristischer Politik an. Von den Anhängern der Vierten Internationale wurden zentristische Führungen oder Parteien nicht als unvermeidbare Etappe angesehen oder gar befürwortet.

Trotzki arbeitete auch die Taktik der Spaltungen und Fusionen in Bezug auf nach links gehende zentristische Organisationen mit dem Ziel aus, sie für ein klares revolutionäres Programm zu gewinnen. In den kolonialen und halbkolonialen Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas verfocht die trotzkistische Bewegung das Programm der proletarischen permanenten Revolution, sogar dort, wo sie an einer anti-imperialistischen Einheitsfront mit nicht-proletarischen Elementen teilnahm. Sie wandte sich damit gegen die ursprünglich menschewistische "Etappentheorie", die von Stalin wieder hervorgeholt wurde und worin die unabhängigen Interessen des Proletariats der nationalen (bürgerlichen) Revolution untergeordnet wurden.

Die Vierte Internationale wird gegründet

Unter dem Eindruck des heraufziehenden zweiten imperialistischen Weltkriegs faßte Trotzki 1938 die grundlegenden Lehren und Methoden der kommunistischen Tradition von Marx bis zu den ersten vier Kongressen der Komintern zusammen und erweiterte, entfaltete und bereicherte sie mit den Lektionen für die Trotzkisten seit 1923. Das führte zur Abfassung eines Programms: "Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale". Die Vierte Internationale wurde auf dem Fundament dieses Programms gegründet. Wir bekräftigen, daß es völlig korrekt war, die Vierte Internationale 1938 zu errichten. Wenn sie damals nicht gegründet worden wäre, hätte es eine noch größere Zersplitterung und Schwächung der revolutionären Kräfte während des Krieges gegeben und die Stimme des revolutionären Internationalismus wäre noch weniger hörbar gewesen.

Weder die Organisation noch der "Internationalismus" der Zentristen wie der britischen ILP, der französischen PSOP oder der spanischen POUM haben die Prüfung des Krieges bestanden. Die spätere Auflösung kann keinesfalls einer "voreiligen" Formierung der IV. Internationale angelastet werden. Wir weisen auch den damit verbundenen Irrtum zurück, wonach nur nationale Massenparteien mit tiefer Verankerung in der Arbeiterklasse des jeweiligen Landes eine Internationale bilden könnten. Diese Auffassung ist durch und durch nationalistisch und von der II. Internationale geprägt.

Angesichts der Degeneration der II. und III. Internationale und des Zauderns der Zentristen brauchte das internationalistische revolutionäre Programm der Trotzkisten eine internationale Partei. Die Zentristen, die gegen die Gründung der IV. Internationale waren, hatten nationale Parteien errichtet. Das zeigte, daß eine internationale Partei für Zentristen nur ein Luxus war, und verriet ihren Nationalismus. Wenn die Partei das Programm ist, so gilt dies auch für die Weltpartei. Sobald ein entfaltetes internationales Programm existiert und eine stabile internationale Führung um dieses Programm herum aufgebaut ist, kann es keinen Grund zum Aufschub mehr geben. 1938 waren diese Bedingungen gegeben. Auch wenn die politische Führung der IV. Internationale zur Hauptsache in der Person von Trotzki präsent war, genügte das für den Anfang in der Gründungsperiode. Er war in vielerlei Hinsicht eine Verkörperung des Brückenschlags zwischen Bolschewismus und IV. Internationale.

Die IV. war eine "Internationale", die anders als die ersten drei nicht aus proletarischen Massenorganisationen bestand. In den meisten Ländern waren es nur Propagandagruppen, die der Isolation zu entrinnen versuchten, die ihnen ihre geringe Stärke und die mörderische Feindschaft der Stalinisten auferlegt hatte. Teilweise Ausnahmen bildeten die USA, wo die Socialist Workers Party in den Blaukragen-Gewerkschaften systematisch agitierten und örtlich sogar Teile der Arbeiterschaft anführten, wie in Minneapolis, sowie die tiefe Verankerung der vietnamesischen Trotzkisten im Saigoner Proletariat. Zwar war die Vierte schwach an Kräften, aber wie Trotzki sagte, "stark durch die Doktrin, das Programm, die Tradition und die unvergleichliche Festigkeit der Kader".

Trotzkis Perspektive war darauf orientiert, daß die nationalen Sektionen der IV. und die Internationale selber in die Position kommen würden, sich rasch in eine ernsthafte Kraft im Proletariat zu verwandeln. In der proletarischen Führungskrise, die der imperialistische Krieg unermeßlich verschärfen würde, könnte sich die IV. mit ihrem korrekten Programm und einer ebenso festen wie gereiften Führung zu einer entscheidenden Massenkraft profilieren, die imstande wäre, diese Krise zu lösen. Daß sich diese Perspektive nicht materialisierte, entwertet keineswegs den Entschluß zur Gründung der Vierten Internationale 1938. Trotzkis Vierte, ihr Programm, ihre Thesen und Kader haben trotz des späteren Niedergangs einer nachfolgenden Generation das kostbare Vermächtnis von Marx, Engels und Lenin gerettet und vermittelt.

Wir treten das Erbe der von Trotzki begründeten IV. Internationale an. Ihr Programm, das Übergangsprogramm, stellt den Gipfel der programmatischen Arbeit vorangegangener Generationen von revolutionären Marxisten dar. Es baute auf den Grundfesten aller früheren marxistischen Programme auf, dem kommunistischen Manifest, der programmatischen Erklärung der bolschewistischen Partei und v.a. den Prinzipien und Taktiken der revolutionären Komintern. Es repräsentierte eine Aufhebung des alten sozialdemokratischen Prinzips der Trennung in Minimal- und Maximalforderungen, die in der imperialistischen Epoche die reformistische Praxis der II. Internationale zementierte, und schuf statt dessen ausgehend von der in der revolutionären Komintern begonnenen Debatte ein System von Übergangsforderungen.

Die Methode des Übergangsprogramms

Das Übergangsprogramm wurde nach Trotzkis Tod von seinen vermeintlichen Schülern mißbraucht und mißverstanden. Es wurde schließlich als anwendbares Programm liquidiert und als lebloses Kultobjekt verehrt. Anders als die III. scharrte die IV. Internationale keine Arbeitermassen um ihr Banner. Ihre Integrität und Lebensfähigkeit lag in der wissenschaftlichen Korrektheit ihres Programms und dem Vermögen ihrer Kader, die Arbeitervorhut an die Internationale heranzuführen. Das Programm mußte gegen weit stärkere Gegner verteidigt werden. Es mußte im Klassenkampf angewendet, weiterentwickelt und auf neue Situationen und Aufgaben abgestimmt werden. An dieser Verantwortung trugen die Kader der IV. schwer, die nur gering an Zahl, arm an Klassenkampferfahrung und bedürftig an Theoretikern waren. Ein korrektes Verständnis des Übergangsprogramms, seines Charakters, seiner Lehre und Methode ist demnach zentral für Trotzkisten, die diese historischen Errungenschaften, die von Trotzkis Nachahmern in Theorie und Praxis lange verfälscht und verschleiert worden sind, wiederentdecken und neu anwenden wollen.

Trotzkis Programm markierte die erfolgreiche Lösung programmatischer Probleme seit dem Erfurter Programm von 1891, besonders konnte es die Brücke zwischen dem Kampf um Alltags- oder Teilforderungen und dem Kampf um die Macht schlagen.

Das alte Minimalprogramm blieb auf Forderungen im Rahmen des Kapitalismus beschränkt, z.B. für die Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats: Acht-Stunden-Tag, soziale Absicherung, Lohnerhöhungen und eine Reihe demokratischer Forderungen wie allgemeines Wahlrecht und eine souveräne Versammlung, Wahl der Richter, Auflösung des stehenden Heeres und Formation einer Volksmiliz. Diese Forderungen überschritten nicht den Spielraum an möglichen Zugeständnissen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, obgleich in vielen Staaten der Einsatz kämpferischster, ja revolutionärer Methoden notwendig wäre, um sie zu erfüllen.

Anfang der 90er Jahre hoffte Engels, der das Erfurter Programm mit Vorbehalt unterstützte, daß die parlamentarische und gewerkschaftliche Massenmobilisierung für diese Ziele in einer Entscheidungsschlacht münden würde, die den Rahmen des kapitalistischen Staates und die bürokratischen, halbabsolutistischen Regierungen vieler Staaten des Kontinents sprengen und den Weg zur proletarischen Macht bahnen würde. Bei Engels Nachfolgern Kautsky, Bernstein, Bebel usw. mutierte diese Perspektive zu der einer friedlichen, evolutionären Entwicklung in der Gegenwart, die irgendwann in fernen Zukunft von einem unvermeidlichen Zusammenbruch oder einer Katastrophe für den Kapitalismus abgelöst werden würde. So verfälschten sie auch die strategischen und taktischen Methoden der Begründer des Marxismus.

Das alte Programm der Sozialdemokratie

In einer Periode der kapitalistischen Expansion, der Anfangsphase der imperialistischen Epoche, wurden dem Proletariat schon auf Grund des Mitglieder- und Stimmenzuwachses der Arbeiterparteien und als Antwort auf gewerkschaftliche Maßnahmen Zugeständnisse durch die herrschende Klasse gemacht. Die Führer der Sozialdemokratie gaben sich ihrerseits mit schrittweisen Reformen und dem Aufbau von Parteien und Gewerkschaften zufrieden, d.h. mit dem von der Perspektive der proletarischen Macht getrennten Ringen um Reformen. Die Machteroberung wurden zum fernen "Endziel", zum Gegenstand abgehobener Propaganda, und ihre Strategie wurde durch die isolierte Taktik der Sozialreform ersetzt. Eine Kluft zwischen Maximal- und Minimalprogramm tat sich auf. Bernstein, der Vater des Revisionismus, wollte diesen Widerspruch damit lösen, indem er empfahl, die Sozialdemokratie solle als das auftreten, was sie wirklich sei, nämlich eine demokratische Partei der Sozialreform. Das "Endziel" war nichts, die "Bewegung" alles.

Die radikale Linke der Sozialdemokratie, besonders Lenin und Luxemburg, trat für revolutionäre Taktiken zur Durchsetzung der wichtigsten Forderung des Minimalprogramms ein (Massenstreik, bewaffneter Aufstand usw. zur Erlangung der demokratischen Republik). Sie wollten die Arbeiterparteien von Revisionisten und Reformisten säubern. Sie erkannten und analysierten die im modernen Kapitalismus für die Reaktion im Innern und die Kriege nach Außen verantwortlichen Kräfte (Imperialismus). Die sozialdemokratische Vorkriegslinke wies teilweise auf die Notwendigkeit der Überwindung des Programms Erfurter Prägung und seiner parlamentarischen und rein gewerkschaftlichen Taktik hin. Sie erhoben das "Endziel" zum strategischen Bezugspunkt ihrer revolutionären Taktiken.

Innerhalb der Linken kam Trotzki trotz einer Reihe schwankender Positionen, speziell zur Frage der Partei und der Einheit von Bolschewiki und Menschewiki, der völligen Aufhebung der Spaltung in Minimal- und Maximalziel am nächsten. Die Theorie der permanenten Revolution, die er damals nur auf Rußland bezog, erklärte die proletarische Revolution und eine Arbeiterregierung, die durch Massenstreik und Aufstand zu verwirklichen war und die nicht bei der Lösung der demokratischen Aufgaben haltmachen, sondern zur Erfüllung der Aufgaben der sozialistischen Revolution voranschreiten würde, zu unmittelbaren Zielen des Proletariats. Trotzki erkannte, daß die proletarische Revolution in einem zurückgebliebenen Land wie Rußland, das vorwiegend bäuerlich bevölkert war, Rückhalt unter der Bauernschaft gewinnen und internationalisiert werden mußte. Aber sogar Trotzki bot keine umfassende programmatische Alternative zum Erfurter Programm.

Das "marxistische Zentrum" der Sozialdemokratie um Bebel und Kautsky weigerte sich, Theorie und Praxis zu vereinheitlichen, wie Bernstein und Luxemburg es jeder auf seine Art wünschten. Sie verteidigten einen zunehmend abstrakten fatalistischen Marxismus gegen Bernstein, und andererseits verteidigten sie einen parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kretinismus gegen Luxemburg.

Die akuten wirtschaftlichen und politischen Krisen der Vorkriegsperiode kündigten eine Epoche von Kriegen und Revolutionen an, die die Erfurter Synthese zum Deckmantel für den Aufstieg einer konservativen konterrevolutionären Bürokratie in den Arbeiterorganisationen machte. Unter dem Druck des Proletariats und der Linken war die II. Internationale gegen jeden europäischen Krieg, der von vornherein als imperialistisch auf allen Seiten angesehen wurde, eingestellt und war darauf aus, einen solchen Krieg in eine Gelegenheit zum Sturz des Kapitalismus umzumünzen. Im August 1914 bedeutete die Zustimmung der deutschen SPD zu den Kriegskrediten die Leugnung des formalen Marxismus zugunsten von Sozialchauvinismus durch die SPD-Parteiführer, denen sich bald darauf sämtliche großen Parteien der II. Internationale anschlossen.

Die Bolschewiki brechen mit der Zweiten Internationale

Die Bolschewiki waren die einzige größere Partei, die sich an ihr Vorkriegsversprechen hielt und die Politik des revolutionären Defätismus mit den Losungen "Macht den imperialistischen Krieg zum Bürgerkrieg" und "Die Niederlage des eigenen Landes ist das kleinere Übel" verfolgte. Anderswo fochten Minderheiten wie K. Liebknecht unter der Parole "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" gegen die Sozialchauvinisten. Der Bolschewismus legte das Verständnis für die wahren Wurzeln des Krieges in der Theorie des Imperialismus als einer neuen Epoche kapitalistischer Krisen, Kriege und Revolutionen nieder. Die Bolschewiki führten auch revolutionäre Methoden für den Weg zur Macht ein: Einheitsfront, Massenstreik, bewaffneter Aufstand, und legten das Verständnis vom Wesen der proletarischen Staatsmacht klar: Zerschlagung der bürgerlichen bürokratisch-militärischen Staatsmaschinerie und ihre Ersetzung durch die Sowjetmacht, den kommuneartigen Staat.

Diese theoretischen und praktischen Errungenschaften machten den Bolschewismus 1917 zur Schmiede eines neuen Programms, das von der Notwendigkeit der proletarischen Machtergreifung als unmittelbare Aufgabe beherrscht war. Das machte die Tags- und Teilforderungen nicht überflüssig, stellte aber revolutionäre Methoden in Aktion und Agitation um die zentralen Lebensfragen Krieg, Hunger, Arbeitslosigkeit, Inflation, Wirtschaftschaos, die alle durch die heftigen Krisen des Imperialismus hervorgerufen waren, in den Mittelpunkt. Der Kampf um diese Forderungen organisierte und orientierte Arbeiter zum Kampf um die Macht. Diese von den Bolschewiki 1917 angewandten Übergangslosungen (siehe Lenins programmatische Broschüre "Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll") wurden Teil des Arsenals des internationalen Proletariats als Resultat der Arbeit der Komintern von 1919 bis 1923.

Auf dem 3. und 4. Kongreß systematisierte die Komintern die Einheitsfronttaktik, das Aktionsprogramm der Sofort- und Übergangsforderungen sowie die Taktik der Arbeiterregierung als Mittel zur Überwindung der subjektiven ideologischen Schwäche des Proletariats, die sich in der Existenz der reformistischen Führungen manifestierte, und zur Erleichterung des Kampfes um die Machtergreifung. Die Komintern brach entschlossen mit dem kautskyschen Erbe der II. Internationale, v.a. erkannte sie das Wesen der Epoche als eine des Übergangs zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Aber dies war kein objektiver Prozeß. Ihm lagen objektive Bedingungen zugrunde, seine Lösung hing indes vom Kampf zwischen Parteien und Klassen ab. Aus dieser Analyse schlußfolgerte die Komintern:

"Der Charakter der Übergangsepoche macht es für alle kommunistischen Parteien zur Pflicht, ihre Kampfbereitschaft bis zum Äußersten zu steigern. Jeder Kampf kann zum Machtkampf werden."

In der imperialistischen Epoche, wo Tagesforderungen mit kapitalistischen Prioritäten kollidieren, zeigen direkte Aktionen für solche Forderungen die Entwicklungsmöglichkeiten für den Kampf um die Macht. Revolutionäre müssen deshalb den Verbundcharakter aller proletarischen Forderungen und die Notwendigkeit zur kämpferischen Organisierung überall für sie hervorstreichen. Die Konsequenz daraus konnte nur heißen: zerstört den Kapitalismus, um euch zu verteidigen.

"Die kommunistischen Parteien schlagen kein Minimalprogramm vor, um das wacklige Gerüst des Kapitalismus zu festigen und auszubauen. Die Zerstörung dieser Struktur bleibt ihr Leitziel und ihre unmittelbare Mission. Aber um diese Mission auszuführen, müssen die kommunistischen Parteien Forderungen erheben, deren Erfüllung ein direktes und dringendes Bedürfnis der Arbeiterklasse ist, und sie müssen diese Forderungen in Massenkämpfen verfechten ohne Rücksicht darauf, ob sie mit der Profitökonomie der Kapitalistenklasse vereinbar sind."

Weiter heißt es dort:

"Wenn die Forderungen mit den Lebensbedürfnissen der breiten proletarischen Massen übereinstimmen und wenn diese Massen spüren, daß sie nicht existieren können, bis die Forderungen erfüllt sind, dann wird der Kampf dafür zum Ausgangspunkt für den Kampf um die Macht. Anstelle des Minimalprogramms der Reformisten und Zentristen rückt die kommunistische Internationale den Kampf für die konkreten Bedürfnisse des Proletariats, für ein System von Forderungen, die in ihrer Totalität die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Kampfetappen auf dem Weg zur proletarischen Diktatur darstellen und die jede für sich das Bedürfnis der breitesten Massen ausdrücken, auch wenn die Massen selber noch nicht bewußt für die proletarische Diktatur sind."

Das Programm als Brücke zu den Massen

Die Komintern arbeitete den Gedanken der Brücke heraus, um den Übergang vom Kampf im Kapitalismus zum Kampf gegen den Kapitalismus zu erleichtern. Diese Brücke, dieses System von Forderungen, dieses Programm mußte auf den objektiven Bedingungen aufgebaut sein, auf dem Zustand der Wirtschaft, den eigentlichen Bedürfnissen der Massen, dem Charakter der Periode, den frischen Erfahrungen im internationalen Klassenkampf und ihrem Einfluß auf die Massen. Von diesen Überlegungen ließen sich z.B. die verschiedenen Aktionsprogramme der Komintern leiten.

Als jedoch die Komintern zur Debatte ihres Programms kam, waren die Verfasser der Thesen zur Taktik, dem "Übergangsprogramm" der Komintern, bereits ausgeschlossen worden. Der scholastische Bucharin entwarf als bezahlter Schreiberling des bürokratischen Spießers Stalin das Programm. In der Absicht, die Fehler der Komintern zu bemänteln und die reaktionäre Theorie und Praxis vom "Sozialismus in einem Land" zu rechtfertigen, wurde das Programm auf ein abstraktes, überflüssiges Dokument gestutzt. Die Übergangsmethode ging verloren und mit ihr der notwendige Bezug des Programms auf objektive Bedingungen. Trotzki verteidigte in seiner Kritik an Bucharins Entwurf die alte Position der Komintern und führte sie weiter aus:

"Aber ein Programm der revolutionären Tat darf natürlich keine bloße Sammlung abstrakter Feststellungen sein, die auf alles das, was sich in diesen historischen Jahren ereignet hat, keinen Bezug nimmt. Ein Programm kann natürlich nicht die Ereignisse der Vergangenheit beschreiben, es muß aber von diesen Ereignissen ausgehen und sich auf diese stützen, sie umfassen und sich auf sie beziehen. Ein Programm muß durch seine Stellungnahme ermöglichen, daß man alle wichtigen Tatsachen aus dem Kampfe der Proletariats und aus dem Meinungsstreit innerhalb der Komintern verstehen kann. Wenn das schon in bezug auf das Programm als ganzes richtig ist, so um so mehr in bezug auf jenen Teil desselben, der besonders den Fragen der Strategie und der Taktik gewidmet ist. Hier müßte man nach dem Ausdrucke Lenins neben dem Eroberten auch das Entgangene vermerken, welches auch zum 'Eroberten' werden kann, wenn man es begriffen und sich angeeignet hat. Die proletarisch Avantgarde braucht keinen Katalog der Gemeinplätze, sondern eine Anleitung zur Tat."

Angesichts der Aufgabe zur Schaffung einer neuen Internationalen mußte Trotzki ein Übergangsprogramm ausarbeiten. Die Grundzüge des Programms von 1938 "Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale" verarbeiteten die Lehren der Komintern und ihres Zusammenbruchs. In erster Linie war es ein Programm mit Bezug auf die objektive Lage: scharfe Wirtschaftskrise, Kriegsgefahr, Aufkommen des Faschismus, Bankrott der Komintern.

Ein Aktionsprogramm

Es konzentrierte sich klar auf die Lösung der Führungskrise in der vorrevolutionären Situation, die durch die oben angeführten Faktoren heraufbeschworen wurde. Wer dieses Programm des "Katastrophismus" bezichtigt, sollte die Größe der Katastrophe, den Krieg bald nach der Veröffentlichung des Übergangsprogramms, bedenken. Wie das Kommunistische Manifest von Marx und Engels sah es eine scharfe Krise voraus und versuchte die Arbeiterklasse auf eine revolutionäre Lösung zu lenken. Es war also nicht fatalistisch, sondern vom Geist des revolutionären Optimismus und dem Willen zum Triumph über die entmutigendsten Hindernisse erfüllt.

Das Übergangsprogramm ging von den Erfahrungen der Klassenkämpfe aus den vorausgegangenen zehn Jahren aus. Anders als Bucharin hatte Trotzki in seinem Programm nichts zu verbergen. Die Lehren der deutschen Niederlage, der Volksfront in Frankreich und Spanien, des Niedergangs der russischen Revolution, des anti-imperialistischen Kampfes in China waren alle ins Programm aufgenommen. Seine Losungen ergaben sich aus der positiven wie negativen Erfahrung dieser bedeutsamen Geschehnisse.

Das Programm war international. Der drohende Krieg machte eine internationale Formierung dringlich. Trotzki verließ sich dabei auf die Erfahrung der Sektionen der Bewegung für die IV. Internationale und analysierte die Widersprüche und Zusammenhänge im System des Weltkapitalismus und der UdSSR. Das Übergangsprogramm enthält eine Festschreibung der permanenten Revolution; die Revolution muß sich internationalisieren, oder sie wird geschlagen. In zurückgebliebenen Ländern kann die Aufgabe der demokratischen Revolution nur durch die proletarische Revolution gelöst werden. Diese Gesamtstrategie kann nur erfüllt werden, wenn die Führungskrise bewältigt wird, indem die revolutionären kommunistischen Parteien Massenanhang gewinnen und sie in die permanente Revolution gegen den Imperialismus führen.

V.a. war das Übergangsprogramm wie der berühmte Abschnitt 2 im kommunistischen Manifest, die Thesen zur Taktik der Komintern und Lenins "Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll" ein Aktionsprogramm, das sich auf die Aufgaben der kommenden Periode orientierte. Es war im echten Sinn eine Anleitung zum Handeln. Im "Rückblick auf die Gründungskonferenz" 1938 legte die Vierte Internationale diesen entscheidenden Aspekt des Programms dar:

"Welch einen Kontrast bietet es zu den vagen Verallgemeinerungen und täuschenden Abstraktionen, die die offiziellen Führungen der Arbeiterklasse als Handlungsanleitungen in der gegenwärtigen turbulenten Weltlage zumuten! Es ist nicht so sehr das Basisprogramm der IV. Internationale wie vielmehr das Aktionsprogramm für die kommende Periode, in der wir leben."

Das Wesen der Übergangsforderungen

Das Aktionsprogramm für das Proletariat trug Übergangscharakter. Seine Forderungen waren miteinander verbunden und führten alle zu demselben Ziel, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse. Deswegen sind alle Forderungen für die Bedürfnisse der Massen z.B. gegen Arbeitslosigkeit mit dem Kampf um Arbeiterkontrolle, der Formation von Betriebskomitees, Massenaktionen, Fabrikbesetzungen verknüpft. Diese Kampforgane des Proletariats gipfeln im Herzstück des Programms, dem Ruf nach Sowjets. Die Forderungen nach gleitender Lohn- und Arbeitszeitskala, nach Öffnung der Geschäftsbücher enthüllen die Anarchie des Kapitalismus, kehren den Kern der Planwirtschaft hervor und schaffen die organisierten Kräfte zur Eroberung und Ausübung der Staatsmacht, die für den Übergang zu einem vollen gesellschaftlichen Plan unerläßlich ist.

Nur ein solches Programm vermag den Kampf für eine sozialistische Revolution mit dem Tageskampf des Proletariats zu verquicken. Trotzki hat dies im Programm selber ausgesprochen:

"Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin, den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. Die Lösung dieser strategischen Aufgabe ist aber undenkbar ohne die sorgfältigste Aufmerksamkeit gegenüber alle Fragen der Taktik, selbst den geringfügigen und partiellen.

Alle Teile des Proletariats, alle seine Schichten, Berufe und Gruppen müssen in die revolutionäre Bewegung hineingezogen werden. Was die Besonderheit der gegenwärtigen Epoche ausmacht, ist nicht, daß sie die revolutionäre Partei von der prosaischen Arbeit des Alltags befreit, sondern daß sie erlaubt, diesen Kampf in unauflöslicher Verbindung mit den Aufgaben der Revolution zu führen."

Die Mittel dafür hielt das System der Übergangsforderungen bereit, die bei den aktuellen Bedürfnissen anfangen (was nicht verwechselt werden darf mit der augenblicklichen Mentalität der Arbeiter, wie Trotzki wiederholt den SWP/US-Mitgliedern einschärfte). Seit Trotzkis Tod haben viele geschworene Trotzkisten Forderungen aus dem System der Übergangsforderungen isoliert, entweder als Gewerkschaftsforderungen oder als Teil eines Programms zur Reform von Einrichtungen des Kapitalistenstaates. E. Mandel vom VS hat sie in den 60er Jahren als eine Reihe von "Strukturreformen" aufgestellt. Andere wie die britische Militant-Gruppe handhaben sie als Trick. "Kämpft für diese Forderungen jetzt" rufen sie, "und später werden wir enthüllen, daß sie gegen den Kapitalismus gerichtet sind" flüstern sie sich gegenseitig zu. Beide Sichtweisen führen unvermeidlich zum Opportunismus. Trotzki selber sagte unmißverständlich, daß Übergangsforderungen weder der Reform dienen noch Tricks sind:

"Nicht eine unserer Forderungen wird im Kapitalismus verwirklicht werden. Darum nennen wir sie Übergangsforderungen. Sie schaffen eine Brücke zur Mentalität der Arbeiter und dann eine materielle Brücke zur sozialistischen Revolution. Die ganze Frage ist, wie man die Arbeiter zum Kampf mobilisiert. (...)

Die Revolutionäre sind immer der Meinung, daß die Reformen und Errungenschaften nur ein Nebenprodukt des revolutionären Kampfes sind. Wenn wir sagen, wir fordern nur das, was sie geben können, wird uns die herrschende Klasse nur mit einem Zehntel oder nichts von dem geben, was wir fordern. Wenn wir mehr fordern und unsere Forderungen aufdrängen können, sind die Kapitalisten gezwungen, das Maximum zu geben. Je größer und militanter der Geist der Arbeiter ist, desto mehr wird gefordert und gewonnen. Es sind keine sterilen Losungen; sie sind Druckmittel gegenüber der Bourgeoisie und werden sofort die größtmöglichen materiellen Erfolge erzielen."

Sie sind also ein Mittel zur Erlangung wirklicher Zugeständnisse und zur Mobilisierung der Massen für ihre eigenen Bedürfnisse gegen den Kapitalismus, was leicht zu einem Kampf um die Macht werden kann. Die Anwendung des Übergangsprogramms und seiner Forderungen verändert sich naturgemäß nach den jeweiligen Umständen. Der Schwerpunkt auf speziellen Forderungen bzw. die Neuorientierung des Programms hängen vom Stand des Klassenkampfes, der Wirtschaft und des politischen Lebens ab. Die Methode des Übergangsprogramms bleibt jedoch gültig, egal ob in Zeiten von Boom oder Krise, von Rückzug oder Vormarsch bzw. in zurückgebliebenen oder fortgeschrittenen Ländern. Das Ziel von Revolutionären ist, die Arbeiter über die "Übergangsbrücke" von ihrer augenblicklichen Lage hin zur sozialistischen Revolution zu führen. All diese Merkmale sind im Übergangsprogramm enthalten. Dieses Programm war nicht Trotzkis Erfindung, sondern wie er selber sagte, "die Summe der kollektiven Arbeit bis zum heutigen Tag".

Zusammenbruch der Vierten Internationale während des Krieges

Nach Trotzkis Ermordung 1940, der Liquidierung seiner engsten Mitarbeiter L. Sedow, R. Klement und E. Wolf durch die Stalinisten sowie der Desertierung führender Mitglieder der Internationale Serge, Leonetti, Muste, Zeller, Fischer, Naville, Rous, Shachtman u.a. bestand die zentrale Führung der Vierten Internationale praktisch nicht mehr. Die Trotzkisten vollbrachten vorbildhafte Heldentaten im Krieg, aber als internationale Organisation löste sich die Vierte Internationale auf. Dieser Zusammenbruch, der durch die kriegsbedingte Zersplitterung noch verschärft wurde, könnte als Schicksal für jede revolutionäre Organisation ohne Massenparteien oder staatlichen Rückhalt gelten. Anfangs verfügten die Sektionen über das Übergangsprogramm und die Erklärungen der IV. Internationale zum Krieg und anderen Problemen als Grundlage für ihre Einheit. Doch sie begannen bald, sich mit diesen Positionen und untereinander zu entzweien.

 

 

 

1940-1953:

Die Epigonen zerstören Trotzkis Internationale

Die allgemeine Dezimierung von Kadern vor und während des Krieges, wozu man noch den 40%igen Verlust durch die Abspaltung der Shachtman-Gruppe in der SWP/USA rechnen muß, fand ihre Parallele in einer Reihe von opportunistischen und sektiererischen Abweichungen, die die Kräfte des Trotzkismus politisch schwächten.

In den USA verfälschte die SWP unter Cannon Trotzkis proletarische Militärpolitik angesichts des Kriegseintritts der USA Ende 1941. Die SWP legte das ganze Gewicht auf den taktischen Kompromiß in dieser Politik, das bürgerliche Militarisierungsprogramm mit dem Kampf um Arbeiterkontrolle zu kombinieren, verdunkelte aber Trotzkis strategischen Zusammenhang, das unzweideutige Eintreten für revolutionären Defätismus in der Realität des imperialistischen Krieges. Unter dem Vorwand, die Legalität um jeden Preis wahren zu müssen, zögerte Cannon eine Stellungnahme der SWP zum Kriegsausbruch hinaus, was erst nach oppositionellem Drängen, v.a. durch den spanisch-mexikanischen Genossen G. Munis geschah. Sie wurde erstmals in der Ausgabe vom Januar 1942 des theoretischen Organs der Partei "Fourth International" abgedruckt, aber nicht im Parteiorgan "The Militant" trotz dessen höherer Auflage. Die Verlautbarung bezog allerdings eindeutig Stellung gegen den Krieg und hißte die Fahne des Internationalismus gegen den wahnwitzigen Taumel aufs Schlachtfeld. Aber sie sprach nirgendwo aus, daß amerikanische Marxisten die Niederlage der bürgerlichen amerikanischen Armeen als das kleinere Übel erachten. Sie war eine internationalistische Stellungnahme gegen den Krieg, aber kein leninistisches defätistisches Manifest.

Die Partei ging sogar noch weiter und behauptete mehrfach, der Faschismus und nicht die amerikanischen "demokratischen" Imperialisten sei der Hauptfeind der US-Arbeiterschaft. Das Übergangsprogramm hatte die Leitlinien für die Vierte Internationale in den imperialistischen Ländern festgelegt:

"Der Grundsatz dieses Kampfes lautet: Der Hauptfeind steht in eurem eigenen Land oder Die Niederlage unserer eigenen (imperialistischen) Regierung ist das kleinere Übel".

Das Manifest der Vierten Internationale zum Krieg hatte 1940 festgestellt: "Im Gegensatz zur II. und III. Internationale stützt sich die IV. Internationale nicht auf die militärischen Erfolge der kapitalistischen Staaten, sondern auf die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Krieg der Arbeiter gegen die Kapitalisten, auf den Sturz der herrschenden Klassen aller Länder, auf die sozialistische Weltrevolution."

Trotzki kritisierte seine palästinensischen Gesinnungsgenossen zuvor schon wegen ihrer Abweichung von dieser Linie.

Die SWP wich in der Kriegsglut und aus Furcht vor Verfolgung von den Positionen der Vierten Internationale zurück. In "Sozialismus auf dem Prüfstand" nahm Cannon in einem Massenpamphlet von einer Klarstellung Abstand, daß der Hauptfeind im eigenen Land stand.

"Frage: Ist es wahr, daß die Partei genauso gegen Hitler ist wie gegen die kapitalistischen Machtansprüche der USA? Antwort: Das kann man so nicht beantworten. Wir sehen Hitler und den Hitlerismus als größten Feind der Menschheit an. Wir wollen beides aus der Welt schaffen. Wir unterstützen keine Kriegserklärung durch die USA, weil wir nicht glauben, daß die amerikanischen Kapitalisten Hitler und den Faschismus besiegen können. Wir meinen, daß der Hitlerismus nur durch einen Krieg unter Führung der Arbeiter zerschmettert werden kann."

Diese kurze Passage enthält drei zentristische Abgleitflächen:

a) Hitler und nicht die "60 großbürgerlichen Familien" erscheint als größter Feind der amerikanischen Arbeiter;

b) Cannon schlägt einen Krieg, vermutlich eine Invasion Deutschlands, als Weg, Hitler zu schlagen, vor. Trotzki wiederum sagte der palästinensischen Gruppe, die einen ähnlichen Krieg befürwortete: "Nein, auf diese Weise werden wir den deutschen Arbeitern nicht helfen, sich aus der Betäubung aufzuraffen. Wir müssen ihnen in der Praxis zeigen, daß revolutionäre Politik aus einem gleichzeitigen Kampf gegen die betreffenden imperialistischen Regierungen in allen kriegführenden Ländern besteht. Diese 'Gleichzeitigkeit' darf klarerweise nicht mechanisch aufgefaßt werden. (...) Für Hitler oder Mussolini wäre der Erfolg einer sozialistischen Revolution in irgendeinem entwickelten Land unendlich schrecklicher als die kombinierte Kriegsmacht aller imperialistischen 'Demokratien".

c) Cannon spricht lediglich von der "Führung" der Arbeiter. Dies ist unbestimmt bis zur Bedeutungslosigkeit. Wir sagen, nur wenn die Regierung ein wirkliches Arbeiterregime ist, werden wir das "Vaterland verteidigen". Darüber kann es keinen Zweifel geben. Doch die SWP blieb zweideutig. Sie wandelte die revolutionär defätistische Losung "Macht den imperialistischen Krieg zum Bürgerkrieg" in den ausweichenden demokratischen Slogan "Die wirkliche Lösung ist die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Krieg gegen den Faschismus" ab. Diese Parole wurde sogar vor dem Kriegseintritt der USA ausgegeben.

Die Bedeutung dieser Abgleitfläche spiegelte die Neigung der SWP wider, sich nationalem Druck und Erwägungen zu beugen und zu ihren Gunsten internationalistische Prinzipien umzustoßen. Alle Rechtfertigungen Cannons für seine vorsichtigen Formulierungen, in Wahrheit seine Politik, sind gebettet in die Absicht, das momentane Bewußtsein der "amerikanischen Arbeiter" zu erreichen. Dieses für sich korrekte und lobenswerte Ansinnen war aber nicht an die Erkenntnis gekettet, daß die SWP sich gegen das in der ersten Kriegsphase chauvinistische Bewußtsein stellen mußte und darüber hinaus ihrer Internationalistenpflicht als stärkste Partei der trotzkistischen Bewegung, die unter den relativ besten Bedingungen arbeiten konnte, zu genügen hatte und der Weltarbeiterklasse in klaren revolutionär defätistischen Begriffen die Wahrheit verkünden mußte.

Während die SWP-Mitglieder in der Handelsmarine und den Streitkräften mutige Anstrengungen unternahmen, internationale Kontakte herzustellen, handelte die Partei nicht als internationales Organisationszentrum für die Vierte Internationale. Sie errichtete auch kein solches Zentrum in einem neutralen europäischen Land, um die zersplitterten europäischen Sektionen zu koordinieren. Ein solches Vorhaben, obschon schwierig, war nicht unmöglich. Die Europäer waren 1943 selber imstande, den Kontakt wiederaufzunehmen, als sie internationale Zusammenkünfte in von den Nazis besetzten Ländern abhielten. Ein internationales Zentrum in der Schweiz z.B. hätte diesen Reorganisierungsprozeß erleichtert. Die SWP handelte nicht entschlossen, um der kriegsbedingten organisatorischen Zersplitterung Einhalt zu gebieten, sonst hätten einige ihrer schädlichen Wirkungen geglättet werden können. Die SWP entzog sich weiter ihrer Verantwortung als führende Sektion der Weltbewegung, die sie trotz gesetzlichem Ausschluß von der Mitgliedschaft der Vierten Internationale war, als sie nach dem Krieg die Führung den jungen und unerfahrenen europäischen Genossen Pablo und Germain alias Mandel willig überließ.

Andere Sektionen folgen Cannon: Nationalismus bei den französischen Trotzkisten

In der Kriegsgeschichte der IV. Internationale drifteten neben der SWP auch eine Reihe von anderen Sektionen von einer konsequent revolutionären Linie zum Krieg ab. In Frankreich gab es zu Kriegsbeginn keine offizielle Sektion der Vierten Internationale. Ehemalige Mitglieder der POI, der im Juni 1939 vom internationalen Exekutivausschuß aufgelösten Sektion, formierten sich unter dem Namen "Französische Komitees für die Vierte Internationale" und übernahmen sozialpatriotische Positionen und nationalistische Forderungen angesichts der deutschen Besetzung Frankreichs. Sie betrachteten den nationalen Kampf eines Teils der eigenen imperialistischen Bourgeoisie als fortschrittlich. Diese Zugeständnisse der POI an den kleinbürgerlichen Nationalismus waren besonders bemerkenswert, weil die französische Arbeiterklasse bei Kriegsausbruch noch nicht mit dem chauvinistischen anti-boche-Gift verseucht war, das die PCF später propagierte. Die andere Hauptgruppe war die CCI, die großenteils aus der Vorkriegs-PCI um Molinier/Frank stammte. Diese Formation widerstand zwar der Flut des kleinbürgerlichen Nationalismus und versagte dem Kampf der gaullistischen Fraktion der französischen Bourgeoisie die Gefolgschaft, verfiel aber in abstrakten Propagandismus und sektiererische Haltung gegenüber jenen Kämpfen der französischen Arbeiter und Bauern, die sie in Konfrontation mit den Truppen des deutschen Imperialismus brachten.

In Frankreich wurde 1943 ein vorläufiges europäisches Sekretariat der IV. Internationale unter Pablos Führung eingerichtet. Es organisierte im Februar 1944 eine Konferenz der europäischen Sektionen. Eines der Ziele der Konferenz war die Vereinigung der beiden französischen Hauptgruppen. Die Konferenz kritisierte die nationalistische Abweichung der POI, ließ aber deren fälschliche Behauptung durchgehen, sie sei bei Kriegsausbruch vom Nationalismus der Massen angesteckt worden. Die Konferenz bezichtigte aber auch die CCI der sektiererischen Haltung gegen die Partisanenbewegung und stellte sie auf eine Stufe mit dem nationalistischen Opportunismus der POI. Zentristen wie Mandel behaupten ja heute noch, es wäre ein grundlegender Fehler gewesen, sich nicht voll an dem gaullistisch/stalinistisch geführten Widerstand gegen den deutschen Imperialismus beteiligt zu haben. Kein Versuch wurde jedoch unternommen, die wahren Wurzeln des Sektierertums der CCI aufzudecken. Beseelt von dem Wunsch nach Vereinigung kamen z.B. weder die falschen Perspektiven der CCI noch ihre Fehldiagnose zum Verhältnis von Partei und Klasse zur Sprache. Ihr Bemühen, "Arbeitergruppen" als Keimform von Sowjets zu errichten, entsprach der zentristischen Position von Molinier/Frank 1936/1937, die mit sogenannten revolutionären Aktionsgruppen embryonale Sowjets schaffen wollten (siehe Braun "Die Massenzeitung", in: "Die Krise der französischen Sektion"). Deshalb kam in Frankreich keine umfassende und ehrliche Bilanz der Kriegsperiode zustande.

Die deutsche Sektion IKD schlingerte in menschewistisches Fahrwasser. Als sie der Meinung war, der Sieg der Nazis hätte statt der proletarischen die "demokratische Revolution" wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

In Britannien begingen die beiden trotzkistischen Gruppen ähnliche Irrtümer. Die "Workers' International League" (WIL), die ansonsten gute Arbeit in den Fabriken leistete und auch Streiks leitete, schloß sich letzten Endes der Cannon-Linie an. Vor dem Fall Frankreichs nahm die WIL eine klar defätistische Position ein. Im Dezember 1938 führte sie aus: "Der einzige Weg des Handelns ist, der deutschen Arbeiterklasse zu zeigen, daß wir gegen unsere eigene Bosse kämpfen und sie durch unser Beispiel ermuntern, Hitler zu stürzen."

Unter Vorwegnahme der späteren Fehler der anderen britischen Trotzkistengruppe Revolutionary Socialist League (RSL) reagierte die WIL sektiererisch auf die praktischen Probleme bei Kriegsausbruch. Sie vertrat die Ansicht, daß Forderungen nach geeigneten Luftschutzbunkern für Arbeiter gleichbedeutend sei mit der Unterstützung der Kriegshandlungen. Nach der Kapitulation Frankreichs 1940 änderte sich jedoch ihre Linie. Als der "Feind vor der Tür stand", begann die WIL, dem chauvinistischen Druck zu erliegen. Die Niederlage war nicht länger das kleinere Übel, sondern eine reale Möglichkeit.

Die WIL erklärte im Februar 1941 die "Umwandlung des derzeitigen imperialistischen Krieges in einen wirklichen Kampf der Arbeiter gegen den Nazismus" zur Aufgabe. Die WIL verband dies ausdrücklicher als die SWP mit einer Kampfansage an die britischen Kapitalisten. Trotzdem war ihre Losung keine konsequent revolutionär defätistische. Die kleinere offizielle Sektion der Vierten Internationale RSL versteifte sich auf eine strenger defätistische Haltung. Wie die CCI offenbarte sie definitiv sektiererische Abgleitflächen, insbesondere im taktischen Anwendungsbereich.

Es wäre falsch, Sektierertum und Opportunismus während eines imperialistischen Krieges als gleich einzustufen. Lenin war im Ersten Weltkrieg bereit, mit den Sektierern einen Block zu bilden, ohne dabei ihre Politik zu unterstützen, in der Absicht, die konsequentesten Kräfte um das Banner des Internationalismus zu scharen. Wir glauben, daß die Vierte Internationale schlecht beraten war, bei ihren Nachkriegsfusionen in Britannien und Frankreich beide Fehler als gleichrangig zu verurteilen. Der Opportunismus der POI, der SWP und der WIL spiegelte den Druck des Sozialchauvinismus wider. Wo der sektiererische Trend nicht in passives Fernbleiben von den Kämpfen umschlug (was in Frankreich eindeutig nicht geschah), mußte er klar den Vorzug erhalten. Bezeichnend war auch, daß weder die Vierte Internationale noch die SWP eine ehrliche Bilanz vorlegten, wie die Fehler der SWP während des Krieges verantwortet und korrigiert wurden.

Wiederaufbau der Vierten

1944 formierten sich mehrere europäische Sektionen aufs Neue bei einer Konferenz auf von den Nazis besetztem Territorium. Sie verabschiedeten die "Thesen zur Liquidierung des Zweiten Weltkrieges und zum revolutionären Aufschwung". Diese Thesen bezeugten das revolutionäre Potential der Sektionen der Vierten Internationale. Sie sprachen sich für eine defätistische Position im Krieg aus, als sich der antideutsche Chauvinismus und die Sympathie für die Alliierten in Europa rasch ausbreiteten. Die Thesen zeigten, daß der Wiederaufbau der Vierten Internationale auf revolutionärer Grundlage im Bereich des Möglichen lag. Eine gravierende Desorientierung über die entscheidende Frage der Perspektive verhinderte indes ihre Realisierung.

Die Nachkriegszeit verlief anders, als sie Trotzki vorausgesagt hatte. Zur Entstehungszeit des Übergangsprogramms waren die Kernelemente seiner Perspektive für die kommende Periode: a) eine massive revolutionäre Welle, besonders in Deutschland, Italien, Frankreich, Britannien und den USA; b) die qualitative Verwandlung der Vierten Internationale in eine Massenkraft, die imstande ist, das Übergangsprogramm für den Bezug auf und die Durchsetzung als Führerin im revolutionären Aufschwung zu nutzen; c) der Todeskampf des Kapitalismus bzw. sein Überleben nur auf totalitärer Basis; d) die Zerstörung der stalinistischen Bürokratie in der UdSSR entweder durch die politische Revolution oder den siegreichen Imperialismus; e) die Auflösung der alten Arbeiterführungen, der Sozialdemokraten und Stalinisten, da ihre materiellen Grundlagen verschwinden, Krümel vom Tisch des Imperialismus und bürokratische Privilegien in der UdSSR.

Das Übergangsprogramm war keine Ansammlung von zeitlosen marxistischen Weisheiten, sondern ein "Handbuch der Aktion". Es war notwendig, seine Forderungen, Taktiken und Perspektiven ständig anhand der Wirklichkeit zu überprüfen und das Programm entsprechend weiterzuentwickeln. Trotzkis Nachfolger haben das nach dem Krieg wiederholt unterlassen. Nach Trotzkis Perspektive würde der Zweite Weltkrieg ähnlich große oder noch größere revolutionäre Aufschwünge hervorbringen als die Periode nach dem Ersten Weltkrieg. Die kapitalistische Ökonomie, die bürgerliche Gesellschaft und ihre reformistischen Schmarotzer würden in eine Todeskrise gestürzt. Die stalinistische Bürokratie würde, wenn sie einem militärischen Menetekel durch die Imperialisten entgehen könnte, der politisch proletarischen Revolution unterliegen, die von den revolutionären Geschehnissen im Westen angefacht werden würden. An Trotzkis hergeholtem Zeitplan der historischen Erschöpfung des US-Monopolkapitalismus kann sicher Kritik geübt werden. Doch auch Marx, Engels und Lenin sind solchen Irrtümern aufgesessen, die unabweisbar einem revolutionären Optimismus geschuldet waren.

Trotzki blickte auf dem Dritten Weltkongreß der Komintern folgendermaßen auf einen früheren perspektivischen Fehler zurück:

"Wir hatten keine Sonnenfinsternis vorausgesagt, d.h. ein Ereignis, das von unserem Willen und unseren Handlungen zur Gänze unabhängig ist. Es dreht sich um ein geschichtliches Ereignis, das mit unserer Teilnahme geschehen kann und wird. Wenn wir von der Revolution als Ergebnis des Weltkrieges sprechen, heißt das, daß wir danach strebten und streben, die Folgen des Weltkrieges zu nutzen, um die Revolution in jeder Hinsicht zu beschleunigen."

Trotzkis Perspektiven erweisen sich als falsch

Trotzkis Perspektiven erwiesen sich nach dem Krieg als falsch. Dazu trugen mächtige objektive Faktoren bei. Britannien und Frankreich, zwei von drei "demokratischen Imperialismen" zeigten sich so morsch und instabil, wie Trotzki das gesehen hatte. Das galt jedoch beileibe nicht für die USA. Das kolossale Ausmaß und die Dynamik ihrer Produktivkräfte versetzten sie in die Lage, das absterbende britische Empire zu erhalten und den französischen Imperialismus vor dem Grab zu retten, beide als abhängige und untergeordnete Kreaturen, die außerstande waren, ihren Herren aus der Wall Street gefährlich zu werden.

Im russischen Arbeiterstaat behauptete sich die Planwirtschaft trotz Sabotage und Pfusch von Seiten der stalinistischen Bürokratie. Obwohl Stalin und seine Clique den Arbeiterstaat 1941 an den Rand des Abgrunds gebracht hatten, bescherte der heldenhafte Widerstand der Arbeiterklasse und die Hilfeleistung der Bauernschaft wie der Nationalitäten trotz Stalins Verbrechen und wegen der faschistischen Greuel der UdSSR den Sieg. Dieser Sieg stärkte allerdings nicht nur den Staat, sondern auch die bonapartistische Bürokratie. Das Vorrücken der US-amerikanischen und sowjetischen Armeen auf dem europäischen Festland plazierte mitten unter die französische, italienische und deutsche Arbeiterklasse Besatzerheere, die der Ausbreitung der proletarischen Revolution einen Riegel vorschoben. Der Triumph des Stalinismus und des anglo-amerikanischen demokratischen Imperialismus begünstigte die politischen Kräfte, die diesen Lagern zuzurechnen waren.

Zum einen wurden die offen bürgerlichen Parteien sowie die Sozialdemokratie dank des Sieges der "Demokratien" wiederbelebt. Andererseits erhielten die stalinistischen Parteien durch das Gewicht des sowjetischen Triumphes und die eigenen Partisanenkämpfe ebenfalls Auftrieb. Diese Kräfte hatten weder ihre materielle Grundlage eingebüßt noch ihr politisches Ende oder organisatorische Auflösung zu beklagen, sondern gingen aus dem Krieg sogar noch gekräftigt hervor. Die Politik der Klassenkollaboration, die über die Volksfront vor dem Krieg mit dem Ansehen der II. und III. Internationale etabliert wurde, brach erst 1946/1947 wieder auf, als die Nachkriegskrise überwunden war. Das ganze Gewicht der bürgerlichen Demokratie und des Stalinismus wurde gegen die proletarische Revolution in die Waagschale geworfen.

Sobald die unmittelbaren potentiell revolutionären Situationen vorbei waren, trug die enorme Wirtschaftskraft der USA im Westen mittels des Marshall-Hilfsplans Früchte, während die Kreml- Bürokratie ihren osteuropäischen Gürtel abschloß und zur Umwandlung dieser Länder in degenerierte Arbeiterstaaten überging, indem sie zuvor das Proletariat politisch enteignet hatte. In Deutschland war die Klassenerhebung schwach und wurde sofort von Westalliierten und Sowjettruppen militärisch unterdrückt. In Italien und Frankreich demobilisierten die Stalinisten die Partisanenmilizen. Konstellationen aus sowjetischem Militär, einheimischen Stalinisten und deren Volksfrontverbündeten konnten in Mittel- und Osteuropa jede revolutionäre Regung im Keim ersticken.

Die Trotzkisten waren schwach und desorganisiert, aber sie fanden auch schlechte objektive Bedingungen vor, um dem Stadium von propagandistischen Randgruppen zu entwachsen. Statt dessen blühten die konterrevolutionären sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien auf und isolierten die Trotzkisten wieder. Sozialdemokratie und Stalinismus übten gewaltigen Druck auf die winzigen und desorientierten Kräfte der IV. Internationale aus.

Die Notwendigkeit einer neuen Perspektive

Es war legitim, eine neue politische und gesellschaftliche Krise im Kapitalismus zu erwarten. Aber 1946/1947 war auf jeden Fall eine neue Einschätzung der Perspektiven und eine Bilanz der Fehlschläge der alten Erwartungen vonnöten. Wäre dies damals geschehen, hätte es wahrscheinlich keine solch einseitige falsche Perspektive einer katastrophalen Krise, eines baldigen neuen Krieges und der verzögerten Revolution gegeben. Die Transformation des marxistischen Verständnisses von Krise, Krieg und Revolution als Ereignisse zu langgezogenen Prozessen war das Resultat eines kurzsichtigen Empirismus, der die "revolutionäre Perspektive" um jeden Preis verlängern wollte.

Die isolierten und geschlagenen Führer der IV. Internationale wollten nicht wahrhaben, daß nach einer mißratenen revolutionären Periode 1944/1945 nun eine konterrevolutionäre anbrach, allerdings in Form einer demokratischen Konterrevolution in den imperialistischen Hauptländern statt bonapartistischer oder faschistischer Reaktion. Die Mehrheit der alten Führer schloß davor einfach die Augen und hielt an der "Orthodoxie" fest. Die neue europäische und dann internationale Führung um M. Pablo und E. Germain wiederum begann Trotzkis Taktiken, Strategie und Programm unter dem Deckmantel der scheinbaren Treue zu seinen revolutionären Perspektiven stückweise und empirisch zu verändern. Um den Schein zu wahren, wurde die "Revolution" zu einem objektiven Prozeß mit Weltgeltung erklärt, der sich hier die stalinistische Bürokratie, dort die titoistischen Partisanen und anderswo die bevanistischen Labour-Parlamentarier zu seinen ausführenden Organen erkor. Es war nur eine Frage der Zeit, wann diese schrittweise Revision systematisiert wurde. Pablo unternahm den ersten Versuch 1950/1951.

Die IV. Internationale optiert für Dogmatismus

Die Nachkriegsperspektive der IV. Internationale beruhte auf einer Mischung aus Dogmatismus und blindem Optimismus. Dieser Dogmatismus erzeugte eine Reihe von Fehlern, deren Bandbreite vom Sektierertum zum Opportunismus reichte. Mit der Zeit teilten die politischen Erschütterungen die IV. Internationale in zwei Fraktionen, die beide gleichermaßen mit diesen Fehlern behaftet waren. Trotz der Anzeichen des Wirtschaftsaufschwungs in den USA beharrte Cannon auf der Einschätzung, die amerikanische Revolution stünde bevor. Die Perspektive des Dritten Weltkrieges verhieß ferner, daß die Welt am Rande einer dauerhaft vorrevolutionären Situation dahintaumelte. Die Dokumente des internationalen Kongresses von 1946 decken diese Tendenz innerhalb der IV. Internationale klar auf. So wurde in "Der neue imperialistische Frieden und der Aufbau der Parteien der IV. Internationale" argumentiert: "Der Krieg hat die Desorganisation der kapitalistischen Ökonomie verschlimmert und die letzten Möglichkeiten eines relativ stabilen Gleichgewichts der gesellschaftlichen und internationalen Verhältnisse zerstört." Weiter heißt es: "Wenn der Krieg in Europa noch keinen revolutionären Aufschwung in dem Ausmaß und Tempo gebracht hat wie von uns angenommen, so ist es nichtsdestotrotz unleugbar, daß er das kapitalistische Gleichgewicht auf Weltebene zerstört hat und damit den Weg freigibt für eine lange revolutionäre Periode." Diese "lange revolutionäre Periode" wurde immer länger und damit auch letzten Endes immer bedeutungsloser.

Das Potential zur Korrektur dieser Fehler in Bezug auf die Perspektive und den Wiederaufbau der IV. Internationale auf revolutionärer Grundlage war innerhalb des trotzkistischen Lagers vorhanden. Das starre Festklammern an Trotzkis Perspektive blieb nicht unhinterfragt. Eine Opposition in der SWP unter F. Morrow formulierte es so: "Trotzki versuchte uns das Verständnis beizubringen, daß Prognosen notwendig sind, aber genauso notwendig, zu verstehen, daß es unmöglich ist, das Tempo für eine längere Periode vorauszusagen, und deshalb müssen notwendige Korrekturen im Licht der Erfahrung eingebracht werden."

Ähnlich argumentierte die britische RCP, das Produkt der Vereinigung von RSL und WIL1944, gegen das Dokument "Der neue imperialistische Frieden" mit der Feststellung, daß sich der Stalinismus gestärkt hatte und nicht in einer Todeskrise steckte, und machte darauf aufmerksam, daß diese Fehleinschätzung die Gefahr der Desorientierung birgt. Die SWP behauptete 1946, daß der Krieg noch im Gange sei. Die IV. Internationale zauderte, ehe sie zum Rückzug der Sowjettruppen von den besetzten Gebieten aufrief. Anfangs wies sie einen britischen Änderungsantrag ab, korrigierte aber später ihre Position. Die französische Sektion hielt dafür, daß die UdSSR sich 1946 in größerer Gefahr befand als in den schlimmsten Kriegstagen. Noch verwunderlicher war das Statement des trotzkistischen "Neuer Spartakus": "Warum stiehlt Stalin? Weil er den Krieg verloren hat". Zur angeblichen Aktualität der ökonomische Krise des Imperialismus äußerte sich die RCP wie folgt: "Aber in einer Resolution, die unsere Kader auf die unmittelbaren ökonomischen Perspektiven zu orientieren versucht, von denen die nächste Etappe des Klassenkampfes und damit unsere direkte Propaganda und Taktik weitgehend abhängt, ist die Perspektive klar falsch. (...) Zum zweiten Mal innerhalb einer Generation ist es dem Kapitalismus gelungen, wieder Atem zu holen. Die Theorie des spontanen Zusammenbruchs des Kapitalismus ist dem Bolschewismus völlig fremd."

Die SWP- und RCP-Oppositionen übten korrekte Kritik an der Linie der IV. Internationale. Aber keine von beiden reifte zur wirklichen Linksopposition. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum spätere Fehler ungehindert passieren konnten. Die Morrow-Opposition zog den Schluß, daß für Europa ein demokratisches anstelle des Übergangsprogramms erforderlich sei. Ferner verstieg sie sich, getrieben von ihrer Feindseligkeit gegen die konterrevolutionäre stalinistische Besetzung Osteuropas, zu neuen Klassentheorien und zur völligen Preisgabe der Position zur Verteidigung der Sowjetunion. Die SWP-Führung beharrte darauf, daß mit dem Einmarsch der Sowjettruppen der Auftakt zu einer klassischen Doppelherrschaftssituation erfolgt sei; dies tat aber Morrows neuen Klassentendenzen keinen Abbruch. Dieser Oppositionskreis driftete schließlich aus der SWP hinaus und in die abtrünnige Shachtman-Gruppe hinein.

Die Zerstörung der britischen Sektion

Das Schicksal der RCP war anders. Durch ihre Kritik an der Perspektive der IV. Internationale und ihre Weigerung, den vom internationalen Sekretariat favorisierten "tiefen Entrismus" in der Labour Party mitzumachen, zog sich die RCP die Feindschaft Pablos und Germains zu. Cannon und die SWP hegten seit der Fusionsverhandlung vor dem Krieg ihren eigenen Groll gegen die Haston/Grant-Leitung der RCP. Gegen diese Leitung bauten SWP und IS eine Fraktion unter Führung von G. Healy und J. Lawrence auf, die sich 1947 abspaltete, um die Perspektive des tiefen Entrismus zu verwirklichen. Das ruinierte die RCP, schwächte und demoralisierte die alte Leitung und stärkte die Healy-Gruppe. Mit Cannons und Pablos Segen wurden beide Flügel 1949 wiedervereint; die alte Minderheit bildete nun aber die Mehrheit in den Führungsgremien. Mit großem Eifer, der bald sein Markenzeichen werden sollte, ging Healy daran, seine ehemaligen Gegner aus der Partei auszustoßen und die RCP, die nun "der Klub" hieß, in eine Sektion, die Pablo und Cannon ergeben war, zu verwandeln.

Die Kritik der Periode von 1946-1948 verschwand aus der IV. Internationale zu einer Zeit, als Anfang der 50er Jahre eine neue perspektivische Krise ausbrach. 1951 gab es keine Kraft mehr, die sich für eine Korrektur der früheren Fehler als Grundgerüst zur Vermeidung neuer Fehler aussprach.

Unter Pablos Führung und mit Billigung von Cannon und der SWP systematisierte der 2. Weltkongreß der IV. Internationale 1948 ihre fehlerhaften Perspektiven und versuchte den Eindruck zu erwecken, der kommende Krieg könnte zum "internationalen Bürgerkrieg" werden. Diese Perspektive schloß als Möglichkeit "andere wichtige Faktoren in der politischen Entwicklung anderer Länder" nicht aus, was Pablo später zur dominierenden Perspektive der IV. Internationale umgestaltete. Er benutzte die falschen Positionen der IV. Internationale als Argument für die unvermeidliche Gefahr des Krieges zwischen Imperialismus und Sowjetunion. Das Perspektivdokument von 1948, das zur Rechtfertigung einer Wende zum Aufbau von Massenparteien der IV. Internationale herhalten sollte, machte Pablo zu seinem Werkzeug, als er die Perspektive von der Auflösung trotzkistischer Fraktionen in sozialdemokratische oder stalinistische Parteien verbreitete. Dieser Mißbrauch der alten Perspektive nährte sich aus denselben falschen Wurzeln. Der Optimismus in Bezug auf eine wahrscheinlich spontane Verwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg enthielt einen methodischen Kardinalirrtum der Nachkriegsinternationale. Trotzkis Perspektiven und Prognosen wurden in eine kurzfristige Prophezeiung uminterpretiert. Der Zusammenbruch des Kapitalismus und der Ausbruch einer revolutionären Flut wurden als unabwendbare Resultate eines fortschreitenden objektiven Prozesses dargestellt, auf den sich Trotzkisten einstellen sollten.

Kapitalistische Krisen und Aufschwünge von Arbeiterkämpfen entstehen zwar aus den objektiven Widersprüchen des Kapitalismus, aber es gibt keinen "objektiven Prozeß" zur Lösung solcher Krisen. Ohne den Triumph des subjektiven Faktors, der revolutionären Partei, können die Siege der Arbeiterklasse nicht von Dauer sein.

Die IV. Internationale führte die Arbeiterklasse 1948 in keinem einzigen Land. Die revolutionären oder vorrevolutionären Krisen der unmittelbaren Nachkriegszeit waren eindeutig vorbei. Doch die IV. Internationale hielt an ihren Perspektiven fest. Auf ihrem Kongreß 1948 beschrieben die Thesen zum Stalinismus die Ereignisse in Osteuropa und Jugoslawien nicht als Teil eines revolutionären Prozesses. Diese Bewahrung alter Perspektiven beließ der IV. Internationale ihren orthodoxen politischen Standpunkt. In diesem Sinne können wir auch zu den programmatischen Erklärungen des Kongresses von 1948 wie zu denen des Gründungskongresses 1938 stehen. In dem Maße aber, in dem sich die Weltsicht der Führung von der Realität entfernte, wurde auch ihre Orthodoxie immer brüchiger. Ein scharfer Umschwung in den Weltereignissen genügte, um die orthodoxen Positionen der IV. Internationale, die sie bis 1948 vertrat, aus der Bahn zu werfen.

Der Bruch zwischen Tito und Stalin

Dieser Umschwung trat fast direkt nach dem Kongreß von 1948 ein. Im Sommer 1948 wurde der Bruch zwischen Tito und Stalin bekannt. Die jugoslawische KP wurde aus der Kominform, der verkümmerten Nachfolgeorganisation der Komintern, ausgeschlossen und wahlweise als "trotzkistisch" oder "faschistisch" verleumdet. Die IV. Internationale zog aus den jugoslawischen Ereignissen zentristische Schlüsse. Sie sah in ihnen nur eine Bestätigung ihrer falschen Perspektiven. So wies Jugoslawien angeblich die seit 1944 vorausgesagte Krise des Stalinismus nach. Der gesamte Prozeß war außerdem Teil eines erfolgreichen revolutionären Aufschwungs, der stets Kernelement der Perspektiven der Führung gewesen sei. Der Partisanenkrieg wurde im nachhinein zunächst von Pablo und 1951 dann von allen Führern der IV. Internationale zur "proletarischen Revolution" geweiht. In dieser "Revolution" wurde ein Arbeiterstaat errichtet, der nur quantitativ Deformationen aufwies und auch nicht qualitativ als degenerierter Arbeiterstaat charakterisiert wurde. Titos parasitäre Bürokratie war kein konterrevolutionärer Faktor, sondern ein "leninistischer" Freund, der den Rat der IV. Internationale braucht statt der revolutionären Opposition. In einem offenen Brief, in dem um Beobachterrechte beim Kongreß der jugoslawischen KP im Juli 1948 nachgesucht wird, erklärt das internationale Sekretariat: "Wir verstehen genau die große Verantwortung, die auf euch lastet, und (...) wir betrachten es als unsere kommunistische Pflicht, euch bei der Lösung der gegenwärtigen Krise im Kommunismus entlang proletarischer und leninistischer Leitlinien beizustehen."

M. Pablo, der damalige Führer der IV. Internationale, nutzte die jugoslawische Affäre zum Angriff auf eine Reihe von Kernpositionen der trotzkistischen Bewegung: Stalinismus, revolutionäre Partei und Entrismustaktik; durch die Verfälschung dieser Taktik untergrub er die kommunistischen Prämissen der Einheitsfronttaktik. Außerdem meinte er, daß die seiner Ansicht nach wahrhaft revolutionären Vorfälle in Jugoslawien auch in der übrigen osteuropäischen "Pufferzone", ja sogar in China stattfinden würden.

Pablos Position zu Jugoslawien setzte sich auf dem 3. Weltkongreß der IV. Internationale 1951 durch. Sie wurde von allen wichtigen Sektionen und Führungspersönlichkeiten unterschrieben. Keine revolutionäre Opposition erhob sich gegen Pablos zentristische Auffassung, wonach "in Jugoslawien, dem ersten Land, wo das Proletariat seit der Degeneration der UdSSR die Macht eroberte, der Stalinismus praktisch kein Faktor mehr in der Arbeiterbewegung ist, dessen Rückkunft dennoch unter gewissen Umständen nicht ausgeschlossen ist."

Charakteristisch für Pablos Position war seine Revision des trotzkistischen Stalinismusverständnisses als unverrückbar konterrevolutionär. Das heißt nicht, daß der Stalinismus niemals fortschrittliche Maßnahmen sogar bis hin zur Umwälzung der Eigentumsverhältnisse ergreifen könnte. Aber er wird immer und unter allen Umständen die Arbeiterklasse an der politischen Machtübernahme und deren Nutzung im eigenen Klasseninteresse hindern. Pablo hingegen schrieb in seinem Bericht für den Kongreß 1951: "Wir haben klargemacht, daß die KPen keine reinen reformistischen Parteien sind und unter bestimmten besonderen Bedingungen die Möglichkeit besitzen, eine revolutionäre Richtung einzuschlagen." Pablo verband diese Revision mit einer Attacke auf Lenins Imperialismustheorie als Epoche von Kriegen und Revolutionen. Er ersetzte sie durch eine Formel, die als unmittelbare Perspektive und Merkmalbeschreibung der Epoche grotesk war: "An ihre Stelle tritt der Begriff Revolutions-Krieg, Kriegs-Revolution, von dem Perspektiven und Orientierungen der Marxisten unserer Epoche ausgehen müssen."

Pablo entwaffnet die IV. Internationale

Unter dem Vorwand der theoretischen "Wiederbewaffnung", in Wahrheit aber Revision, steuerte Pablo einen taktischen Kurs zur vollständigen Liquidierung des trotzkistischen Programms. Diese Liquidation war die logische Folge der organisatorischen und politischen Zugeständnisse an den Reformismus, die Pablo mit seiner Politik des "Entrismus sui generis" (besonderer Art) vornahm, die auf langfristigem Entrismus und Verheimlichung des revolutionären Programms fußte. Für Pablo ließ die bevorstehende Kriegsrevolution keine Zeit zum Aufbau trotzkistischer Parteien, aber das war kein Kernproblem mehr, weil in der kommenden Periode verschiedene politischen Formationen in den Kampf um die Macht eingreifen konnten. Die Stalinisten könnten als Parteien gezwungen sein, eine revolutionäre Orientierung anzugehen. Der Entrismus war nötig, um den erforderlichen Druck zu erzeugen. In anderen, sozialdemokratischen oder kleinbürgerlich nationalistischen Gruppierungen zielte die Perspektive auf zentristische Abspaltungen aus diesen Parteien. Hier sollte der Entrismus dazu dienen, eine solche Spaltung vorzubereiten und voranzutreiben. In beiden Fällen war das nicht der Entrismus, den Trotzki zur Zeit der "französischen Wende" befürwortete. Trotzki sah den Entrismus als spezifische Einheitsfronttaktik, um sich nach links bewegende Arbeiter für das kommunistische Programm zu gewinnen, und nicht als dauerhaftes Unternehmen. Der Entrismus "besonderer Art" war tief und langfristig angelegt, wobei das offene Eintreten für das revolutionäre Programm "vorübergehend" zu unterbleiben hatte.

Dieser durchgreifende Opportunismus trieb die IV. Internationale in einen abrupten zentristischen Rechtsschwenk. Pablo kennzeichnete die peronistische Bewegung in Argentinien als "antikapitalistisch". Die chinesische KP wurde bald nach der jugoslawischen zum revolutionären Faktor. In Britannien mutierte der Linksreformist A. Bevan zum "Linkszentristen". 1952 wies Pablo die französische Sektion an, einen tiefen Entrismus in die PCF zu unternehmen und sich der Arbeiterbewegung so anzupassen "wie sie war". Solche Kompromisse zogen unweigerlich nach sich, daß man jedes Auftreten für prinzipienfeste Politik gegen die Führungen der Parteien oder Bewegungen, in die die Trotzkisten eintraten, unterließ.

1953 stürzte das von Pablo geführte internationale Sekretariat (IS) die Internationale in die programmatische Liquidation. Der "Entrismus sui generis", der "revolutionäre" Charakter des Stalinismus, die Epoche der "Kriegsrevolution" sowie die untergeordnete Rolle der Partei waren sämtlich Pablos Beiträge zum Absturz der IV. Internationale in den Zentrismus.

Das Internationale Komitee spaltet sich ab

Die Hauptkräfte, die 1953 den Bruch mit dem Pablo-IS organisierten, die SWP/USA, PCI/Frankreich und die Healy-Gruppe in Britannien, waren keine revolutionäre "Linksopposition". Das internationale Komitee (IK) verkörperte keine Kontinuität des Trotzkismus gegen den pabloistischen Revisionismus. Es brach nicht entschieden mit den liquidatorischen Positionen des Kongresses von 1951, die Pablos taktischen Schwenks den Weg ebneten. Sie übten keine Kritik, geschweige denn Selbstkritik, am Wiederaufbau der IV. Internationale nach dem Krieg, an der Aushöhlung von Trotzkis Programm und der damit verbundenen Methode.

Das IK barg den nationalen Isolationismus seiner drei größten Bestandteile in sich, jeder von ihnen stellte sich Pablos Drang zur bürokratischen Zentralisierung der Perspektiven des Kongresses von 1951 erst dann entgegen, als die eigene Sektion davon betroffen war. Im IK selber wurde der demokratische Zentralismus ultimativ abgelehnt. Im übrigen verließen sie nie den Rahmen einer öffentlichen Fraktion und weigerten sich, einen unnachgiebigen Kampf gegen Pablo und Mandel aufzunehmen.

Die Spaltung kam 1953 zugleich zu spät und zu früh. Politisch traf sie verspätet ein, weil alle IK-Gruppen bereits mehrfach die Liquidierung der Linie in der Periode von 1948-1951 abgesegnet hatten. Er war jedoch in dem Sinne verfrüht, daß der Bruch erfolgte, ehe überhaupt ein Versuch stattfand, die Mehrheit der IV. Internationale auf dem nächsten Kongreß zu gewinnen. Der Entschluß zur alsbaldigen Abspaltung wich diesem Problem vielmehr von vornherein aus. Die IK-Gruppierungen verfügten über keine klare und durchgängige politische Alternative zu Pablo und Mandel und verharrten daher in einer Lage, wo der fraktionelle Funkenflug Ersatz für die politische Erleuchtung war.

Trotz der Billigung des Revisionismus 1948/1951 übte das IK gelegentlich isolierte, doch korrekte Kritik am IS. Aber solche Kritiken, die aus fraktioneller Profilierungssucht und heftiger Reaktion auf die Verrätereien des IS herrührten, sprengten nur selten den Rahmen einer sterilen Verteidigung dessen, was sie unter "Orthodoxie" verstanden. In Wahrheit war das ein revisionistisches Gemisch aus Katastrophismus, Stalinophobie und weicher Flanke gegen die Sozialdemokratie, an dessen Rezeptur sich Cannon, Bleibtreu-Favre sowie später Lambert und Healy schon lange erprobt hatten. Eine Prüfung der Geschichte jeder dieser Gruppen vor und während der Spaltung belegt dies schlüssig.

Die SWP stimmte mit Pablo bis 1953 politisch überein. Zu Jugoslawien gab sie Pablos Orientierung auf Tito volle Rückendeckung, ebenso für die Kongreßresolution 1951. Schon 1948 hatte die SWP in einer Erklärung ihrer nationalen Leitung darauf bestanden, Tito sei "durch die Logik des Kampfes gezwungen" und sei nicht länger Stalinist. Als die PCI Cannons Beistand gegen Pablos Politik und bürokratische Manöver erbat, erwiderte dieser ohne Zögern: "Ich glaube, daß der 3. Weltkongreß eine korrekte Analyse der neuen Nachkriegswirklichkeit und ihrer unvorhersehbaren Wendungen vorgelegt hat. Es ist die einhellige Meinung der Führer, daß die Verfasser dieser Dokumente der Bewegung einen großen Dienst erwiesen haben, wofür ihnen Anerkennung und die Unterstützung der Genossen und nicht Mißtrauen und Verunglimpfung gebührt."

Es waren dieselben Leute, die im "offenen Brief" vom November 1953, dem eigentlichen Spaltungsdokument, erklärten, daß diese Führung "eine unkontrollierte, heimliche, persönliche Fraktion in der Verwaltung der IV. Internationale, die den Boden des trotzkistischen Programms verlassen hat" sei.

Doch das SWP-Dokument "Gegen den pabloistischen Revisionismus" billigte alle Grundsätze von Pablos Positionen. Der 2. Weltkrieg erzeugte eine revolutionäre Welle von "größerem Ausmaß, Intensität und Widerstand als der Erste Weltkrieg", wird uns da erzählt. Dies hat "die revolutionären Siege in Jugoslawien und China" hervorgebracht.

Die grundlegende Position gegen den Stalinismus im "offenen Brief" war mit dem Zentrismus der SWP vereinbar. Ihre Opposition zum stalinistischen Verrat am französischen Generalstreik, ihre Haltung zum Abzug der Sowjettruppen aus der DDR nach dem dortigen Arbeiteraufstand von 1953 und ihre Weigerung, die Liberalisierung in der UdSSR nach Stalins Tod für bare Münze zu nehmen, waren für sich genommen prinzipientreu. Eine revolutionäre Opposition hätte diese Positionen geteilt.

Aber eine solche Opposition hätte anders als SWP und IK nicht behauptet, das Abrücken von diesen Positionen gehe allein auf die Kappe eines Mannes, von Pablo, wie der offene Brief suggeriert. Im Gegenteil, Revolutionäre hätten diese Fehler aus früheren Fehlern hergeleitet. Nicht so die SWP 1953. Diese Punkte waren, wie die späteren Avancen der SWP an das IS zeigen, nur ein Vorwand für die Spaltung.

Der wahre Grund für die Abspaltung der SWP

Der wirkliche Grund war organisatorischer Art. Die SWP kehrte sich gegen Pablo nur wegen seiner "Einmischung" in die SWP über die Cochran-Clarke Fraktion. Getreu ihrer national-isolationistischen Tradition, die sich bereits während des Krieges offenbart hatte, wollten die SWP-Führer nicht als "Ortsverwaltung" der Vierten Internationale behandelt werden. Sie weigerten sich, eine taktische Mehrheitsentscheidung des internationalen Exekutivausschusses auszuführen. Der Bruch kam, als Pablo die Cochran-Clarke Fraktion lancierte. Die SWP-Führer entdeckten eine Reihe von Differenzen und riefen unverzüglich die Spaltung aus. Zuvor hatte Cannon noch geglaubt, daß seine vorausgegangene Loyalitätserklärung für Pablo die SWP davor bewahren würde, unter die Disziplin des IS gestellt zu werden. Die Disziplinierung der PCI in Frankreich hatte er für rechtens befunden. Im Mai 1953 sagte er: "Aber was wäre, wenn Pablo und das IS die SWP-Minderheit unterstützen. Ich sage wenn und unterstelle nicht, daß es so sein wird, ich nehme nur an, daß sich die schier unglaubliche Dreistigkeit der Cochran-Leute auf Gerüchte gründet, sie werden Unterstützung vom IS erhalten. Wenn das zutreffen sollte, würde uns das nicht verpflichten, unsere Meinung in irgendeiner Hinsicht zu ändern. Nein, das würden wir nicht tun."

Wenige Monate später hielt Cannon Wort. Aber auch dann geißelte er nicht die methodischen und programmatischen Fehler des IS und der Cochran-Clarke Fraktion. Nach echter IK-Manier kritisierte er sie und ihren Niedergang von einem rein soziologischen Standpunkt. Die Clarke-Gruppe war kleinbürgerlich - stimmt. Die Cochran-Gruppe waren ausgebrannte Arbeiter auf dem Rückzug - stimmt. Beide hegten die Absicht, die Partei zu liquidieren - stimmt. All diese Faktoren waren nicht unwichtig, und Cannon hatte recht, darauf hinzuweisen. Aber er hatte unrecht mit der Schlußfolgerung, diese Faktoren seien der Schlüssel zum Problem und zum Wesen des "Pabloismus". Denn als klar war, daß Pablo die IV. Internationale nicht liquidiert, sprich: organisatorisch aufgelöst hatte, war der Weg zurück zu dem von Pablo geführten IS wieder frei. Das Wesen von Pablos Politik war zunächst in seinen programmatischen Prämissen, dann in seinen taktischen Konsequenzen und schließlich in seinen organisatorischen Methoden zu suchen. Bei der SWP rührte der Bruch aus nationalen Erwägungen her und kreiste größtenteils um organisatorische Fragen. Es war trotz Cannons gegenteiliger Beteuerungen keine endgültige, prinzipiell politische Spaltung.

Healy - Pionier des "Entrismus sui generis"

Die Healy-Gruppe in Britannien folgte dem amerikanischen Muster fast originalgetreu. Der Mangel an ernsthaften politischen Unterschieden machte sich nicht nur darin bemerkbar, daß in Healys und Pablos Büro Titos Porträt hing. Healy war Cannons Gefolgsmann in der RCP 1944-1947. Er arbeitete eng mit Pablo zusammen, um die Haston/Grant-Führung zu stürzen, v.a. nachdem Haston die kritiklose Haltung Pablos gegenüber Tito verurteilt hatte. Healy konnte keine schonungslose Kritik an der "Entrismus sui generis"-Konzeption äußern, zumal er und Lawrence sie ja seit 1947 mit angebahnt hatte. Diese "Taktik" leitete sich aus einer "Perspektive" ab, die an das Hinüberwachsen von linksreformistischen Führern zum Zentrismus glaubte. Hinter ihnen würde sich eine Massenbewegung zusammenballen, die den Rücktritt der rechtsreformistischen Führer erzwingen könnte. Die Aufgabe von Trotzkisten wäre dabei, sich mit den Linken zusammenzuschließen und bei diesem Prozeß Hilfestellung zu leisten. Das erforderte, daß dem Übergangsprogramm, der IV. Internationale und der revolutionären Partei in der Öffentlichkeit abzuschwören war, und es bedeutete auch, kein spezifisch revolutionäres Propagandaorgan herauszugeben. An ihre Stelle sollte eine Geheimfraktion sowie eine linkszentristische Gruppierung mit einer entsprechenden Zeitung für die Öffentlichkeit treten. Diese Politik betrieb Healy nach dem Kollaps der RCP. Die britische Sektion tarnte sich im "Klub", einer trotzkistische Geheimorganisation. Die breitere, öffentliche Formation hieß "Socialist Fellowship" und nahm auch Labour-Parlamentsabgeordnete und Gewerkschaftsbürokraten um die Zeitung "Socialist Outlook" auf. Pablo hieß diese Taktik gut und integrierte sie in seinen "Entrismus sui generis", den er auf stalinistische wie auf sozialdemokratische Parteien anwendete.

Dieser neue Entrismus-Typ hob sich klar vom trotzkistischen Entrismus ab. Jener war auf der offenen Bildung einer revolutionären Tendenz in einer reformistischen Partei unter Umständen aufgebaut, wo die Entfaltung des Klassenkampfes und sein Einfluß auf subjektiv revolutionäre proletarische Elemente es zumindest zeitweilig erlaubten, das Banner der IV. Internationale zu entrollen. Trotzki wußte, daß ein solcher Eintritt nur von begrenzter Dauer sein konnte, vielleicht nur eine bloße Episode.

Die eigene Bilanz der Trennung der Healyisten vom Pabloismus läßt einige politische Fragen offen. Der Streit entstand, als Lawrence (wie Clarke in den USA) Pablos direkter Agent wurde und Healys Führerschaft anfocht. Zum Krieg in Korea drückte er im Verein mit den "Zentristen" (Healys Begriff für die Linksreformisten) in der Redaktion des Socialist Outlook eine prostalinistische Position durch. Dieser Disziplinbruch und seine Konsequenzen bilden die Basis von "Der Kampf in der britischen Sektion".

Zur Zeit der Spaltung selber erschienen keine politischen Dokumente. Es war ein organisatorisches Gezerre, in dem die Zahl der Anteilseigner von Socialist Outlook mehr zählte als die Fehler des Kongresses von 1951 und davor.

Doch die politischen Differenzen, die der Spaltung zugrunde lagen, waren real genug. Mit dem Ausbruch des Koreakrieges 1950 sah Pablo die Verwirklichung seiner Kriegsrevolutions-Perspektive nahen. Die britische Sektion sorgte dafür, daß der Socialist Outlook auf Pablo-Linie gebracht wurde, und es wurden eine Reihe prostalinistischer Artikel abgedruckt. Healy und Lawrence lebten zu dieser Zeit in friedlicher Koexistenz. Nach der taktischen Wende zum Entrismus in die stalinistischen Parteien 1952 und dem von ihm verursachten Ruin der französischen Sektion, begann Pablo nunmehr, seine Taktik in andere Sektionen einzuschleusen. 1953 drängte Lawrence in Absprache mit Pablo auf eine eindeutigere prostalinistische Orientierung in Britannien. Healys langfristige Hinwendung zu den Bevanisten vertrug sich mit diesem taktischen Schwenk nicht. Aus Furcht vor Pablos Sieg tat sich Healy mit Cannon zusammen, der wiederum ähnliche Manöver in den USA befürchtete. Healy ging nun auf Konfrontation mit Lawrence in Britannien und international mit Pablo.

Der französische Kampf gegen Pablo

Die PCI in Frankreich unterschied sich von der SWP und der Healy-Gruppe insofern, als sie seit 1951 einen begrenzten politischen Kampf gegen Pablo geführt hatte. Dafür zog sich die PCI-Führung den vereinten Unwillen von Pablo, Healy und Cannon zu. Aber die Politik der PCI war nicht revolutionär.

Im Juni 1951 verfaßte der PCI-Führer Bleibtreu-Favre mit Zustimmung von P. Lambert und der Mehrheit der Organisation eine Antwort zu Pablos revisionistischem Dokument "Wohin gehen wir?" unter der Überschrift "Wohin geht Genosse Pablo?". Germain (Mandel) verzögerte dessen Erscheinen. Er gab vor, aus "demokratischen" Gründen gegen Pablo zu sein, warnte Bleibtreu-Favre aber davor, durch die Herausgabe des Dokuments Pablo zu disziplinarischen Maßnahmen zu provozieren. Die Franzosen befolgten seinen Rat. Sie stimmten Germains Schrift "Was soll modifiziert und was soll bewahrt werden an den Thesen des 2. Weltkongresses der IV. Internationale zur Frage des Stalinismus" (die sogenannten 10 Thesen) zu. Der Erfolg war, daß Pablo mit Germain als Kollaborateur eine pabloistische Minderheitsfraktion um M. Mestre in der PCI einnistete.

Pablo isolierte die französische Mehrheit praktisch, indem er sich weigerte, das Bleibtreu-Favre Dokument vor dem 3. Weltkongreß zu zirkulieren. Die Franzosen konnten nur ihre Übereinstimmung mit den 10 Thesen erklären, die aber nicht auf dem Kongreß abgestimmt wurden. Im Januar 1952 trug Pablo der PCI an, die "Entrismus sui generis"-Taktik in der PCF auszuführen, die sich damals in einer linken Phase befand. Die Sektionsmehrheit war aus taktischen Gründen dagegen und zog eine Orientierung auf die loser formierte SFIO vor. Nach einer Kampfabstimmung schlossen Pablo, Germain und Healy mit Billigung Cannons die Mehrheit des französischen Zentralkomitees aus.

Wie sehr wir auch mit der PCI als Opfer bürokratischer Methoden sympathisieren, müssen wir doch sagen, daß ihr Kampf letzten Endes kein gradliniger, sondern politisch falsch war. Erstens hat sie unterstützt, was wir anderswo als Mandels "orthodoxen Revisionismus" beschrieben haben. Mandel revidierte Trotzkis Position zum Stalinismus, indem er die Idee als vom "orthodoxen" Standpunkt unannehmbar verwarf, daß stalinistische Parteien Revolutionen in China und Jugoslawien, die die IV. Internationale für gesund hielt, siegreich führten. Für Mandel hatte der Stalinismus einen "Doppelcharakter", eine gute und eine schlechte Seite. Der Druck der Massen konnte der guten Seite zum Durchbruch verhelfen. Er schrieb: "Die jugoslawischen und chinesischen Beispiele haben gezeigt, daß unter außergewöhnlichen Umständen ganze kommunistische Parteien ihre politische Linie ändern und den Kampf der Massen bis zur Machtergreifung über die Ziele des Kreml hinaus führen können. Unter solchen Bedingungen hören diese Parteien auf, stalinistische Parteien im klassischen Sinn des Wortes zu sein."

Bleibtreu-Favres Dokument äußerte eine ähnliche Sichtweise, besonders mit Blick auf die chinesische Bürokratie. Die PCI griff die chinesischen Trotzkisten heftig dafür an, daß sie nicht schnell genug in die KPC, die zu der Zeit Trotzkisten einkerkerte, eingetreten wären. Die französische Sektion übernahm also Pablos Analyse zu Jugoslawien und China. Sie wollte nur nicht wahrhaben, daß diese Staaten von stalinistischen Parteien beherrscht wurden. Wie alle anderen in der IV. Internationale war die PCI bereit, die Kongreßposition von 1951 zu Jugoslawien anzuerkennen, eine Position, die das Programm des Trotzkismus auslöschte.

Die Franzosen kritisierten Pablos "Einwände", führten aber eigene ein. China so meinten sie, sei der Beweis, daß "sich die Wirklichkeit des Klassenkampfes trotz der Nichtexistenz einer revolutionären Partei mächtiger als der Kremlapparat zeigt". Die KPen wurden vom Kreml gegängelt. Wenn sie sich also gegen den Kreml wandten, konnten sie nicht länger stalinistisch sein: "Es ist auf jeden Fall absurd, von einer stalinistischen Partei in China zu sprechen und noch absurder an etwas derartiges wie einen 'Sieg des Stalinismus in China' zu glauben".

Trotzkis Analyse des Stalinismus als widersprüchlich, doch überwiegend konterrevolutionär, selbst wenn er sich entlang sozialpatriotischer Linien spaltet, wurde verschrottet. Die PCI-Führung kapitulierte vor den stalinistischen Parteien und, um ihre trotzkistischen Seelen zu retten, folgerte man passend, daß diese Parteien gar nicht stalinistisch sein konnten.

Der zentristische Weltkongreß 1951 - keine revolutionäre Opposition zu Pablo

1951 bewiesen die zentristischen Positionen des 3. Weltkongresses zu Stalinismus und Jugoslawien sowie die allgemeinen Perspektiven mit ihrer Bürgerkriegserwartung ohne jeden Zweifel, daß ein programmatischer Zusammenbruch der IV. Internationale stattgefunden hatte. Außerordentlich bedeutend war, daß keine einzige Sektion gegen die Jugoslawien-Resolution, ein Grundpfeiler für alle anderen Fehler, stimmte. Die IV. Internationale war als ganze in den Zentrismus abgestürzt. Seither lautete die Aufgabe für Trotzkisten die Wiedergründung einer leninistisch-trotzkistischen Internationale auf einem wiedererarbeiteten Programm des revolutionären Kommunismus. Manöver zur Ersetzung der Führung der IV. Internationale waren völlig unzureichend. Die programmatische Grundlage mußte geändert werden. Auf welche Art das Anfang der 50er Jahre hätte vonstatten gehen können, ist spekulativ. Ausschlaggebend für uns ist, daß es nicht geschah. Die historische Kontinuität des Trotzkismus wurde zertrümmert, was bezeugt wurde durch Pablos Ausnutzung der Kongreßdokumente auf dem 10. Plenum des internationalen Exekutivausschusses im Februar 1952, womit er den "Entrismus sui generis" einführen konnte.

Die Opposition 1952-1953 in den USA, Britannien und Frankreich war subjektiv gewillt, sich gegen Pablo zu stellen. Doch sie darf nicht nach ihren Impulsen, sondern muß nach ihrer Politik beurteilt werden. Ihre "Orthodoxie" war steril und basierte auf einem Nachkriegsrevisionismus, dessen Auslöser die jugoslawischen Ereignissen waren, und war kein authentischer Trotzkismus. Beide Komponenten der Spaltung von 1953 können nicht als "Traditionswahrer" des Trotzkismus anerkannt werden. Beide waren Zentristen.

Das IK entwickelte sich nach rechts, zu sehen bspw. an Healys Arbeit in der Labour Party, und unterschied sich vom IS durch sein Entwicklungstempo. Es schreckte vor den eklatanten Äußerungen des Liquidatorentums von Seiten des IS zurück, aber nicht vor den rechtszentristischen Urkunden, die dem Liquidatorentum erst die programmatische Grundlage verschafften. Deshalb bildete das IK auch keine "linkszentristische" Alternative zum IS.

Das IS ging nach rechts zum Zentrismus und zog die vollkommen logischen Schlüsse aus den Positionen von 1951. Die korrekten Positionen des IK zu DDR und Ungarn hätten die Taktik einer linken Opposition bestimmen können, wenn es sie denn gegeben hätte. Aber sie hätten keinen Einfluß auf ihre Einschätzung des IK gehabt.

Die Orientierungslosigkeit führte nach dem Krieg zum programmatischen Zusammenbruch der IV. Internationale. Nach dem Kollaps der 3. Internationale hielt Trotzkis linke Opposition eine Reformperspektive aufrecht, weil die Komintern eine Massenbewegung hinter sich hatte. Nach dem Zusammenbruch und dem Nichtzustandekommen einer Opposition stand die IV. Internationale ohne Programm und ohne Massenavantgarde da. Die IV. bestand im Gegensatz zur III. Internationale im wesentlichen aus ihrem Programm. Darum sagen wir, daß authentische Trotzkisten nach 1951 ungeachtet aller Taktik ein neues Programm erarbeiten und damit einen neue Internationale aufbauen mußten.

 

 

 

Zentrismus und Stalinismus

Die Verfälschung der Analyse Trotzkis

Die Vierte Internationale nach dem Krieg

Zwischen der Europäischen Konferenz 1944 und dem Dritten Weltkongreß 1951 entwickelten weder eine Sektion der Vierten Internationale, noch irgendwelche Tendenzen innerhalb der Sektionen eine korrekte Einschätzung der Rolle des Weltstalinismus in Osteuropa. Bis zum Zweiten Weltkongreß 1948 schloß dies nicht aus, daß die Vierte Internationale eine Reihe bedeutender Einsichten in die Natur und Rolle des Stalinismus gewann. Noch führte es zur Aufgabe der trotzkistischen Analyse vom Stalinismus als konterrevolutionär. Unter dem Eindruck des Bruchs Stalin-Tito 1948 jedoch sollten die Irrtümer in eine qualitative Revision des trotzkistischen Verständnisses vom Stalinismus verstärkt und ausgedehnt werden.

Die Resolutionen der Versammlungen der Vierten Internationalen von 1944 und 1946 begingen zwei miteinander verbundene Irrtümer zu Stalinismus und Osteuropa: Einerseits unterschätzten sie die konterrevolutionäre Rolle des Kreml in Osteuropa; andererseits überschätzten sie die Instabilität des Stalinismus und das Potential für seine revolutionäre Niederlage, die ihm durch die Arbeiterklasse versetzt werden konnte. Die Perspektive der kommenden "Totenglocke" für den Stalinismus, mit der die Trotzkisten in den Krieg eintraten, blieb weiterhin nach dem Krieg unverändert in Kraft. In den vom Kongreß 1944 verabschiedeten Thesen erklärte die Vierte Internationale: "Der Krieg, der die Widersprüche der russischen Wirtschaft unerträglich verschärfte, hat die Totenglocke für die unausweichliche Auslöschung der bonapartistischen stalinistischen Bürokratie geläutet. Letztere ist unausweichlich dazu bestimmt, zu verschwinden, entweder unter den Schlägen des Weltimperialismus oder unter denen der proletarischen Weltrevolution."

Dieser Perspektive wurde von den Ereignissen in Rußland selbst, in der Pufferzone, Italien, Griechenland und Frankreich widersprochen. Die Vierte Internationale weigerte sich jedoch in ihren späteren Thesen, ihre ursprüngliche Perspektive aufzugeben oder partiell zu korrigieren. Obwohl die Vierte Internationale die konterrevolutionäre Rolle, welche die Rote Armee spielte, indem diese die unabhängigen Massenkämpfe demobilisierte, anerkannte, erweckte sie konsequent die Idee, diese Kämpfe würden den Stalinismus schnell aus dem Weg räumen. Trotzkis Behauptung, "die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte seien stärker als der bürokratische Apparat" (auf generellem Niveau wahr), wurde benutzt, um eine Prognose für die unmittelbare Zukunft zu rechtfertigen. Diese Prognose ließ sowohl die subjektiven Schwächen der Massen (Fehlen revolutionärer Parteien) wie die objektiven Schwierigkeiten (wie die Waffenstärke der sowjetischen Bürokratie und ihr erhöhtes Prestige nach der Niederlage des Nazismus) außer acht. Kurzum, es war eine falsche Prognose. Die Weigerung, dies anzuerkennen, verführte die Vierte Internationale dazu, die in der Pufferzone stattfindenden "revolutionären" Entwicklungen zu überschätzen. 1946 argumentierte die Vierte Internationale:

"Die sowjetische Besatzung und Kontrolle haben dem Bürgerkrieg und der Herausbildung eines Regimes der Doppelmacht Anschub verliehen, obwohl in unterschiedlichen Ausmaßen."

Das war unwahr. Die Besatzung verhinderte die Entwicklung des Bürgerkriegs und gebot ihm Einhalt. Darüber hinaus bestand das Regime der Doppelmacht aus den Stalinisten und der Bourgeoisie, nicht aus den Stalinisten und unabhängigen Arbeiterorganisationen.

Dieser Irrtum der Vorhersage hatte keine unmittelbare programmatische Konsequenz. Die programmatischen Doktrinen des Trotzkismus galten in der Vierten Internationalen immer noch als gültig. Die Thesen von 1944 und 1946 rufen klar und eindeutig zum revolutionären Umsturz der stalinistischen Herrschaft und kapitalistischen Wirtschaft Osteuropas auf, zum Aufbau unabhängiger Sektionen der Vierten Internationalen, um solche Umstürze anzuführen. In einer Resolution des Internationalen Exekutivkomitees, veröffentlicht in der Ausgabe der Fourth International vom Juni 1946, machte die Vierte Internationale ihre Weigerung deutlich, mit dem Stalinismus Kompromisse einzugehen:

"Die Vierte Internationale verlangt den Rückzug aller ausländischen Armeen, einschließlich der Roten Armee, aus allen besetzten Gebieten."

Weiter hielt die Vierte Internationale ein Programm aus Übergangsforderungen für Ost und West hoch, das für politische Revolution, Verteidigung der UdSSR und den Sturz des Kapitalismus in der Pufferzone und dem Westen durch unabhängige Organisationen der Arbeiterklasse unter trotzkistischer Führung eintrat.

Das Problem der strukturellen Assimilierung

Die Führung der Vierten Internationalen, besonders Germain, trieb eine Analyse der osteuropäischen Länder als kapitalistische Staaten voran; aber solcher, die möglicherweise in die Sowjetunion hinein "strukturell assimiliert" würden. Damit meinte Germain, daß die Staaten der Pufferzone unter bestimmten Bedingungen geographisch in die UdSSR integriert und gleichzeitig ökonomisch transformiert werden könnten - von kapitalistischen zu degenerierten Arbeiterstaaten wie die UdSSR. Aber Germain, dogmatisch an Trotzkis Analyse der bürokratischen gesellschaftlichen Umwälzung vor dem Krieg in Ostpolen klebend, bestand darauf und hielt aufrecht, daß die Vorbedingung für die "strukturelle Assimilierung" die unabhängige Intervention der Massen sei.

"Aber um ein bestehendes Gebiet vollständig anzugleichen, d.h. die Gutsbesitzer und Kapitalisten als Klasse zu enteignen und zu zerstören, ist die Bürokratie gezwungen, - wenn auch begrenzt und mit dem Ziel, sie immer zu kontrollieren und wenn nötig zu zerschmettern - zur autonomen Aktion der Massen aufzurufen. Exakt aus diesem Grund und genau weil die Bürokratie die autonome Aktion der Massen wie die Pest fürchtet, wird sie unter anderem unfähig sein, die Assimilierung zu vervollständigen außer auf relativ beschränkter Stufenleiter."

Während solche Massenintervention (frei von stalinistischer Kontrolle) eine Bedingung für die Schaffung eines gesunden Arbeiterstaats ist, ist das als allgemeine Regel für die Bildung degenerierter Arbeiterstaaten unnötig. Jedoch näherte sich Germain dem Problem nur auf einer generellen Ebene. Er ignorierte den spezifischen Charakter der Pufferzone - Störung des Zusammenhangs mit dem Weltmarkt, Dezimierung der einheimischen Kapitalisten, Kontrollmonopol der Stalinisten über den Unterdrückungsapparat, demobilisierte Arbeiterklasse -; alles war entscheidend, um eine Umwälzung des Kapitalismus ohne Intervention der Massen zu erleichtern.

Unter den Begleitumständen, wo, wie Germain zutreffend feststellt, die grundlegenden außenpolitischen Ziele des Kremls in der Schaffung einer militärischen Pufferzone bestanden, um den "Sozialismus in einem Land" wiederaufzubauen, erschienen seine Thesen plausibel. Als sich jedoch nach 1947 die Bedingungen dramatisch änderten und Moskau gezwungen war, Umwandlungen in der Pufferzone durchzuführen, um die Pläne der Imperialisten zu kontern, bewies Germains Festhalten an seinen Vorbedingungen für eine Ablösung des Kapitalismus, daß seine Theorie ein starres und nutzloses Dogma war. Um 1948 wurde es offensichtlich, entwaffnete Germain in der Jugoslawienfrage und trieb ihn zur Unterstützung von Pablos Revision der trotzkistischen Position 1951.

Germains Beharren auf der Notwendigkeit von Massenmobilisierungen parallel zur Umwälzung besaß einen definitiv opportunistischen Kern. Geknüpft an die Prognose des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs des Stalinismus, war diese Analyse der Grund, warum die Vierte Internationale ständig die Entwicklung solcher Mobilisierungen erwartete und vorwegnahm. Außerdem wurde zugestanden, solche Mobilisierungen könnten zu einer Wende in der Politik der Kommunistischen Parteien selbst führen: "All diese Länder, einschließlich Jugoslawien, werden jedoch einem besonders großen Druck seitens des Imperialismus ausgesetzt sein. Es ist in diesem Fall nicht auszuschließen, daß die Kommunistischen Parteien sich fest auf die revolutionären Erwartungen der Massen stützen, sich vorwärtsbewegen und die Überbleibsel bürgerlichen Eigentums und bürgerlicher Macht abschaffen werden."

Solche Entwicklung, so glaubte man, könne nur die Krise des Stalinismus bezeugen. Als jedoch die Vierte Internationale diese Vorhersage in der Praxis auf den Bruch Stalin-Tito anwandte, bestand sie darauf, daß Tito sich vom Stalinismus abgespalten habe. Dadurch glaubten sie, ihre Voraussage zu revolutionären Erhebungen sei erfüllt worden. Dieser Glaube hatte ernste Folgewirkungen für die revolutionäre Integrität der Vierten Internationalen. Der Kongreß 1948 und dessen Resolution "Die UdSSR und der Stalinismus" tat wenig, die Vierte Internationale vor diesen Konsequenzen zu behüten. Tatsächlich kodifizierte er nur alle früheren perspektivischen Irrtümer. Die Thesen schilderten detailliert die konterrevolutionäre Rolle des Kreml in den verflossenen Jahren, beharrten aber immer noch auf den gleichen künstlichen Vorbedingungen für die Durchführung bürokratischer sozialer Revolutionen wie zuvor (Notwendigkeit von Massenmobilisierungen und geographische Assimilierung). Sie hielt ihre fundamental irrtümliche Perspektive in Bezug auf die Krise des Stalinismus aufrecht. Zu keinem Zeitpunkt zwischen 1944 und 1947 machte die Vierte Internationale bei der Analyse Osteuropas für Jugoslawien eine Ausnahme.

Tito-Stalin Bruch

Nach 1948 zog die Liquidierung der kapitalistischen Ökonomien in Osteuropa und der Tito-Stalin-Bruch die Vierte Internationale-Führung in Richtung weiterer Neuüberprüfung des Charakters des Stalinismus. Die Thesen von 1948 stellten fest, indem sie Stalinismus eng definierten als die Unterordnung jeder KP unter die Interessen des Kreml: "unter stalinistischer Führung haben sie sich in Organisationen verwandelt, deren einzige Funktion darin besteht, den diplomatischen Manövern der Sowjetbürokratie zu dienen." (Unsere Hervorhebung) Die Vierte Internationale schlußfolgerte, der Bruch Tito-Stalin bedeute, daß die KPJu aufgehört habe, stalinistisch zu sein. Unfähig oder unwillig, anzuerkennen, daß der Stalinismus sich selbst treu bleibt, selbst wenn er sich entlang nationalistischer, sozialpatriotischer Linien entzweit, benützte die Vierte Internationale den Bruch, um die Ereignisse in Jugoslawien von 1943 an neu zu deuten. Die Vierte Internationale sah den Bruch als Bestätigung ihrer Perspektive bezüglich der Krise des Stalinismus an. Sie betrachtete ihn als jüngsten Ausdruck eines Bruchs mit dem Stalinismus, der effektiv vollzogen wurde, als man von der KPJu 1945 berichtete, sie habe - unter Druck - die Massen in einer unverfälschten proletarischen Revolution angeführt, die den Kapitalismus erfolgreich stürzte und einen "deformierten" Arbeiterstaat schuf, in dem es keiner politischen Revolution bedurfte.

Michel Pablo war der hauptsächliche Anwalt dieser Position. Im August 1948 begann Pablo zögerlich die Grundlagen für seine Revisionen des Trotzkismus bezüglich der jugoslawischen Frage zu legen. Im Artikel "Die jugoslawische Affäre" behauptete er: "Im Gegensatz zu allen anderen Kommunistischen Parteien in der 'Pufferzone', die ihre Macht dank direkter Unterstützung durch den Kreml und die Rote Armee erhielten, führte die Jugoslawische Kommunistische Partei (KPJu) während des Kriegs eine wirkliche Massenbewegung mit spürbaren kommunistischen Tendenzen an, die sie an die Macht brachte." Die revolutionären Tendenzen der Massen hatten der KPJu einen speziellen Charakter verliehen. In diesem Stadium behauptete Pablo nicht, die KPJu sei bis jetzt noch zentristisch. Er unterstellte jedoch, daß ihre Unabhängigkeit von Moskau der KPJu als ganzer die Möglichkeit verleihe, mit dem Stalinismus zu brechen und damit die Notwendigkeit für eine neue trotzkistische Partei in Jugoslawien überflüssig zu machen. Seine programmatischen Schlußfolgerung in diesem Artikel war die, daß die Vierte Internationale auf die KPJu Druck zur Selbstreform auszuüben versuchen sollte.

Im September 1949 bezeichnete Pablo korrekt Jugoslawien als Arbeiterstaat, indem er an sein falsches Verständnis vom Potential für eine Selbstreform der KPJu anknüpfte. Seine Definition als deformierter Arbeiterstaat war grundlegend falsch. Indem er diesen Begriff benutzte, implizierte Pablo, daß die bürokratische Deformation des jugoslawischen Arbeiterstaats nur quantitativ sei. Das hieß, die politische Macht läge bis zu einem gewissen Ausmaß in den Händen der Arbeiterklasse: "Innerhalb dieses Rahmens eines Arbeiterstaats , der in diesem Sinn definiert ist, kann langfristig ein teilweiser bürgerlicher Inhalt sowohl in der Sphäre der Verteilungsnormen als auch in verschiedenen Aspekten der politischen Macht eingedämmt werden."

Solch eine Formulierung ist ebenso für einen gesunden Arbeiterstaat gültig. Er wird bürgerliche Merkmale in seiner Wirtschaft und seinem politischen Überbau einschließen. Was aber einen gesunden Arbeiterstaat oder selbst einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Deformationen unterscheidet, ist, daß die politische Macht bei der Arbeiterklasse oder in den Händen einer revolutionären Partei liegt, nicht in den Händen einer konsolidierten, gegen die Arbeiterklasse gerichteten, bürokratischen Kaste mit ihren eigenen distinkten Interessen. Die Existenz einer solchen Kaste, und klarerweise existierte eine in Jugoslawien, signalisiert einen qualitativen Unterschied zwischen einem gesunden und einem degenerierten Arbeiterstaat und erfordert im letzten Fall eine politische Revolution, um die politische Macht in die Hände der Arbeiterklasse zurückzugeben. Das Versäumnis, diese Unterscheidung zu machen, führte Pablo zuerst dazu, die Frage der politischen Revolution in Jugoslawien zu verwischen und später den Aufruf dafür komplett aufzugeben. Statt dessen forderte Pablo nur die Weltrevolution als Mittel des allmählichen Abtragens der materiellen Grundlage (Rückständigkeit) für bürokratische Deformationen in Ländern wie Jugoslawien. Im Februar 1950 argumentierte er deshalb: "zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird es eine ganze historische Periode und Skala von Übergangsregimen geben , die - während sie aufhören, kapitalistisch zu sein, verschiedene Entwicklungsgrade im Verhältnis zueinander wie zum Sozialismus aufweisen werden, in denen der Staat (Staatsapparat) mehr oder weniger von der Bürokratie deformiert sein wird; in welchen die (deformierten) Gesetze des Kapitalismus im einen oder anderen Ausmaß weiterhin wirken und in denen all diese Schwierigkeiten und Hindernisse nur durch die Ausdehnung der Revolution auf den Weltschauplatz überwunden werden."

Nicht nur wurde das Programm der politischen Revolution in dieser Formel irrelevant gemacht, sondern auch das marxistische Programm für den Kampf gegen die Bürokratie in der Übergangsperiode.

Pablo vertiefte diese Irrtümer durch die Behauptung, angesichts der vorliegenden Erfahrung in Jugoslawien und mit der KPJu (einer stalinistischen Partei, die unter dem Druck der Massen sich in eine zentristische Partei verwandelte) könne der Stalinismus generell durch solchen Druck transformiert werden. So argumentierte er in seinem Bericht an den Kongreß der Vierten Internationale 1951: "Wir haben klargestellt, daß die KPen nicht exakt reformistische Parteien sind und daß unter gewissen Ausnahmebedingungen sie die Möglichkeit besitzen, eine revolutionäre Orientierung einzuschlagen."

Pablos Positionen zu Jugoslawien wurden von der Vierten Internationalen 1951 auf ihrem Dritten Weltkongreß angenommen. Sie wurden von allen größeren Sektionen und führenden Figuren der Vierten Internationalen unterschrieben. Es gab keine revolutionäre Opposition gegen Pablos zentristische Position: "In Jugoslawien, dem ersten Land, wo das Proletariat seit der Degeneration der UdSSR die Macht ergriffen hat, existiert der Stalinismus heute nicht länger als effektiver Faktor in der Arbeiterbewegung, was jedoch sein Wiedererscheinen unter bestimmten Bedingungen nicht ausschließt."

Germains Einwände gegen diese Position waren angesichts der Realität des jugoslawischen Arbeiterstaats obsolet und wertlos an Begriffen geworden, die konterrevolutionäre Natur der Partei zu erklären, die den Staat ins Leben gerufen hatte. Auf derselben Konferenz erkannte die Vierte Internationale den Rest Osteuropas als deformierte Arbeiterstaaten an, die einer politischen Revolution bedürfen. Aber die Resolutionen zu Osteuropa und Jugoslawien wurden als komplementäres Ganzes betrachtet und dieses Ganze zog eine rechtszentristische Revision der trotzkistischen Position zum Stalinismus nach sich.

Der "Doppelcharakter" des Stalinismus

Diese Revision zog eine Neudefinition nach sich, so als habe der Stalinismus einen "Doppelcharakter". Die bürokratischen sozialen Revolutionen in der Pufferzone wurden als Beispiele für die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus betrachtet. Die fortschrittliche Seite des Stalinismus wird als Fähigkeit einiger KPen angesehen, unter dem Druck der Massen mit dem Kreml zu brechen und eine "revolutionäre Orientierung" zu entwerfen. Das sei in Jugoslawien und später in China passiert, behauptete die Vierte Internationale. Es fiel Germain zu, der jetzt gehorsam Pablos Linie verfolgte, dieser Revision einen theoretischen Ausdruck in seinen "Zehn Thesen" über den Stalinismus zu verleihen: "Die widersprüchliche Rolle der Sowjetbürokratie wird in den stalinistischen Parteien nur zum Teil widergespiegelt. Der Doppelcharakter dieser Parteien ist von unterschiedlichem sozialen Ursprung; er fließt nicht aus der besonderen Rolle einer parasitären Bürokratie in einem Arbeiterstaat, sondern aus der Doppelfunktion dieser Parteien, die sowohl zur Arbeiterklasse gehören wegen ihrer Massenbasis in ihrem eigenen Land wie auch internationale Instrumente der sowjetischen Bürokratie sind."

Nur das letztere Charakteristikum bestimmte sie als stalinistisch. Das erstere konnte unter bestimmten Bedingungen dazu dienen, diesen Stalinismus zu negieren. Also: "Die jugoslawischen und chinesischen Beispiele haben demonstriert, daß, in gewisse außergewöhnliche Umstände versetzt, ganze Kommunistische Parteien ihre politische Linie modifizieren und den Massenkampf bis zur Machteroberung anleiten können, wobei sie die Ziele des Kreml überschreiten. Unter solchen Bedingungen hören diese Parteien auf, stalinistische Parteien im klassischen Wortsinn zu bleiben."

Das bedeutet, sie wurden zentristische Parteien.

Wir weisen die Ansicht zurück, stalinistische Parteien als solche seien ausschließlich kraft ihrer Beziehung zum Kreml definiert. Dies bildet nur einen wichtigen Wesensteil des Programms und der umfassenden Natur einer stalinistischen Partei. Ferner lehnen wir die Behauptung ab, daß der Stalinismus einen Doppelcharakter habe und in eine revolutionäre Richtung geschoben werden könne, ohne zuerst zu zerbrechen und durch eine revolutionäre Partei ersetzt zu werden.

Gegen diese Auffassung von Stalinismus, als besitze er sowohl eine progressive als auch konterrevolutionäre Seite, die beide in gleichem Maß wiegen und nach Zeit und Raum getrennt sind, streichen wir die trotzkistische Konzeption vom Stalinismus als vorwiegend konterrevolutionär, aber mit widersprüchlichen Eigenschaften, hervor. Wir erkennen diesen Widerspruch als zutiefst dialektischen an, d.h. daß der Stalinismus fähig ist, (unter außergewöhnlichen Umständen) Resultate zu erzielen, die isoliert genommen fortschrittlich sind (die Abschaffung des Kapitalismus). Aber der Stalinismus erreicht diese Ergebnisse mit konterrevolutionären Mitteln. Indem wir dies anerkennen, setzen wir keineswegs die progressiven und die reaktionären Elemente gleich. Wir stellen fest, daß der progressive Teil vom konterrevolutionären Ganzen durchzogen und dominiert ist. Indem sie das dialektische Verständnis vom Stalinismus in ein paar formal entgegengesetzter und trennbarer Elemente auflöste, machte die Vierte Internationale nach 1951 den Weg frei für die Liquidierung des revolutionären Programms zugunsten einer Ausrichtung (tiefer Entrismus), die versuchte, die nationalen KPen zu drängen, diesen progressiven Pfad einzuschlagen.

Schließlich kann der Revisionismus der Vierten Internationalen in der Frage des Stalinismus nicht voll verstanden werden ohne Bezug auf die Positionen, die zur anderen größeren Angelegenheit der Vierten Internationalen während dieser Periode bezogen wurden - der anhaltenden Instabilität des Imperialismus. Bis 1948 wurde diese Instabilität in Begriffen für chronische wirtschaftliche Stagnation aufgefaßt. Nach 1948 sollte diese Instabilität gemäß der Vierten Internationalen mehr und mehr in Termini von Vorbereitungen für einen Dritten Weltkrieg gegen die UdSSR und Osteuropa zum Ausdruck kommen.

Die Irrtümer zu Stalinismus und Osteuropa und den Aussichten für den Imperialismus kamen in den Resolutionen des Kongresses von 1951 über "Orientierung und Perspektiven" zusammen. Diese argumentierten, ein neuer Weltkrieg sei unvermeidlich, daß das Kräfteverhältnis gegen den Imperialismus und zugunsten der Arbeiterstaaten ausschlage und daß der neu entdeckte potentiell progressive Zug des Stalinismus bedeuten würde, daß der neue Krieg die Form eines internationalen Bürgerkriegs annähme. Das Endergebnis all dessen seien Serien von Revolutionen, mindestens so fortschrittlich und gesund wie die jugoslawische.

Eine Opposition, die sich den Anschein verlieh, den Trotzkismus gegen Pablos Revisionismus in der Frage des Stalinismus zu verteidigen, war die Vern/Ryan-Tendenz innerhalb der SWP(US) 1950 - 53. Diese Tendenz argumentierte, die Vierte Internationale habe fälschlich die Charakterisierung Osteuropas einschließlich Jugoslawiens als Arbeiterstaaten so lange hinausgeschoben. Sie vertraten, daß das einzig entscheidende Kriterium für die Charakterisierung der Klassennatur eines Staates sei, welche Klassenrepräsentanten den Unterdrückungsapparat der Staatsmaschinerie kontrollierten. Somit markierte in Osteuropa der Einmarsch der Roten Armee (des Unterdrückungsapparats eines Arbeiterstaats) die Errichtung von Arbeiterstaaten - d.h. schon früh um 1944-45. Sie räsonierten: "Hier im Überbau der Gesellschaft ist es, wo die Revolution in unserer Zeit stattfindet." Der Stalinismus wurzelt in der Arbeiterklasse - deshalb gleichen die Stalinisten an der Macht immer einer verdrehten Form von Arbeitermacht. Der Stalinismus konnte unmöglich auf kapitalistischen Eigentumsverhältnissen ruhen oder einen kapitalistischen Staat stützen, selbst nicht für eine begrenzte Periode, weil er selbst auf den nachkapitalistischen Eigentumsverhältnissen beruht.

Diese undialektischen Positionen der Vern/Ryan-Tendenz, die versagte, die widersprüchliche Natur des Stalinismus anzuerkennen, warfen den Schatten voraus auf viele Irrtümer der International Spartacist Tendency (iST) zur russischen Frage. Ihre Position kann als stalinophil definiert werden.

Sie beruht an erster Stelle auf einer inkorrekten Analogie zur bolschewistischen Revolution von 1917. Weil die Bolschewiki an der Staatsmacht die Aufsicht über Privateigentum in ganzen Abschnitten der Wirtschaft ausübten, mißachtete die Vern/Ryan-Tendenz überhaupt ökonomische Kriterien. Sie setzten eine genuine Revolution, in welcher der kapitalistische Staat durch die direkte Aktion der Massen, geführt durch eine revolutionäre Partei, entscheidend zerschlagen und ein neuer Typ Staat errichtet wurde, mit den stalinistisch geführten Umstürzen des Kapitalismus und der Bildung degenerierter Arbeiterstaaten gleich. Das gleiche Kriterium wurde auf zwei verschiedene geschichtliche Erscheinungen angewandt. Dies wurde getan, weil die Vern/Ryan-Tendenz die konterrevolutionäre Bürokratie als nur quantitativ unterschieden von den frühen bolschewistischen Funktionären betrachtete. Sie bestimmen die Bürokratie einzig als Teil der Arbeiterklasse, ignorieren ihre Eigenschaft als Kaste innerhalb der sowjetischen Gesellschaft, die sich auf die Arbeiterklasse stützt, aber mit Interessen unterschieden von und entgegengesetzt der Arbeiterklasse. Sie leugnen die überwiegend konterrevolutionäre Natur der Bürokratie. Sie leugnen die Realität des Stalinismus in Osteuropa nach dem Krieg. Sie ignorieren die Tatsache, daß der Stalinismus kapitalistische Eigentumsverhältnisse eine Periode lang verteidigte und daß er Länder, die er kontrollierte, wie Finnland und Österreich, an die Imperialisten zurück aushändigte, statt dort den Kapitalismus abzuschaffen. Die einseitige Stalinismusanalyse dieser Tendenz gewährt der Sowjetbürokratie eine revolutionäre Dynamik, die sie nicht besitzt. Das Kriterium, um festzulegen, ob ein degenerierter Arbeiterstaat existiert oder nicht, hängt nicht in erster Instanz davon ab, ob die Stalinisten sich die politische Macht gesichert haben. Wie wir (in den vorherigen Kapiteln der Broschüre "The Degenerated Revolution", die wir hier nicht übersetzt haben; Anm. d. Ü.) gezeigt haben, ist dies eine Vorbedingung für die Schaffung eines degenerierten Arbeiterstaats. Aber daraus folgt nicht, daß die Erfüllung dieser Vorbedingung unweigerlich zur Einrichtung geplanter Eigentumsverhältnisse führen wird. Dieser Fakt wurde über jeden Zweifel hinweg durch Österreich, Finnland und Vietnam (1945) bewiesen.

In der Periode von 1948 bis 1953 (1953 spaltete sich die Vierte Internationale in das Internationale Komitee [IK] und das Internationale Sekretariat [IS]) gab es keine revolutionäre Opposition gegen Pablos revisionistische Positionen zum Stalinismus. Die amerikanische SWP, die britische Healy-Gruppe und die französische PCI (alle schlossen sich dem IK an) drückten wiederholt ihre Unterstützung für die Positionen der Vierten Internationalen aus bis zu und einschließlich der Dokumente des 3. Weltkongresses zu Jugoslawien. Vorgeblich beinhaltete der Bruch des IK mit Pablo eine Ablehnung seiner taktischen Orientierung gegenüber den stalinistischen Parteien und seiner organisatorischen Methoden, nicht seine Analyse und sein Verständnis des Stalinismus.

Die Opposition um Germain gegen Pablo in der Jugoslawienfrage war unfähig, eine alternative Position aufrechtzuerhalten. Ihr Dogmatismus erwies sich als zunehmend in Unvereinbarkeit mit der Realität in Osteuropa. Ihr Umschwenken zu Pablos Standpunkt wurde durch die Tatsache erleichtert, daß sie die ganze Debatte hindurch alle Voraussetzungen, von denen Pablo seine Schlüsse zog, akzeptierten - den außergewöhnlichen Charakter der jugoslawischen Revolution, die zentristische Natur der KPJu und die Konzeption vom Bruch Tito-Stalin als "proletarische Revolte gegen die antiproletarische, konterrevolutionäre Politik des Kreml" (Germain).

Auf dem Kongreß 1951 wurde Pablos zentristische Position zu Jugoslawien und zum Stalinismus verabschiedet, ohne von irgendeiner Sektion der Vierten Internationalen oder selbst einem Teil einer Sektion auf revolutionärer Grundlage herausgefordert zu werden. Das sollte schnell programmatische Auswirkungen in den Taktiken und Losungen mit sich führen, die von der Vierten Internationalen aufgestellt wurden (z.B. weigerte sich die Vierte Internationale [IS] 1953 während der ostdeutschen Aufstände, zur politischen Revolution aufzurufen). Darum erkennen wir den Kongreß von 1951 als den Punkt an, wo die Vierte Internationale ihre Irrtümer kodifizierte, statt sie zu berichtigen, und ihren Kollaps zum Zentrismus vervollständigte, indem sie die trotzkistische Position zum Stalinismus aufgab.

Mandels "orthodoxe" Revisionen

In der Dämonologie der "antipabloistischen" Tradition des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IK) war und bleibt der Hauptbösewicht Michel Pablo. Während es nun sicher stimmt, daß er die "theoretische Wiederaufrüstung" der Vierten Internationale einführte, die sie jeder Spur von authentischem Trotzkismus berauben sollte, verlor er nach der Spaltung 1953 geschwind die Rolle eines hauptsächlichen theoretischen Revisionisten der Vierten Internationalen. Das konstante Herumreiten des IK auf dem "pabloistischen Revisionismus" war eigentlich ein Zeugnis ihres eigenen theoretischen Bankrotts. Es ersetzte jeden Versuch, den Chefsprecher des Internationalen Sekretariats der Vierten Internationalen (IS), Ernest Germain, später besser bekannt unter Ernest Mandel, vorzunehmen und theoretisch zu bekämpfen.

Er war der Architekt der Analyse der Krise innerhalb des Stalinismus nach Stalins Tod 1953 und hauptverantwortlich für die Formulierung der programmatischen Antwort des IS auf die "Krise" des Stalinismus auf den Kongressen des IS 1954, 1957 und 1961 umgebenden Ereignisse. Er spielte eine führende Rolle in den Wiedervereinigungsdiskussionen mit der Hauptgruppierung im IK, der SWP(US), und erreichte mit deren Führer, Joseph Hansen, Übereinstimmung in der Analyse der kubanischen Revolution. Von der Wiedervereinigung 1963 - als das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VSVI) gegründet wurde - bis zum heutigen Tag hat Mandel seine Stellung als vorrangiger VSVI-Theoretiker zum Stalinismus, zur UdSSR und den degenerierten Arbeiterstaaten beibehalten.

Nach 1950 war Germain (Mandel) gezwungen, seinen Irrtum zur jugoslawischen Revolution zuzugeben. Pablo hatte recht gehabt, Titos Jugoslawien als "deformierten Arbeiterstaat" einzustufen, er hatte falsch gelegen. Seine Niederlage - oder eher sein Kollaps - in dieser Frage forderte ihn, eine Aufgabe auszuführen, die seitdem ein Markenzeichen seiner Bücher, Pamphlete und Artikel geworden ist. Er machte sich an die Arbeit, die Revisionen des Trotzkismus seitens der Vierten Internationalen mit dem Schimmer marxistischer "Orthodoxie" zu verkleiden. 1951 bekräftigte er wieder die trotzkistische Position zum Stalinismus in der UdSSR, revidierte sie aber bezüglich anderer stalinistischer Parteien. In seinen "Zehn Thesen" argumentierte er:

"Die widersprüchliche Rolle der Sowjetbürokratie wird in den stalinistischen Parteien nur zum Teil widergespiegelt. Der Doppelcharakter dieser Parteien ist von unterschiedlichem sozialen Ursprung; er fließt nicht aus der besonderen Rolle einer parasitären Bürokratie in einem Arbeiterstaat, sondern aus der Doppelfunktion dieser Parteien, die sowohl zur Arbeiterklasse gehören wegen ihrer Massenbasis in ihrem eigenen Land wie sie auch internationale Instrumente der sowjetischen Bürokratie sind ... Für den Kreml besteht die Nützlichkeit dieser Massenbasis ausschließlich in ihrem Dienst für seine diplomatischen Absichten. Aber diese Absichten schließen periodisch eine politische Linie mit ein, die den elementarsten Sehnsüchten der Massen diametral entgegengesetzt ist. Daraus folgt die Möglichkeit, daß die Kommunistischen Parteien von ihrer eigenen Basis überholt werden, die in der Aktion über die vom Kreml gesetzten Ziele hinausgehen und seiner Kontrolle entfliehen kann. Diese Möglichkeit ist immer eine der grundlegenden Perspektiven der trotzkistischen Bewegung gewesen." Für den Fall dieses Ereignisses hätten solche Parteien aufgehört, stalinistisch zu bleiben, behauptet Mandel.

Diese Analyse führt praktisch zu einer Kapitulation vor dem, was im Grunde stalinistische Parteien bleiben. Mandel nutzt die scheinbar orthodoxe Analyse des Stalinismus als widersprüchlich, um die wirkliche Natur des Stalinismus hinter einem falschen "Doppelcharakter" zu verbergen, einer schlechten Seite unter den Anordnungen des Kreml, einer guten unter dem Druck der Massen. Wenn letztere vorherrschend wird, verwandelt sich der Stalinismus in "Zentrismus" oder eine "empirisch revolutionäre Tendenz". Dies verfehlt vollständig, zu begreifen, warum der Stalinismus konterrevolutionär ist.

Wo immer ein Bruch mit dem Kreml stattfindet und die einheimischen Stalinisten einen Sturz des Kapitalismus durchführen, wie in Jugoslawien und China, ist dies von der Notwendigkeit zur Selbsterhaltung auf Seiten der schon etablierten Bürokratien dieser Parteien erzwungen, nicht als Resultat des Drucks ihrer Massenbasis. Wo solcher Druck einbezogen ist, spielt er nur eine sekundäre, zufällige Rolle und wird gewöhnlich von verstärkter Repression gegen die Massen begleitet. Während die Möglichkeit solcher Brüche innerhalb des Weltstalinismus tatsächlich immer Bestandteil der Perspektiven des Trotzkismus gewesen ist, war es der Glaube, daß Parteien, die mit der Kontrolle des Kreml brechen, damit aufhören, stalinistisch zu sein, nie.

Germain wandte seine Position auf die chinesische Revolution an. Mao wurde ein zweiter Tito. Die Position der chinesischen Trotzkisten zur Revolution von 1949, die Maos stalinistisches Volksfrontprojekt attackierten, wurde durch Germains Analyse der chinesischen Koalitionsregierung als "Arbeiter- und Bauernregierung", die dem jugoslawischen Weg folge, ersetzt:

"Viele Gründe gestatten uns, auf eine solche Entwicklung zu hoffen (eine Linkswende - die Redaktion). Mehr als jede andere Kommunistische Partei ist die chinesische KP verpflichtet gewesen, eine weniger bürokratische und zentralisierte Struktur zu bewahren, einen konstanten Stoffwechsel zwischen ihren eigenen Wünschen und Vorlieben und denen der Massen aufrechtzuerhalten. Die objektive Situation schiebt sie entlang dieses Wegs."

1977 behauptete Mandel weiter, die chinesische KP habe aufgehört, stalinistisch zu sein und tatsächlich die gesuchte Linkswende vollzogen: "Der Sieg der Dritten Chinesischen Revolution 1949 war die wichtigste Errungenschaft der Weltrevolution seit dem Sieg der Sozialistischen Oktoberrevolution."

Diese Einschätzung, die aus seiner falschen Analyse vom Doppelcharakter des Stalinismus stammte, ignoriert den massiven konterrevolutionären Rückschlag für die chinesische Arbeiterklasse, den diese Revolution einschloß. Seit 1949 haben die chinesischen Stalinisten die Massen von jeder realen politischen Macht ausgeschlossen, aber sie vielmehr als Kanonenfutter für ihre innerbürokratischen Fraktionskämpfe mißbraucht.

Die programmatische Logik dieser Analyse des Stalinismus in China (und Jugoslawien) war, zu Trotzkis Position von vor 1934 zurückzukehren; nämlich eine Position, die zur politischen Reform dieser stalinistischen Regimes aufruft. Die Kongreßresolution von 1954, die von Germain unterzeichnet (wenn nicht tatsächlich verfaßt) wurde, verwirft ausdrücklich die politische Revolution für China und Jugoslawien zusammen mit der Perspektive einer neuen Partei. Sie argumentiert statt dessen für die Schaffung von Räten als Form proletarischer Demokratie und für Fraktionen innerhalb der chinesischen und jugoslawischen KPen, deren Ziel sein sollte, die "zentristischen" Führungen dieser Parteien in einem demokratischen Reformprozeß zu ersetzen:

"Da beide, die chinesische und bis zu einem gewissen Grad auch die jugoslawische KP, in Wirklichkeit bürokratisch-zentristische Parteien sind, die sich jedoch selbst unter dem Druck der Revolution in ihren Ländern befinden, fordern wir das Proletariat dieser Länder nicht auf, neue revolutionäre Parteien zu konstituieren oder eine politische Revolution in diesen Ländern vorzubereiten."

Diese Position hatte den Vorteil der trotzkistischen "Orthodoxie" von vor 1934. Aber während Germain den Begriff auslieh, war sein Zweck, die historischen Errungenschaften von Trotzkis Analyse des Stalinismus nach 1934 auszuradieren. Mehr noch, Germains Position ignorierte die Realität, daß die Arbeiterklasse durch eine bürokratische Kaste politisch enteignet worden war. Sie mißachtete das Faktum, daß die herrschenden Parteien in allen Grundzügen das stalinistische Programm vom "Sozialismus in einem Land" praktizierten, die Unterdrückung jeglichen unabhängigen politischen Lebens für die Massen, die bürokratische Wirkungsweise des Plans, die Unterordnung der internationalen Revolution unter den strategischen Kuhhandel der Bürokratie mit dem Imperialismus usw.

1953 und danach: Programmatische Revisionen

Seit den 50er Jahren ist die brutale Wirklichkeit des Stalinismus auf Mandels Bewußtsein geschlagen und hat ihn zur Änderung seines Standpunktes über diese Länder geführt. Seine Methode jedoch bleibt exakt die gleiche, und das VSVI hat bei verschiedenen Anlässen Ersatz für China und Jugoslawien als nichtstalinistische Arbeiterstaaten gefunden: in Vietnam und auf Kuba.

Mit Hinblick auf Osteuropa war das Jahr 1954 Zeuge des Beginns eines neuen Stadiums der Revision der Vierten Internationalen am Programm der politischen Revolution. Die Krise des Stalinismus nach Stalins Tod und der ostdeutsche Arbeiteraufstand schleuderten die bonapartistische Clique im Kreml ins Wirrwarr und führten zu einer relativen Lockerung des Würgegriffs der Bürokratie auf das politische Leben der Massen Osteuropas. Mandel erkannte, daß die von Stalins Nachfolgern in der UdSSR und Osteuropa verkündeten Maßnahmen tatsächlich Maßnahmen der Selbstbehauptung waren, Zugeständnisse, um Zeit zum geordneten Rückzug zu erkaufen.

Nichtsdestotrotz argumentierte er, daß das Rumoren in Osteuropa Aussichten auf Risse in den nationalen KPen eröffnete mit einem Sektor (definiert als "am dichtesten an den Massen befindlich"), der sich selbst an die Spitze des Kampfs für politische Revolution stelle. Während die Brüche aufgetaucht sind, ging Mandel weiter und argumentierte, das Programm des IS solle sich darauf konzentrieren, solch eine Spaltung weiterzutreiben als bestes Mittel zum Erreichen der politischen Revolution. Zu diesem Behuf wurde eine Entrismustaktik befürwortet, und das vordringlich behandelte Programm für die politische Revolution wurde auf den Ruf nach einer Reihe Reformen reduziert, die schmackhaft für eine potentiell revolutionäre Sektion der Bürokratie wäre:

"1. Freiheit für politische Gefangene der Arbeiterbewegung.

2. Abschaffung aller repressiven Arbeitsgesetze.

3. Demokratisierung der Arbeiterparteien und -organisationen.

4. Legalisierung aller Arbeiterparteien und -organisationen.

5. Wahl und demokratisches Fungieren von Massenkomitees.

6. Unabhängigkeit der Gewerkschaften in der Beziehung zur Regierung.

7. Demokratische Ausarbeitung des Wirtschaftsplans von den Massen für die Massen.

8. Effektives Recht auf Selbstbestimmung für die Völker."

Das Programm versagt darin, diese Forderungen mit dem Kampf für den Umsturz der Bürokratie und die Etablierung echter Arbeitermacht zu verbinden. In Wahrheit wurden Forderungen nach diesem Aktionskurs nicht erhoben genau wegen der neuen Sichtweise des IS von der Bürokratie, als beherberge sie potentiell zentristische Elemente.

Zwischen 1954 und dem Fünften Weltkongreß 1957 ereigneten sich weitere enorme Erhebungen in den degenerierten Arbeiterstaaten und der UdSSR. Die "Geheimrede" Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU und die darauf folgenden Zugeständnisse, der revolutionäre Aufstand gegen die Bürokratie in Ungarn und Polen - alles im Jahre 1956 - machten einen tiefen Eindruck auf die Perspektiven des IS. Mandel hielt auf dem Kongreß den Bericht über die Krise innerhalb des Stalinismus. Die Reaktionen der KPJu und der KPCh, obwohl ungleich, hielt man für fortschrittlich und bekräftigte die Reformperspektive.

Doch ein größerer Wandel in der Orientierung zur Pufferzone und der UdSSR wurde von Mandel hervorgehoben. Für ihn und die Führung des IS hatten die ungarischen und polnischen Ereignisse bewiesen, daß ein Flügel der Bürokratie dem Weg Titos und Maos folgen würde - in Ungarn Nagy, in Polen Gomulka. In der UdSSR wurde die "zentristische" Fraktion um Chruschtschow von Malenko und Mikojan auf der Linken bedrängt, die, wenngleich nicht von der Sorte Nagys oder Gomulkas waren, so doch die Erscheinung einer solchen Tendenz vorahnen ließen.

Im Streben, die Entwicklung solcher Tendenzen in der Bürokratie zu erleichtern, wurde das Programm der politischen Revolution für Osteuropa und die UdSSR vollständig revidiert. Da die Aussicht auf politische Revolution als von einem Sektor oder Flügel der Bürokratie abhängig betrachtet wurde, konnten Sowjets keine Kampforgane gegen die Bürokratie darstellen. Politische Revolution wurde eingeschätzt (d.h. wurde ersetzt) als Konkurrenzkampf zwischen einer "Fraktion der Vierten Internationale" und dem Rest der Bürokratie um die Führung der Arbeiterklasse.

Von diesem Punkt an geht die Vorstellung von Arbeiterräten oder Sowjets als Kampforgane verloren und wird ersetzt durch das Konzept von Sowjets als Organe der Administration, um die Massen ins demokratische Leben einzubringen, am Plan teilzunehmen. Die politische Revolution wird somit zurechtgestutzt auf das friedliche Verschwinden der bürokratischen Kaste.

Dieses Programm für politische "Revolution" taucht vom 5. Weltkongreß an als vereinheitlichte Strategie für alle Arbeiterstaaten auf. Es war nur eine Frage der Leichtigkeit und Geschwindigkeit, mit der die objektive Krise innerhalb des Stalinismus die notwendigen Tendenzen und Spaltungen in den Bürokratien erzeugen würde.

1961 wiederholten der 6. Kongreß und 1963 der Vereinigungskongreß nur diese gleichen Formeln und fügten dem programmatisch nichts Neues hinzu.

Während der letzten Dekade hat Mandel das Programm der politischen Revolution weiter revidiert. Wie wir gezeigt haben, verfälschte er es zuerst, indem er die Sowjets ihrer Funktion als Kampforgane gegen die Bürokratie entleerte. Zu dieser Zeit (1957) war er sich noch darüber im Klaren, daß Sowjets wenigstens die Diktatur der Arbeiterklasse gegen die Restaurationisten ausüben sollten. Aber in den 70er Jahren tauchte ein sozialdemokratischer Flügel in den stalinistischen Parteien auf - der "Eurokommunismus" -, der Bolschewismus mit Stalinismus identifizierte und größeren Gebrauch von bürgerlich parlamentarischen Institutionen als Garanten gegen die "natürliche Tendenz" zu diktatorisch/bürokratischem Mißbrauch befürwortete, die nach dieser Annahme die Herrschaft von Sowjets begleitet.

Während Mandel solche Konzeptionen angegriffen hat, hat er ungerechtfertigte Zugeständnisse an diesen Flügel des Stalinismus gemacht. Das tat er, indem er akzeptierte, die Sowjets müßten Vertreter der Bourgeoisie zumindestens in der Übergangsphase einschließen, wenn nicht schon während des Kampfes um die politische Macht. Mandel weist ausdrücklich Lenins und Trotzkis Rechtfertigungen für solchen Ausschluß zurück - eine Rechtfertigung, die er in früheren Jahren akzeptierte.

Kurz, Mandel löscht in seinen "Thesen über sozialistische Demokratie und die Diktatur des Proletariats", die 1979 auf dem Weltkongreß des VS verabschiedet wurden, den Unterdrückungscharakter der Arbeiterdiktatur aus, ähnlich wie Kautskys Leugnung des Unterdrückungscharakters aller politischer Formen der Diktatur der Bourgeoisie. Auf das Programm für politische Revolution angewandt, kann dies nur Unterstützung für offene Restaurateure oder konterrevolutionäre stalinistische Bürokraten - eingeschworenen Feinden des Proletariats - in den Arbeiterräten bedeuten.

Mandels ökonomische Revisionen

Mandels politische Perspektive ist mit seinem ökonomischen Verständnis der Sowjetunion und der von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten zuinnerst verbunden. Mandel legte seine Grundposition in "Marxistische Wirtschaftstheorie" dar. Obwohl nicht unkritisch, präsentiert er ein Bild der Sowjetwirtschaft als einer stets expandierenden:

"Dieser Fortschritt kann nicht durch die enorme Rückständigkeit erklärt werden, die sie im Vergleich zur Industrie der entwickeltsten kapitalistischen Länder zu überwinden hatte. Er hat angedauert, nachdem diese Rückständigkeit schon im großen und ganzen überwunden worden ist. Dieser Fortschritt schreitet geschwind voran, besonders in Richtung Vermehrung und Modernisierung des Bestands des Landes an Maschinen und des Strebens, die Produktion zu automatisieren."

Dieser Prozeß ist für Mandel Beweis für die Überlegenheit der Planwirtschaft über die kapitalistische Anarchie. Er erkennt jedoch an, daß das unternehmerische Selbstinteresse und die bürokratische Rolle des Staats - es führt zum Hyperzentralismus - als Fessel der Planwirtschaft agieren, besonders in der Produktionssphäre der Konsumgüter. Aber während Mandel akzeptiert, daß die Bürokratie als Hemmschuh wirkt, glaubt er nicht, daß sie die Wirkungsweise des Plans untergräbt und droht, ihn zurückzuwerfen, dadurch den Weg für die kapitalistische Restauration zu eröffnen. Wie dies mit seiner Analyse Kampucheas (Kambodschas; Übers.) in Einklang steht, das eine auf den Weg zurückgeworfene Planwirtschaft war, hat er sich nie zu erläutern herabgelassen.

Die Planwirtschaft der UdSSR ist nicht widerspruchsfrei, und der Hauptwiderspruch für den "orthodoxen" Mandel ist der, auf den Marx verwies; er existiere unweigerlich in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus:

"In der Tat ist die Sowjetökonomie gekennzeichnet durch die widersprüchliche Kombination einer nichtkapitalistischen Produktionsweise mit einer noch grundlegend bürgerlichen Verteilungsweise. Solch widerspruchsvolle Kombination zeigt auf ein Wirtschaftssystem, das schon über den Kapitalismus hinausgegangen ist, aber noch nicht den Sozialismus erreicht hat, ein System, das durch eine Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus schreitet, während der, wie Lenin schon gezeigt hat, die Ökonomie unausbleiblich Merkmale der Vergangenheit mit Eigenschaften der Zukunft verbindet."

In einer Arbeit von 1979 arbeitete Mandel diesen Punkt weiter aus: "Nur weil ein Übergang komplexer und - paradox gesagt - weniger dynamisch ist, weil er weniger schnell voranschreitet denn erwartet, besteht kein Grund zu sagen, daß er kein Übergang sei." So wie Planung ist ein weiteres Merkmal in Mandels Analyse der UdSSR, daß sie eine Übergangsgesellschaft im klassisch marxistischen Sinne sei.

Ein weiteres Element seiner Analyse kann in seiner Position zur Sowjetbürokratie festgestellt werden. Er betrachtet sie als Ganze objektiv schwächer werdend, sogar überflüssig, wenn die Produktivkräfte wachsen, da ihre gesellschaftliche Rolle als Schiedsrichterin in der Verteilung knapper Güter nachläßt, wenn die Produktion zunimmt. Das im Einklang damit stehende Wachstum der Arbeiterklasse ist ein weiterer objektiver Faktor, der gegen die Bürokratie wirkt. Den Kern seiner Position entwickelte er 1952: "Das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte ist mit bürokratischem Management unvereinbar geworden." Wieder einmal hat diese Position den Vorteil von Orthodoxie. Sie beginnt mit Trotzkis Prognose des Stalinismus als Regime der Krise und unausweichlich seine eigenen Totengräber schaffend. Die 50er und 60er Jahre hindurch fügte Mandel jedoch seine eigenen Prognosen dieser Orthodoxie hinzu und baute darauf ständige Voraussagen von sich entwickelnden zentristischen/reformerischen Flügeln der Bürokratie, die er im Gegenzug als Indiz für seine grundlegend "objektivistische" Sichtweise der Krise der Bürokratie zitierte.

Zusammengenommen begründen Mandels Positionen zur Planung, dem Übergang und der Bürokratie ein gründlich falsches, nicht revolutionär-marxistisches Verständnis der ökonomischen und politischen Natur der UdSSR und der von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten. Sie legten die Grundlage für seine Zurechtstutzung des Programms für politische Revolution auf eine Reihe struktureller Reformen, die möglicherweise im Bündnis mit einem Flügel der Bürokratie ausgeführt werden können.

Mandels Erklärung des Fortschritts der Sowjetökonomie basiert auf einem einseitigen Verständnis der Planwirtschaft, die den bürokratischen und blinden Charakter des Plans selbst ignoriert. Indem er diesem bürokratischen Planwerk die Fähigkeit schrankenlosen Wirtschaftswachstums zuschreibt (obwohl zu einer langsameren Rate, als mit einem demokratischen Plan möglich wäre), übersieht Mandel die Existenz einer Reihe inhärenter Widersprüche, unter der die Planwirtschaften der UdSSR und der von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten leiden.

Laut Mandel unterhöhlt die Bürokratie die Effektivität, aber nicht die Existenz des Plans. Nach seiner Ansicht sind die Hauptbedrohungen äußerlich: Imperialismus und Widerspruch Plan/Markt innerhalb der Arbeiterstaaten.

Aber diese Bedrohungen würden unvermeidlich auch gegenüber einem gesunden Arbeiterstaat existieren. Die Probleme, vor denen sich die Planökonomien der UdSSR und der von Anfang an degenerierten Arbeiterstaaten befinden, sind anderer Art. Polen, Jugoslawien, China, die UdSSR selbst und andere Arbeiterstaaten haben alle unter ernsten Wirtschaftskrisen gelitten, die Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen mit sich brachten; alles Eigenschaften, die, so unterstellt Mandel, in diesen Ländern verschwunden seien. Natürlich verschleiert die Bürokratie (wie Mandel) solche Krisen mittels Zahlen, die rundum Wirtschaftswachstum zeigen. Nichtsdestoweniger ist dieses Wachstum zunehmend künstlich, weil es unterhalb einer politischen Revolution kein qualitatives ökonomisches Wachstum ist und sein kann. Der bürokratische Plan hat sich als unfähig erwiesen, die besten wirtschaftlichen und technischen Errungenschaften des Kapitalismus zu übertreffen. Er hinkt hinter der weltgrößten imperialistischen Macht, den USA, zurück. Dies ist unvermeidbares Ergebnis der inneren Planwidersprüche - seiner Unfähigkeit, die Kreativität der Massen zu mobilisieren, seine Tendenz, die Kluft zwischen den Wirtschaftsbranchen und die Ungleichheit zu erhöhen usw.

Die Dynamik des Plans, die existiert (und in der Industrialisierung rückständiger Länder gezeigt wurde), ist streng auf die Aufgabe, zum Kapitalismus aufzuschließen, begrenzt. Perioden wirtschaftlichen Wachstums in den Planökonomien sind jene, in denen die Bürokratie die Industrie aufbaut, indem sie die industriellen Errungenschaften der kapitalistischen Länder kopiert, wie Trotzki in "Die verratene Revolution" aufzeigte. Während dies degenerierte Arbeiterstaaten vom Joch des Imperialismus befreit und Wachstumsraten erleichtert, die in imperialisierten Ländern undenkbar wären, befähigt er diese Wirtschaften nicht, die für den Sozialismus notwendige materielle Basis zu schaffen.

Dies deshalb, weil der Plan nicht lediglich durch externe Faktoren bedroht ist. Er ist bedroht durch die Kaste, die ihn politisch kontrolliert - die Bürokratie. Trotzki war sich darüber im Klaren in einer Periode, als das ökonomische Wachstum der UdSSR Mitläufer und Feinde gleichermaßen blendete: "Während das industrielle Wachstum und das Hineinbringen der Landwirtschaft in die Sphäre staatlicher Planung die Aufgabe der Führung stark verkompliziert, das Problem der Qualität in den Vordergrund schiebt, zerstört der Bürokratismus die schöpferische Initiative und das Verantwortungsgefühl, ohne die es keinen qualitativen Fortschritt gibt und geben kann."

Mit anderen Worten, Bürokratismus ist nicht einfach eine ineffiziente Fessel für das Funktionieren der Planwirtschaft. Er blockiert und bedroht in Wirklichkeit die Existenz der Planwirtschaft.

Mandels Unfähigkeit, dies zu sehen, sein ergebenes Weiterverbreiten amtlicher sowjetischer Zahlen, um seine Sache zu beweisen, all das hängt mit seiner Position zur "Übergangsfrage" zusammen. Zu akzeptieren, die Sowjetunion sei eine Übergangsgesellschaft, bedeutet notwendigerweise, zu akzeptieren, daß sie sich noch auf den Sozialismus zubewegt. Mandel argumentiert, daß dem so ist, aber mit geringerer Geschwindigkeit als von früheren Marxisten angenommen. Eingedenk der Orthodoxie in dieser Frage rechtfertigt Mandel seine Position, indem er argumentiert:

"Zuerst einmal gibt es keine 'marxistische Tradition' zu diesem Thema im wirklichen Sinn des Wortes." Im Gegenteil! Marx, Engels und die Bolschewiken waren sich über die entscheidenden Aspekte der Übergangsgesellschaft und des notwendigen Programms, um den Übergang zum Sozialismus hin zu lenken, im Klaren (siehe den Abschnitt zum Übergang; hier nicht übersetzt; d. Ü.). Abgesehen von der ökonomischen Enteignung der Bourgeoisie existieren diese Aspekte weder in der UdSSR noch in irgendeinem anderen degenerierten Arbeiterstaat. Alle politischen Charaktermerkmale einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus sind zerschmettert worden außer jenen, die Überbleibsel der alten, korrupten kapitalistischen Vergangenheit darstellen. Diese Eigenschaften hat die Bürokratie gierig entwickelt!

Mit anderen Worten, in diesen nachkapitalistischen Gesellschaften ist der Übergang (vom Kapitalismus zum Kommunismus) im marxistischen Sinn durch die Bürokratie blockiert und ins Gegenteil verkehrt worden. Diese Staaten degenerieren rückwärts, in Richtung Kapitalismus, ein Prozeß, der nur durch eine tatsächliche soziale Konterrevolution vervollständigt werden kann. Um die Transformation neu zu beginnen, ist eine politische Revolution erforderlich. Widersprüche werden nach dem Sieg der Revolution weiterexistieren, aber die politische Herrschaft der Bürokratie, die die Flammen dieser Widersprüche anfacht und deren Lösung durch die Arbeiter verhindert, wird es nicht.

Die ständige Aufwärtsentwicklung der Planwirtschaft, die Mandel in seinen Schriften als Beleg für den anhaltenden "Übergangscharakter" der UdSSR minutiös schildert, erleichtert seine Interpretation des nahe bevorstehenden Schicksals der Bürokratie. Um seine alte Position zu Jugoslawien zu rechtfertigen, war Pablo gezwungen, eine andere Erklärung der Macht der Bürokratie anzubieten als diejenige, die Trotzki vorbrachte.

Trotzki war sich darüber im Klaren, daß die funktionellen Wurzeln der Bürokratie in der Rückständigkeit Rußlands und der Güterknappheit lagen, die solche Rückständigkeit mit sich brachte. Die Bürokratie erhob sich als Gendarm über die Verteilung knapper Güter. Jedoch wurde die Natur der Bürokratie qualitativ umgewandelt von einem Agenten der Arbeiterräte, als sie die politische Macht usurpierte und in ihrem eigenen Interesse ausübte und dabei die Avantgarde der Arbeiterklasse in diesem Prozeß zerschlug, die Linke Opposition der Partei.

Pablo ignorierte die politische Natur der Bürokratie, in die dieser Prozeß mündete (d.h. ihre konterrevolutionäre Natur) und analysierte stalinistische Bürokratien rein vom Standpunkt ihrer funktionellen Wurzeln. Er war durch die Kolonialrevolutionen überzeugt worden, daß die Weltrevolution sich von der Peripherie (zurückgebliebene Länder) aus zum Zentrum (fortgeschrittene Länder) verbreiten würde. Deshalb, so folgerte er, wären bürokratische Deformationen noch für eine gewisse Zeit ein unvermeidliches, ja notwendiges Übel von Übergangsgesellschaften. So wie sich jedoch die Produktivkräfte entwickelten und die Weltrevolution ausbreitete, verschwände die materielle Basis dieser Bürokratien wie die Bürokratien selbst. Dies ließ geflissentlich die Notwendigkeit für politische Revolution gegen die konterrevolutionäre Bürokratie, die in jeder auf der Erde existierenden postkapitalistischen Gesellschaft regiert, außen vor. Pablo erklärte seine revisionistische Position in Polemiken mit keiner geringeren Person als Ernest Germain:

"Somit werden wir in der Geschichtsepoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus Zeuge des Aufstiegs nicht von normalen Arbeiterstaaten werden, sondern von mehr oder weniger degenerierten Arbeiterstaaten, d.h. Staaten mit starken bürokratischen Deformationen, die den Punkt kompletter politischer Enteignung des Proletariats erreichen können." Aber Pablo verzweifelte nicht ob dieser Aussichten, weil der Vorwärtsmarsch der deformierten Revolution durch die objektive Situation garantiert sei und mit ihm das Absterben der Entartungen.

Mandels Position zur Bürokratie ist geradewegs von seinem einstigen Widersacher und langjährigem Meister, Pablo, übernommen. Der Plan garantiert Wachstum. Das Wachstum garantiert, daß das Proletariat in Umfang und Kultur anwächst und daß die Bürokratie schwächer wird. Wenn in Krisenzeiten ein Sektor der Bürokratie mit diesem Widerspruch akut konfrontiert werden wird, wird sie sich näher an die Massen heran bewegen und eine führende Kraft in diesem Prozeß (Mandels Lieblingswort) der politischen Revolution werden. In der Tat impliziert Mandel manchmal, daß der Prozeß schon qualitative Sprünge nach vorn gemacht habe:

"Kann man sagen, daß die Sowjetunion, in der Oppositionelle nur in Gulag-Lagern gefunden werden konnten und die Sowjetunion heute, mit ihrem Gärungsstoff von politischen Strömungen, Samizdat und Diskussionen auf allen Arten von Ebenen (nicht nur unter Intellektuellen, sondern auch in den Gewerkschaften), ein und dasselbe sind?"

Trotzkisten erkennen, daß die Macht der Bürokratie durch die Arbeiterklasse entscheidend zerschlagen werden muß, damit ein wirklicher Wandel in der UdSSR und den anderen degenerierten Arbeiterstaaten stattfinden kann. Deshalb wäre die Antwort auf Mandels Frage - die aus seinem krassen Opportunismus fließt - JA, die Sowjetunion heute ist im Grunde die gleiche wie die Sowjetunion unter Stalin. Sie bleibt das Land der bürokratischen Tyrannei über die Arbeiter.

In seiner längst vergessenen Polemik gegen Pablo in den 40er Jahren argumentierte der junge und unbesonnene Germain vehement:

"Jede Revision, sowohl gegenwärtig wie retrospektiv, der Resultate dieser Analyse (der Pufferzone als kapitalistische Staaten - d. Red.), die eine Revision der benutzten Kriterien und eine Revision der marxistischen Staatstheorie impliziert, könnte nur verheerende Folgen für die Vierte Internationale haben."

Zu dieser Zeit hatte Mandel unrecht mit seiner Charakterisierung Osteuropas, aber recht in seiner Abschätzung der Gefahren von Pablos Position. Nachdem er jedoch 1951 geschlagen worden war, verbrachte Mandel über 30 Jahre damit, eine theoretische Rechtfertigung für diese "verheerenden Konsequenzen" mit einer Spitzfindigkeit und Lebendigkeit zu liefern, zu der Pablo nicht in der Lage war. Seine Verantwortung für die Zerstörung der internationalen trotzkistischen Bewegung als revolutionäre Kraft ist weit schwerwiegender als Pablos. Und sie dauert bis in die Gegenwart fort. Authentischer Trotzkismus hat keinen Raum für Mandels "orthodoxes" Gebräu - es ist eine Verhöhnung des Marxismus von Marx, Engels, Lenin und Trotzki.

Hansen und Kuba

In der Spaltung der Vierten Internationalen 1953 stand die Analyse des Stalinismus, von Pablo entwickelt und von Germain (Mandel) verfeinert und modifiziert, nicht wirklich zur Disposition. Nachdem deshalb das unmittelbar taktisch umstrittene Thema - Orientierung auf nationale stalinistische Parteien - irrelevant geworden war, wurde die Vereinigung des Internationalen Sekretariats mit dem Internationalen Komitee wieder möglich. Die kubanische Revolution zeigte, daß Mandels Theorien einen Anwalt innerhalb der Socialist Workers Party der USA besaßen. Sein Name war Joseph Hansen.

Ende 1949 tauchte Hansen als Hauptprotagonist in der Debatte über Osteuropa auf, der eine Linie vertrat, die sehr nahe an der von Pablo verteidigten lag. Gegen jene, die fortfuhren, Jugoslawien und Osteuropa als "kapitalistische Staaten auf dem Weg zu struktureller Assimilierung" zu betrachten, hauptsächlich Germain (Mandel) und der SWP(US)-Theoretiker John G. Wright argumentierte Hansen:

"Dieser degenerierte Arbeiterstaat (die UdSSR - d. Red.), der über die am Schluß des 1. Weltkriegs festgelegten Grenzen schwappt, hat die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Osteuropa umgestoßen und Formationen emporkommen lassen, die ziemlich häufig Duplikate der UdSSR sind."

Hansen beobachtete, daß die europäischen und amerikanischen Opponenten von Pablos grobem Impressionismus mit den "Normen" von Trotzkis Programm rangen - Bürgerkrieg, direkte Massenaktionen, Räte, wirkliche Planung. Sie versuchten, dieses Programm gegen die Revisionen, die eingeführt würden, wenn man diese erbärmlichen stalinistischen Monster als Arbeiterstaaten akzeptieren würde, zu verteidigen. Hansen jedoch hegte keine solchen Befürchtungen und verspottete gnadenlos ihre "normative" Methode mit Zitaten von Trotzki. Er konnte sie leicht in Widersprüchen ihrer eigenen verwirrten Dialektik ertappen. Schließlich existierten 1949 der Kapitalismus und die Kapitalisten in Osteuropa spürbar nicht mehr. Hier konnte ein guter amerikanischer Pragmatiker, ungehindert durch "dialektisches" Gepäck, durchblicken und sagen, daß "der Kaiser keine Kleider anhatte".

In seiner Einschätzung lag Hansen nicht falsch. Er nutzte die empirische Gewitztheit, die er später auf Kuba anwandte. Gegen die, welche alle Arten von neuen Kriterien für die Existenz von Arbeiterstaaten erfanden, bestand Hansen darauf:

"Meiner Meinung nach müssen wir in einem Land, wo die Herrschaft der Bourgeoisie zerbrochen ist und die Hauptsektoren der Wirtschaft verstaatlicht worden sind, den Staat unter die allgemeine Kategorie 'Arbeiterstaat' einordnen, egal, wie weit oder monströs er von unseren Normen abweicht. Dieser Wandel kann nicht ohne Bürgerkrieg stattfinden, obwohl dieser Bürgerkrieg eine Verstümmelung des Typischen sein kann, die in wichtiger Hinsicht von unseren Normen abweicht."

Diese Position enthielt zwei grundlegende Irrtümer, die die Basis für Hansens Annahme von Pablos Revisionismus zu Jugoslawien und seine eigene Anwendung dieses Revisionismus (auf die kubanischen Ereignisse) legten. Hansen liegt falsch, die politische Enteignung der Bourgeoisie und ausgedehnte Nationalisierung mit der Einrichtung nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse in eins zu setzen. Osteuropa zwischen 1944 und 1948 zeigte Fälle, wo die politische Macht der Bourgeoisie gebrochen wurde (im wesentlichen war ihre Kontrolle über die bewaffneten Körperschaften, die ihr Eigentum verteidigten, verlorengegangen), die Wirtschaft verstaatlicht war, die Stalinisten sich an der Macht befanden und doch diese Länder (z.B. Polen und Ostdeutschland) kapitalistisch blieben. Damit Hansen schlüssig blieb, hätte er die Schaffung von Arbeiterstaaten in diesen Ländern zwischen 1944 und 1946 datieren müssen - eine Position, die er nicht einnahm. Somit ermöglichte sein Empirismus 1949 weder, herauszuschälen, was der bestimmende Aspekt der Arbeiterstaaten war, noch mit welchen Mitteln sie geschaffen wurden. Wie wir gezeigt haben, waren die politische Enteignung der Bourgeoisie und Nationalisierung Vorbedingungen für die Bildung eines degenerierten Arbeiterstaats. Aber erst wenn die Ökonomien auf der Grundlage der Unterdrückung des Wertgesetzes dem Plan unterworfen wurden, können wir davon reden, daß degenerierte Arbeiterstaaten errichtet worden sind.

Hansens zweiter Irrtum, einer, den er mit seinen Opponenten 1949 teilte, war sein Insistieren auf der Notwendigkeit von "Bürgerkrieg" für die Etablierung degenerierter Arbeiterstaaten. Obwohl er akzeptiert, daß solche Bürgerkriege von "verstümmeltem" Charakter sein können, argumentiert er doch: "Umwandlung in den Eigentumsverhältnissen kann ohne revolutionäre Massenmobilisierung nicht vorkommen."

Aber Hansens Datierung solcher Mobilisierungen führt ihn zu der Zeit des Einmarsches der Roten Armee zurück, nicht zu den tatsächlichen Zeiten dieser Umwandlungen. Genau weil die Arbeiterstaaten von Geburt an degeneriert sind, kann ihre Gründung unter speziellen Umständen vollendet werden, ohne die revolutionäre Massenmobilisierung durch eine stalinistische Bürokratie. Selbst wo Mobilisierungen stattfinden, bleiben sie, wie die Tschechoslowakei gezeigt hat, vollständig von den Stalinisten bürokratisch kontrolliert. Keine Organe der demokratischen Arbeitermacht - Sowjets - werden gebildet. Während Hansen in seinem Dokument von 1949 "Das Problem Osteuropas" jene attackiert, die einen "normativen" Begriff des Bürgerkriegs hegen, muß gesagt werden, daß seine Alternative wirklich darin besteht, mit einem idealistischen Begriff von Bürgerkrieg zu operieren. Das heißt, er ist gezwungen, Bürgerkriege zu erfinden, wo keine stattfanden.

Die wirkliche Schwäche dieser Methode wurde enthüllt, als sie auf Jugoslawien angewandt wurde. Hier gab es einen ziemlich "normalen" Bürgerkrieg trotz einer Führung "mit stalinistischem Ursprung", wie es Pablo später formulierte. Solch ein Krieg ist essentiell für die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse. Somit führte der jugoslawische Bürgerkrieg zu einem Arbeiterstaat, bevor es im restlichen Osteuropa eintrat. Weil weiters der Bürgerkrieg nur leicht von der Norm abwich, mußte somit der jugoslawische Arbeiterstaat nur leicht von der Norm abgewichen sein. Das heißt, Hansens Methode brachte ihn um 1951 dazu, zuzugestehen, daß die jugoslawische Revolution und der Arbeiterstaat, den sie schuf, nur quantitativ von der Norm abwichen, nicht qualitativ.

Hansen lehnte die normative Methode ab, aber nicht vom Standpunkt der echt materialistischen Methode aus, die gewichten kann, was die Abweichungen von der Norm bedeuten. Hansen lehnte die "Normen" - Räte, Arbeiterdemokratie, direkte Beteiligung der Massen an ihrer eigenen Emanzipation - effektiv als "zweitrangige", "nicht grundlegende" oder lediglich "formale" Fragen ab. Das volle Erblühen von Hansens Pragmatismus fand zu Kuba statt.

1960 ging Hansen einen Schritt darin weiter, die Methode wieder anzuwenden, die diese liquidatorischen Schlußfolgerungen bezüglich Tito hervorgebracht hatte. Die Anpassung an den Castroismus kopierte die Kapitulation vorm Titoismus. Diese Methode war nicht in der Lage, den kleinbürgerlichen "Antiimperialismus" und Stalinismus zu bekämpfen und machte 22 Jahre später ihre Gefolgsleute blind für die Notwendigkeit einer politischen Revolution.

Nichtsdestotrotz registrierte Hansen empirisch die entscheidenden politischen und "ökonomischen" Ereignisse und selbst Stadien der kubanischen Revolution.

Darin behielt er den Vorsprung vor seinen "antipabloistischen" Kritikern. So konstruierten Mage, Wohlforth, Healy alle leblose, abstrakte und idealistische Schemata, - klassenloser "Übergangsstaat", "strukturelle Assimilierung", "kapitalistischer Staat" - die nicht nur ernsthafte Revisionen der marxistischen Staatstheorie mit sich brachten, sondern ihre Autoren gegenüber den Hauptereignissen und -wendepunkten der kubanischen Revolution blendeten. Hansens Bewertung der Bedeutung der kubanischen Revolution jedoch war nichtsdestoweniger hoffungslos schiffbrüchig, wenn es um die Einschätzung politischer Tendenzen, Regierungen und daraus folgender Strategien und Taktiken für die proletarische Avantgarde ging, während sie in der Lage war, die Brüche mit dem Imperialismus und der kubanischen Bourgeoisie, die Wichtigkeit der materiellen Bindeglieder zur UdSSR und die Enteignung des kapitalistischen Besitzes zu begreifen.

Während Hansen sein Herangehen auf der Analyse des Titoismus der Vierten Internationale 1948-1950 aufbaute, tauchte als "neues" Problem die nichtstalinistischen Ursprünge der Bewegung des 26. Juli (B26J), in der Tat ihre nichtproletarischen Wurzeln sowohl in politischen wie sozialen Begriffen auf.

Hansen argumentierte, die Bewegung Castros sei eine radikal kleinbürgerliche Bewegung mit einem bürgerlich-demokratischen Programm. Ihr Programm versprach tiefgreifende Landreform und Industrialisierung, um Kubas abhängigen Status gegenüber den USA aufzubrechen. Die Castroisten standen jedoch ernsthaft zu ihrem Programm und bestanden prinzipiell auf "revolutionären Methoden", um Batista hinauszuschmeißen.

Während der Phase des Bürgerkriegs in der Sierra Maestra mobilisierte Castro die armen Bauern und das Landproletariat, "den entscheidenden Sektor der kubanischen Arbeiterklasse", und durch Umkehrwirkung dieses Handelns wurden die Führer der B26J in ihrer "Zielvorstellung verändert". Die städtischen Arbeiter auf der anderen Seite erwiesen sich als unfähig, ihre Macht in diesem Stadium zum Tragen zu bringen, und schlossen sich später Castro an.

Castro zerstörte Batistas Streitkräfte und ergriff im Januar 1959 die Macht; damit leitete er einen Prozeß der Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschinerie ein. Es war eine "politische Volksrevolution", aber "schien auf demokratische Ziele beschränkt zu sein." Die Regierung war eine Koalition mit bedeutenden bürgerlich demokratischen Elementen. Der Versuch, die Agrarreform und andere Maßnahmen durchzuführen, führte zu einem Zusammenstoß mit dem US-Imperialismus und seinen kubanischen Werkzeugen. Castro brach mit der Bourgeoisie, schloß ihre Repräsentanten aus der Regierung aus und bildete "eine Arbeiter- und Bauernregierung" (Herbst 1959).

Kubas Arbeiter- und Bauernregierung konnte als solche bezeichnet werden wegen ihres festen Widerstands gegen den Imperialismus und seine kubanischen Agenten, ihrer resoluten Verfolgung der Agrarreform, ihrer Entwaffnung der Reaktion und Bewaffnung des Volkes, ihrer Durchführung von Maßnahmen für die Arbeiterklasse auf Kosten der Bourgeoisie; ihr Konflikt mit dem Imperialismus zwang sie, zunehmend radikale Maßnahmen zu ergreifen.

Die Periode der Arbeiter- und Bauernregierung wurde Ende 1960 mit der Errichtung eines Arbeiterstaats abgeschlossen. Die entscheidenden Maßnahmen waren: Einrichtung eines Außenhandelsmonopols, Verstaatlichung des Großgrundbesitzes, Enteignung aller Holdings im Besitz des US- und kubanischen Kapitals in allen Schlüsselsektoren der Wirtschaft. Dieser Prozeß wurde in der Periode um August 1960 herum vollendet und Hansen konnte darum verkünden, daß "die Planung nun (Dezember 1960) fest etabliert ist." Nach seiner Ansicht entwickelte sich die Planung "verbunden mit der Nationalisierung der Industrie." Die Vorgangsweise für die Planung der Wirtschaft beruhte auf einer Studie der UdSSR und Osteuropas, und "damit ist die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in letzter Analyse ein Echo der Oktoberrevolution in Rußland."

Die Castro-Bewegung und der Staat, den sie geschaffen hatte, wiesen jedoch "einzigartige" Züge auf. Der kubanische Arbeiterstaat war weder degeneriert noch deformiert, tatsächlich "sah er ziemlich gut aus". Jedoch "mangelte es ihnen bis jetzt an Formen demokratischer proletarischer Herrschaft." Obwohl, wenn sie sich frei entwickeln sollten, "ihre demokratische Tendenz zweifellos zur frühzeitigen Bildung proletarischer demokratischer Formen führen würde." Es gab deshalb keine bürokratischen Hindernisse für den Vormarsch zum Sozialismus auf Kuba oder die internationale Ausbreitung der Revolution. Die Castro-Führung demonstrierte im Verlauf der Revolution durch ihr Versagen, "sozialistische Ziele zu proklamieren", daß "der subjektive Faktor in der Revolution unklar blieb".

Nichtsdestotrotz war die Strömung um Castro empirisch revolutionär und vor allem nicht stalinistisch – "ein Fakt von weltweiter Bedeutung". Der nichtstalinistische und in der Tat tiefgehend demokratische Grundgehalt des Castroismus bedeutete, daß die kubanische KP selbst von ihrem Erbe des Stalinismus gesäubert werden konnte. Es war deshalb nicht notwendig, programmatisch den Trotzkismus dem Castroismus gegenüberzustellen, weil nicht die Notwendigkeit existierte, eine separate trotzkistische Partei aufzubauen. Hansen lehnte deshalb die politische Revolution und eine trotzkistische Partei für Kuba ab. Er führt außergewöhnliche Gründe an, um zu erklären, warum eine trotzkistische Führung nicht notwendig ist; der Kapitalismus sei schwächer in den imperialisierten Ländern und dort würde eine "sozialistisch gesinnte" Führung genügen wegen der Stärke des objektiv revolutionären Prozesses.

Hansen macht das trotzkistische Programm überflüssig

Hansens Analyse ist in ihren programmatischen Schlüssen gründlich liquidatorisch. In erster Linie dadurch, daß er die Aufgaben einer revolutionären kommunistischen Partei, die eine in bewaffneten, demokratischen Organen direkter Machtausübung organisierte Arbeiterklasse führt, den Castroisten anvertraut, stellt seine Position eine Kapitulation vor einem Agenten des Kleinbürgertums dar. Castros Programm von 1959 war völlig klar. Er hielt sich entwickelnde Institutionen der Demokratie - bürgerliche oder proletarische - auf, weil seine Rolle die eines Bonaparte war, der demagogisch die Massen besänftigt, aber in Verteidigung des Kapitalismus handelt. Die Tatsache, daß Castro revolutionäre Methoden - d.h. den bewaffneten Kampf - anwandte, macht ihn nicht zum Kommunisten, weder bewußt noch unbewußt. Zahllose Nationalisten in der imperialisierten Welt - z. B. Chiang Kai Chek - haben nichtverfassungskonforme Methoden benutzt, um die Macht zu ergreifen. Hansens Versuch, Castro von anderen nationalistischen Führern abzusetzen, indem er auf seine Basis unter dem Landproletariat anspielt, ist gleichfalls falsch. Das Landproletariat war nie so gut organisiert wie die Arbeiter in der Stadt und so klassenbewußt wie diese.

Aus diesem wirklichen Grund war Castro in der Lage, es in diesem Guerillakrieg auf exakt die gleiche Art zu benutzen wie die armen Bauern. Das heißt, ihre Kampfform unter Castros Führung war keine spezifisch proletarische. Wir würden tatsächlich gegen Hansen argumentieren, daß eigentlich die Abwesenheit der wohlorganisierten städtischen Arbeiterklasse unter Führung einer revolutionären Partei vom kubanischen revolutionären Kampf es war, welche die Bürokratisierung der Bewegung und die Bildung eines degenerierten Arbeiterstaats ermöglichte.

Sein Versuch, den Castroisten revolutionär-proletarische Glaubwürdigkeit zu verleihen, führt Hansen dazu, den Volksfrontcharakter der B26J zu ignorieren. In seinem "Thesenentwurf zur kubanischen Revolution" (1960) gesteht Hansen zu, daß die ursprüngliche Regierung eine "Koalition" war, die in sich "bürgerlich demokratische Elemente" aufnahm. Dieser Charakterzug der B26J, ihre Beschränkung auf ein bürgerliches Programm und die Klassenpolarisierung, die resultierte, als diese Koalition in die kombinierten und in Konflikt stehenden Spannungen zwischen den kubanischen Massen und dem US - Imperialismus geriet, werden komplett ignoriert.

Castro kann als Revolutionär porträtiert werden, der einfach vom amerikanischen Imperialismus nach links getrieben wurde: "Der Konflikt zwischen dem amerikanischen Imperialismus und den Castro-Kräften löste eine politische Krise in Havanna aus. Dies wurde durch eine entschiedene Wende nach links gelöst."

Die B26J wird einfach zu den "Castro-Kräften", ein undifferenzierter Block. Das ist der springende Punkt für Hansens Analyse. Auf diese Weise kann er Castro als beständigen Revolutionär zeichnen, der sich dauernd nach links bewegt, obwohl unbewußt. Das verschleiert Castros wirkliche Rolle in den ersten 9 Monaten von 1959 als Bonaparte für den Kapitalismus. Es versorgt Hansen auch mit einer Erklärung, warum Castro tatsächlich einen degenerierten Arbeiterstaat kreieren konnte. Castros Auflösung der B26J in den kubanischen Stalinismus, die möglich war, weil ein prostalinistischer Flügel in der Bewegung existierte, und die Bildung eines degenerierten Arbeiterstaats durch diese Kraft, werden im Interesse von Hansens kapitulatorischem Schema ignoriert, Kuba sei ein gesunder Arbeiterstaat, der keine politische Revolution nötig habe.

Hansen beobachtet die antikapitalistischen Aspekte von Castros "Arbeiterregierung", paßt sie aber an die Norm der revolutionären Arbeiterregierung der Komintern an. Er vernebelt das Faktum, daß die kubanische Arbeiter- und Bauernregierung nicht unter der Kontrolle des Proletariats und der armen Bauernschaft stand oder ihnen rechenschaftspflichtig war. Damit es so gewesen wäre, hätten eine demokratische Arbeitermiliz und Arbeiter- und Bauernräte entstehen müssen. Solche Körperschaften wurden nicht ins Leben gerufen; zusätzlich wurden die existierenden Arbeiterorganisationen, die Gewerkschaften, von ihrer prokapitalistischen Bürokratie gesäubert. Diese wurde umgehend durch eine stalinistische ersetzt. Während die antikapitalistischen Maßnahmen, die zur Gründung eines Arbeiterstaats führten, von Hansen, wenn auch in verkürzter Form, registriert wurden, wird der bürokratische Ausschluß der Arbeiterklasse von der Macht vollständig ignoriert. Wenn man letzteren Prozeß tatsächlich in Betracht zieht, ist man zu der Schlußfolgerung gezwungen, daß Castros Regierung keine revolutionäre, sondern eine bürokratische Arbeiter- und Bauernregierung war.

Der Grund, warum Hansen sich fähig fühlt, die Tatsache beiseite zu lassen, daß das kubanische Proletariat über keine realen selbstorganisierten, bewaffneten, demokratischen Gremien verfügte, liegt darin, daß er solche Gremien auf bloße "Formen von Arbeiterdemokratie" reduziert: "Wenn der kubanischen Revolution erlaubt würde, sich frei zu entwickeln, würde ihre demokratische Tendenz zweifellos zur frühen Schaffung proletarisch demokratischer Formen führen, die an Kubas eigene Bedürfnisse angepaßt sind."

Nicht nur kann ein gesunder Arbeiterstaat ohne revolutionäre Partei gebildet werden, er kann auch im Namen der Massen entstehen statt durch sie selbst, ohne Sowjets oder eine Arbeitermiliz. Wenn das der Fall ist, sollte die Aufgabe für Trotzkisten einfach darin bestehen, die Linksentwicklung kleinbürgerlicher Nationalisten zu ermutigen, sie zu überreden, im Namen der Massen zu handeln. Eine Partei oder ein Programm, das auf dem Kampf um die Erringung der Macht seitens der in Sowjets organisierten Arbeiterklasse fußt, ist nicht notwendig. Diese Dinge, so versichert uns Hansen, werden sich eines Tages auf natürlichem Wege herausbilden!

Gegen diese Verdrehung des Marxismus muß wieder bekräftigt werden, daß Sowjets und eine Arbeitermiliz nicht bloße "Formen proletarischer Demokratie" darstellen. Sie sind die unverzichtbaren Waffen, die die Arbeiterklasse beim revolutionären Sturz des Kapitalismus besitzt, und die Mittel, wodurch sie ihre direkte politische Herrschaft in einem gesunden Arbeiterstaat ausübt. Ihr zeitweiliges Schrumpfen kann durch die Existenz einer bewußt revolutionären Partei wettgemacht werden (z. B. Rußland 1920), aber nicht durch eine kleinbürgerlich-nationalistische Bewegung, die sich selbst an den Stalinismus anpaßt. Übrigens, wenn die Herausbildung dieser demokratischen Formen auf Kuba wirklich möglich war, dann müßten die Gefolgsleute Hansens erklären, warum 22 Jahre später solche Organe der Macht auf Kuba immer noch nicht bestehen.

Hansen war unfähig, ein unabhängiges revolutionäres Programm für Kuba hochzuhalten. Wie es mit Jugoslawien geschah, reduzierte die SWP(US), durch eine der Verkleidungen des Stalinismus genarrt, ihre eigene Rolle darauf, eine freundliche Ratgeberin für Castro zu sein. Wenn dies auf Kuba anwendbar war, dann träfe es gleichfalls für eine Reihe anderer imperialisierter Länder zu. Hansens Theorie, die auf den früheren Irrtümern der Vierten Internationale aufbaute und diese weiterentwickelte, machte den Weg für die Wiedervereinigung mit Pablos und Germains Internationalem Sekretariat frei. Das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale wurde so auf einem Programm gegründet, das mit der Charakterisierung des Stalinismus seitens des authentischen Trotzkismus keine Ähnlichkeit trug.

Die Theorie der strukturellen Assimilierung

Die Theorie der strukturellen Assimilierung steht dafür, daß die Bildung von Arbeiterstaaten in Osteuropa, Indochina und auf Kuba im Kern das Ergebnis der Assimilierung dieser Gesellschaften in die UdSSR hinein war. Für die Theoretiker der strukturellen Assimilation - am auffälligsten in der jüngst abgelaufenen Periode T. Wohlforth - ist der Prozeß der Schaffung neuer Arbeiterstaaten letztlich der Prozeß der Ausdehnung der Eigentumsverhältnisse, die durch die Arbeiterrevolution in Rußland etabliert wurden: "Somit waren alle Nachkriegsumwälzungen essentiell Ausdehnungen der neuen Eigentumsverhältnisse, die von der Oktoberrevolution aufgeworfen wurden, und der bürokratischen Kaste, die diese Eigentumsformen usurpierte."

Die oberflächliche Anziehungskraft dieser Theorie liegt darin, daß nach ihren Begriffen weder stalinistische Parteien noch kleinbürgerlich-nationalistische Kräfte für fähig gehalten werden, Arbeiterstaaten zu gründen, nicht einmal in einer von Beginn an degenerierten Form. Sie können das nur als Ausdehnung der degenerierten Oktoberrevolution:

"Die Theorie der strukturellen Assimilation erklärte einen Prozeß der Schaffung deformierter Arbeiterstaaten durch die Expansion des degenerierten Arbeiterstaats. Das heißt, sie beantwortete die Frage der Herkunft, ohne in irgendeinem Sinn die revolutionäre Rolle des Proletariats zu untergraben."

Durch den "Beweis", daß die Agentur der sozialen Revolution die Oktoberrevolution bleibt, obwohl in hochgradig gebrochener und degenerierter Form, dachte Wohlforth, er habe eine "Theorie" entdeckt, welche die opportunistischen Abweichungen Pablos fernhalten würde. Wohlforths Position hat sich über die Jahre deutlich verändert, besonders zur Frage Chinas und Kubas. Aber ein gemeinsamer Faden einer irrtümlichen und nichtmarxistischen Position zum Staat verknüpft seine Positionen von 1961 mit dem heutigen Tag.

Wohlforth ist sich niemals absolut im Klaren darüber, was genau mit dem kapitalistischen Staat in den Ländern Osteuropas im Gefolge der Siege der Roten Armee oder in China 1949 oder auf Kuba 1959 passiert ist. Man kann seine Position zweideutig interpretieren. Entweder wurde der kapitalistische Staatsapparat niemals zerschlagen oder doch, aber er wurde dann sofort von den Stalinisten oder kleinbürgerlichen Nationalisten neu begründet. Somit argumentiert er zu Osteuropa:

"(Strukturelle Assimilierung) wurde nicht durch die Zerstörung des alten bürgerlichen Staates insgesamt und die Errichtung eines neuen Staatsapparats der Arbeiterklasse durchgeführt. Nicht nur ist vieles an der Verwaltungsstruktur bis heute intakt gehalten worden, sondern auch ein beträchtlicher Teil des Personals der alten Staatsadministration ist beibehalten worden." Zu China behauptet er Folgendes: "Vielmehr widmete sie (die KPCh) ihre Anstrengungen der Schaffung einer Koalitionsregierung mit den Überresten der nationalen Bourgeoisie und kleinbürgerlichen Kräften, garantierte die Unantastbarkeit des Privateigentums in der unmittelbaren Periode und machte sich ans Werk, den bürgerlichen Staatsapparat wiederherzustellen."

Die Verwirrung entsteht, weil Wohlforth den Klassencharakter des Staats nicht auf der Grundlage definiert, welche Produktionsweise er verteidigt (sein Klasseninhalt), sondern auf der Grundlage seiner Form. Was für Wohlforth wichtig wird, um den Klassencharakter dieser Staaten zu definieren, ist die Tatsache, das eine stehende Armee wieder gebildet und das alte Personal und die Administration beibehalten wurden. Dies erklärt auch, warum er kein Konzept zur in dieser Periode der Umwälzung existierenden Doppelmacht hat (außer als "territoriale" Doppelherrschaft in China).

Der Klassencharakter des Staates wird seiner Form untergeordnet. Indem er die Frage, über welchen Eigentumsverhältnissen der Staat thront, auf das Niveau einer zweitrangigen Frage zurückstuft, finden die entscheidenden Ereignisse, die zur Charakterisierung dieser Staaten als deformierte Arbeiterstaaten führen, deshalb auf der Ebene der Superstruktur statt, innerhalb des Staatsapparats: "Die gegenwärtige soziale Transformation wurde im Staatssektor durchgeführt in einem Prozeß der Säuberung der Staatsbürokratie, des Überschwemmens des Staatsapparats mit Unterstützern der Stalinisten und der Verschmelzung der Bürokratien von Staat und Kommunistischer Partei." Diese eigentliche Trennung von Basis und Überbau führt Wohlforth zu einem ernsten Irrtum über die Natur der Verstaatlichungen während dieses Zeitabschnitts. So kann Wohlforth argumentieren: "Die direkte ökonomische Macht der bürgerlichen Klasse in Osteuropa war mit den Nationalisierungen, die auf den Krieg folgten, gründlich abgetragen worden." Und: "Wenn es darum zum gesellschaftlichen Eigentum kommt, komplettierte der strukturelle Transformationsprozeß einfach einen Ablauf, der grundlegend schon beendet war."

Aber diese Verstaatlichungen - durch kapitalistische Staaten in Osteuropa in der Periode 1944/45 – "trugen" nicht entscheidend die wirtschaftliche Macht des Bürgertums mehr "ab", als sie es für die ägyptische Bourgeoisie unter Nasser taten. Was wirklich die Macht der Bourgeoisie in dieser Periode "erodierte", war die Zerschlagung ihres Zwangsapparates.

Zur zentralen Frage bei der Herausbildung von Arbeiterstaaten wird deshalb für Wohlforth: "In wessen Händen liegt die Staatsgewalt?"

"Die Vollendung der Zerstörung der wirtschaftlichen Stütze der bürgerlichen Kräfte in diesen Ländern stellte nicht solch einen drastischen Wandel dar wie die Zerstörung ihrer politischen Macht. In den meisten dieser Länder befanden sich 1947 die Kommandohöhen der Industrie in den Händen des Staats, somit wurde zur kritischen Frage, in wessen Händen der Staat lag, statt der Aufräumoperation bei den Überbleibseln der kapitalistischen Holdings." (Die Einführung der staatlichen Planung, sollten wir im Vorbeigehen festhalten, muß Teil dieser "Aufräumoperation" gewesen sein!)

Dies gebiert Wohlforths Konzentration auf die Fusion von KPen und Sozialdemokraten und die "Durchdringung der monolithischen Partei mit dem Staatsapparat" (der feste stalinistische Zugriff auf den Staat und der feste Zugriff des Staates auf die Gesellschaft) als die entscheidenden Punkte, die die Entstehung der Arbeiterstaaten trotz ihrer degenerierten Form kennzeichnen. Wie Wohlforth diesen Prozeß selber beschreibt:

"Das Wesentliche bei der strukturellen Assimilation ist ein kombinierter Prozeß zwischen der Zerstörung der politischen und sozialen Macht der Bourgeoisie durch administrative Mittel, der Festigung einer monolithischen Partei, was wesentlich für eine Erweiterung der Sowjetbürokratie ist, der Säuberung von bürgerlichen Elementen aus dem Staatsapparat und der Fusion der Partei und der Staatsbürokratie in eine einzelne, herrschende bürokratische Kaste."

Zugrunde liegt Wohlforths Theorie von der strukturellem Assimilation eine Konzeption vom Staat, und deshalb des Überganges von einer Staatsform zur anderen, welche sich mehr an Kautsky als an Marx anlehnt. Für Wohlforth ist es dem Proletariat oder einer Kaste in ihm möglich, die bestehende Staatsmaschinerie zu ergreifen und sie als Instrument zur Schaffung eines Arbeiterstaates zu benutzen, als Mittel zur Durchführung der sozialen Revolution. An keinem Punkt in diesem Vorgang ist der bürgerliche Staat "zerschlagen", lediglich "gesäubert". Es gibt keinen qualitativen Bruch, eher wächst der bürgerliche Staat vermittels eines evolutionären Prozesses in einen degenerierten Arbeiterstaat hinüber:

"Das Problem des Zeitpunktes ebenso wie das Problem der Zerstörung des bürgerlichen Staates durch 'Verschmelzung und Säuberung' ist ein Spiegelbild des eigentlichen Prozesses der strukturellen Assimilation. Wo immer dieses Problem auftaucht, - solange kristallklar ist, daß ein sozialer Umsturz stattgefunden hat - weiß man, daß man sich mit diesem Vorgang befaßt."

Diese Methode steht im scharfen Gegensatz zu unserer Analyse von der Formierung degenerierter Arbeiterstaaten, die an jedem Punkt die Klassennatur des Staates und die sich daraus ergebenden programmatischen und taktischen Implikationen analysiert. Für Wohlforth und vermutlich für jede Partei, die diese Theorie vertritt, kann man nur nach dem Ereignis wissen, daß ein Arbeiterstaat ins Leben gerufen worden ist oder selbst dieser Prozeß begonnen hat.

Wohlforths Erklärung zur Entstehung neuer Arbeiterstaaten basiert auch auf einer irrtümlichen Analyse der Natur des Stalinismus und der stalinistischen Parteien. In seinem Originalessay von 1963 werden die Kommunistischen Parteien in allem Wesentlichen als Verbreiterung der Kremlbürokratie beschrieben. Folglich ist es die Kremlbürokratie, die auf durch Arbeiterrevolution etablierten Eigentumsverhältnissen basiert, die den Zugriff auf die Staatsmaschinerie hält und diese mittels "Säuberung" als Mittel zur Umwandlung bürgerlicher Staaten in Arbeiterstaaten benutzt.

"Der degenerierte Arbeiterstaat, welcher von der Oktoberrevolution herkommt, hat sich durch seine Agenten in große an die UdSSR angrenzende Gebiete hinein ausgebreitet - ein Vorgang, den wir defensiven Expansionismus nennen." Und weiter, in der Argumentation gegen die bürokratischen Kollektivisten: "Aber der Stalinismus expandierte in der Nachkriegswelt nicht auf dieser Grundlage. Er wuchs überhaupt nicht aus einer Managerschicht der kapitalistischen Gesellschaft heraus. Eher vergrößerte er sich von der UdSSR aus. Daher kann die Identität des Stalinismus mit der UdSSR - seine Ausdehnung durch seine eigenen Agenten und in Opposition zu allen Schichten der Länder, in denen die Transformation stattfand - nicht mit der Theorie des bürokratischen Kollektivismus erklärt werden."

Diese Analyse wird erweitert, aber nur mit Schwierigkeiten, auf Jugoslawien und China. Zur Jugoslawischen Kommunistischen Partei argumentiert er: "Wenn der Puffer im Allgemeinen wirklich verstanden wurde, bestehen keine theoretischen Probleme mit der jugoslawischen Entwicklung im Besonderen. Der Hauptpunkt ist, festzustellen, daß die Natur der einheimischen KPen besteht im wesentlichen in der Ausbreitung der Sowjetbürokratie selber besteht. Wenn dies festgehalten wird, dann kann die soziale Umwandlung von mehr 'einheimischem' Charakter wie in Jugoslawien verstanden werden. Jugoslawien unterschied sich diesbezüglich nur graduell - dies war aber kein qualitativer Unterschied."

Während zur Frage der Chinesischen Kommunistischen Partei die folgende Analyse vorgetragen wird: "Im Ausmaß, wie die KPCh von den einheimischen sozialen Klassen unabhängig war und ist, ist sie abhängig von - ist wesentlich eine Erweiterung - der bürokratischen Kaste der UdSSR, die das pervertierte Produkt einer Arbeiterrevolution verkörpert."

Dies ist eine fundamental undialektische und deshalb auch falsche Charakterisierung der nationalen Kommunistischen Parteien. Seit dem Beginn des bürokratischen Thermidors in der UdSSR, welcher sich unter dem Slogan "Sozialismus in einem Lande" vollzog, durchlief die Komintern einen Desintegrationsprozeß entlang der Linien des Nationalchauvinismus. Die nationalen KPen paßten sich den spezifischen Schichten des Kleinbürgertums in den imperialisierten Ländern und der Arbeiterbürokratie in den imperialistischen Ländern an. Dieser Vorgang der Anpassung nahm in den Bürgerkriegen in Jugoslawien und China zugespitzte Formen an. Wie Wohlforth in seinem zweiten Dokument aufzeigt, führte dies zu einem Prozeß der Herauskristallisation bürokratischer Kasten in diesen Gesellschaften, die ihre eigenen deutlichen Interessen hatten, separat von und entgegengesetzt zu nicht nur den Massen der einzelnen Gesellschaften, sondern auch den nationalen Interessen der Sowjetbürokratie.

Der Zeitpunkt und die Geschwindigkeit des sozialen Umsturzes in Jugoslawien, die Eroberung der Macht in China selbst, fanden im Kontrast zu den unmittelbaren Interessen und Wünschen der Kremlbürokratie statt. Diese stalinistischen Bürokratien sind fähig gewesen, mit dem Imperialismus ihre eigenen Bündnisse gegen die Sowjetbürokratie zu schließen, bis zum und einschließlich des Herausbrechens aus dem Sowjetblock und dem Eintritt in militärische Allianzen und Zusammenarbeit mit dem Imperialismus (z.B. Jugoslawien der Koreakrieg, Chinas Verhältnis zu den USA in den späten 7Oer Jahren).

In einem neueren Dokument scheint Wohlforth die Unhaltbarkeit seiner vorhergehenden Stalinismusanalyse deutlich zu werden, als er mit dem Problem der chinesischen und kubanischen Revolution umzugehen versucht. So stellt er fest:

"Ich habe bewiesen, daß all die sozialen Nachkriegsumstürze von oben mit militärisch-bürokratischen Mitteln initiiert wurden und zur Bildung deformierter Arbeiterstaaten führten, die im wesentlichen mit der UdSSR identisch sind. Wie auch immer wich der Pfad, der zu diesen sozialen Umwandlungen führte, in erheblicher Weise in den Fällen der chinesischen und kubanischen Variante davon ab. Trotzdem war keiner dieser Vorgänge von der Sowjetbürokratie total unabhängig."

Historische Realität hat Wohlforth von einer Position, in der die stalinistischen Parteien als wenig mehr denn eine "Ausbreitung der Kremlbürokratie" gesehen wurden, zu einer, in der diese nicht als "ganz unabhängig vom Kreml" angesehen werden, gestoßen. Die Theorie der strukturellen Assimilation, die argumentierte, daß stalinistische und kleinbürgerlich-nationalistische Bewegungen außer als Ausdehnung der Kremlbürokratie keine deformierten Arbeiterstaaten errichten könnten, ist hier bis zum Bruchpunkt gedehnt worden!

Es ist falsch, die stalinistischen Parteien einfach als Auswuchs der Sowjetbürokratie zu sehen. Die Logik genau dieses Argumentes führte Pablo zu dem Schluß, daß die Jugoslawische Kommunistische Partei aufhörte, stalinistisch zu sein, nachdem sie einmal mit dem Kreml gebrochen hatte. Jedoch kann die Fähigkeit der Kräfte des Stalinismus, bürokratische soziale Revolutionen durchzuführen, nicht geschichtlich von der Existenz der UdSSR und ihrer Stärke gegenüber dem Imperialismus abstrahieren. Im Falle von Jugoslawien, China und Kuba wurden die bürokratischen sozialen Revolutionen durchgeführt in einer Situation, in der die Weltbourgeoisie im Verhältnis zur UdSSR unzureichend stark war, direkt und erfolgreich zu intervenieren, um die einheimische Bourgeoisie und die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu beschützen.

Die Existenz der UdSSR allein kann natürlich zur direkten materiellen Hilfe der einheimischen stalinistischen Kräfte dienen. Daß dies jedoch nicht immer der Fall sein wird, sollten solche Kräfte nicht die Interessen der Kremlbürokratie begünstigen, wird von den griechischen Ereignissen von 1944/45 demonstriert.

Die UdSSR kann schon durch ihre Existenz und bewaffnete Macht die Möglichkeit international unterstützter kapitalistischer Vergeltungen und Konterrevolutionen untergraben. Sie kann als eine alternative Quelle der wirtschaftlichen Hilfe und der Zusammenarbeit an Kräfte dienen, die darum kämpfen, den Würgegriff des Imperialismus über ihrer nationalen Wirtschaften zu brechen, wie im Falle von Kuba. Doch solch Beistand wird nur dann von der UdSSR gewährt werden, wenn die sozialen Umstürze die Verhandlungsposition der Kremlbürokratie potentiell stärken, ohne dabei die Kremlstrategie der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus umzukippen.

In Wohlforths Staatstheorie ist eine reformistische politische Logik enthalten, die außerhalb der Tradition der Dritten und Vierten Internationale steht. Dies ist am deutlichsten in Wohlforths jüngstem Artikel "Übergang zum Übergang" in der New Left Review. Die Klassennatur des Staates, gemessen an seiner Überbauform zu definieren, anstatt auf der Grundlage, welche Eigentumsverhältnisse er verteidigt, brachte ihn wie Kautsky zuvor dahin, das Sowjetsystem selber zu hinterfragen.

Den "Sowjettyp der frühen UdSSR-Periode" näher betrachtet, ist Wohlforth sich offensichtlich nicht mehr länger sicher, ob er sich von den bürokratischen osteuropäischen oder Mussolini-Staatstypen, die beide für ihn der Form nach kapitalistisch waren, "fundamental unterschied" und ihnen überlegen war.

In diesem Artikel gibt sich Wohlforth damit zufrieden, die Sowjetdemokratie als "undemokratisch" anzugreifen und schlägt statt dessen eine gute Dosis bürgerlicher Demokratie für den frühen Sowjetstaat vor. Wenn die frühe Sowjetunion auch eine "kapitalistische Staatsform" besitzt, dann ist nur logisch, für kapitalistische Demokratieformen zu argumentieren. Das "Versagen" der frühen bolschewistischen Regierung, die Räte in eine "praktikable Regierungsstruktur" zu transformieren, "stellte (somit) die Unmöglichkeit zur Schau, das dezentrale Sowjetsystem mit den Erfordernissen eines modernen Zentralstaats zu kombinieren, wie es auch die Zweideutigkeiten (sic) in der leninistischen Gegenüberstellung von 'proletarischer' und 'bürgerlicher' Demokratie enthüllte."

Wohlforth glaubt, es sei "utopisch", sich die Etablierung direkter demokratischer Herrschaft vorzustellen und ist nur willens, "die Vision und Möglichkeit" eines solchen Systems zu verteidigen. Die Bolschewiki waren gezwungen, "viele vom alten Verwaltungspersonal" zu benutzen und dem zuzuschauen, "was in vielerlei Hinsicht der Wiederaufbau des alten Staatsapparats war." Anstelle der "Ausdehnung der Demokratie" (Klassencharakter nicht vorgegeben!) wurde sie eher "eingeschränkt".

Wieder einmal erlaubt Wohlforths vorrangige Beschäftigung mit der "Form" des Staats ihm, total blind gegenüber dem Inhalt von Rätedemokratie zu bleiben. Der junge Sowjetstaat repräsentierte die Diktatur des Proletariats: darum wurde die Bourgeoisie vom Wahlrecht ausgeschlossen, darum wurde der Arbeiterklasse in den Sowjets größeres Gewicht als den Bauern verliehen. Wohlforth entleert wie Kautsky vor ihm die Demokratie ihres Klasseninhalts, protestiert gegen die "Verletzung" der Demokratie im Allgemeinen. Lenin hatte dies zu sagen, als Kautsky sich über die Einschränkungen der Demokratie in der frühen Sowjetrepublik beschwerte: "Es ist natürlich für einen Liberalen, von 'Demokratie' allgemein zu reden; aber ein Marxist wird niemals vergessen zu fragen: 'Für welche Klasse?'".

Unerschrocken fährt der liberale Wohlforth fort: "Es ist schwer, den jungen Sowjetstaat als den Systemen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie, die die leninistische Doktrin scharf kritisierte, strukturell überlegen zu betrachten." Er schreitet dann weiter, eine verfassunggebende Versammlung als Zwischenstufe auf dem Weg zu Räten nach der Machtergreifung durchs Proletariat zu empfehlen.

"Die spezifische Funktion repräsentativer Demokratie besteht deshalb darin, sicherzustellen, daß die Macht, die noch bei der zentralen Staatsspitze verbleibt, direkt durch pluralistische Konkurrenz, allgemeines und geheimes Wahlrecht gewählt wird. Repräsentative Demokratie ist nötig, um den Widerspruch zwischen Rätetum und Zentralismus zu vermitteln und Raum für den allmählichen Übergang der Macht von zentralisierten, repräsentativen Institutionen auf dezentralisierte, Teilnehmerkörperschaften vom Räte- oder kommunalem Typ zu garantieren." All dies ist natürlich nichts Neues; dies waren exakt die Punkte, an denen Kautsky die Diktatur des Proletariats in der jungen Sowjetrepublik attackierte.

So hat Wohlforth nun Übereinstimmung mit Kautsky erzielt, nicht nur in der Staatsfrage, sondern auch in der Ablehnung der Diktatur des Proletariats. 1919 in "Terrorismus und Kommunismus" bestimmte Kautsky die UdSSR als "bürokratische Diktatur", wo die Bürokratie eine "neue, herrschende Klasse" darstelle, die über eine "staatskapitalistische Ökonomie" präsidiere. Da er schon seit langem theoretisches Einverständnis über den Staat hat, wird es zweifelsohne nicht lange dauern, bis Wohlforth mit Kautsky Übereinkunft über den Klassencharakter der Sowjetunion erzielt!

Die spartacistische Schule der Stalinophilie

Die kubanische Revolution schuf eine neue Basis für eine Übereinstimmung zwischen den zwei Hauptlagern des "Welttrotzkismus". Sie ermöglichte es Joseph Hansen und der SWP(US) und Ernest Mandel und dem Internationalen Sekretariat, sich um ähnliche Positionen zu Kuba wiederzuvereinigen, die aus ihrer beidseitig geteilten irrtümlichen Einschätzung der jugoslawischen Revolution in den späten 40er und frühen 50er Jahren stammten. Die Positionen der SWP zu Kuba gingen jedoch nicht ohne Herausforderung in dieser Organisation durch.

Während der zweiten Jahreshälfte 1960 entwickelte eine Minderheitstendenz in der SWP(US) unter Führung von Mage, Wohlforth und Robertson eine alternative Position zur SWP-Mehrheit über die kubanische Revolution. Dies führte 1961 zur Bildung der Revolutionären Tendenz (RT), die später zur internationalen Spartacist Tendenz (iST - sic; heute umbenannt in Internationale Kommunistische Liga/International Communist League [IKL/ICL], d. Red.) werden sollte. Wohlforth sollte schnell die Positionen, die er in der Opposition zu entwickeln half, aufgeben und im Bündnis mit Healy die Seite der SWP-Mehrheit beim bürokratischen Ausschluß der RT beziehen. Die ursprünglichen Positionen wurden in der iST weiter entwickelt und sind eher durch Implikation denn durch theoretische Ausarbeitung weit genug ausgedehnt worden, um Osteuropa, Jugoslawien, China etc. abzudecken. (Es ist tatsächlich erstaunlich, daß mehr als 20 Jahre später kaum ein paar Zeilen von der iST über die Umstürze in Osteuropa verfaßt worden sind.) Anfänglich vom Wunsch motiviert, den chronischen Opportunismus und das Liquidatorentum der Hansen-Mehrheit zu vermeiden, ging die RT/iST weiter und beging eine Reihe größerer Revisionen an der marxistischen Staatstheorie, die in ihren Folgewirkungen fürs marxistische Programm nicht weniger fehlerhaft und gefährlich sind als die sowohl von Hansen wie auch Wohlforth begangenen.

Der Kern des Irrtums der iST liegt in der Charakterisierung der Natur des Staates, der auf Kuba zwischen Januar 1959 und Ende 1960 existierte. Denn da war die Regierung, die Kuba kontrollierte, "ein inhärent transitorisches und fundamental instabiles Phänomen - eine kleinbürgerliche Regierung , das sich weder der Verteidigung bürgerlichen Privateigentums noch kollektivistischer Eigentumsformen proletarischer Klassenherrschaft widmete." Die Regierung kam an die Macht in einer Situation, wo "ein kapitalistischer Staat, nämlich Körperschaften bewaffneter Menschen, die sich der Verteidigung bestimmter Eigentumsformen opferten, im marxistischen Sinne nicht existierte." Die bewaffnete Kraft, auf der dieser Staat ruhte, wurde von Kommandeuren angeführt, die ihre "früheren direkten Beziehungen mit oppositionellen liberalen Elementen aufgekündigt hatten und durch diese Episode autonom von ihrer Klasse...der kubanischen Bourgeoisie...geworden waren."

Trotz des Versuchs, sich selbst von der Originalposition Mage/Wohlforth eines "Übergangsstaats" ohne definitiven Klassencharakter zu distanzieren - eine Position, die in "Cuba and Marxist Theory" als nicht zu verteidigen definiert wird -, ist dies genau die Charakterisierung, die die iST selbst benutzt. "Cuba and Marxist Theory" erklärt: "...an keinem Punkt gab es einen klassenlosen 'Übergangsstaat' auf Kuba", es gab "eine kleinbürgerliche Regierung, keine klassenneutrale". Die Benutzung des Begriffs "kleinbürgerliche Regierung" umschifft das Problem nicht. Heißt das, daß wir einen kleinbürgerlichen, auf kleiner Warenproduktion beruhenden Staat vor uns haben? Die iST schreckt vor dieser weiteren Revision des Marxismus zurück, indem sie sich über die interessante neue Staatsform ausschweigt. Statt dessen zieht sie es vor, diesen Staat negativ zu definieren als einen, der weder bürgerliches Privateigentum noch proletarische Eigentumsformen verteidigt.

Entweder ist das ein "klassenneutraler Staat" oder die iST versucht, ein Einhorn auszubrüten. Eine solche Position verwirft direkt die marxistische Analyse des Staats, die vom Kommunistischen Manifest an ausgearbeitet wurde, daß der Staat eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse über die anderen ist. Er ist ein Organ der Klassenherrschaft, das selbst in bonapartistischer Form eine Kategorie von Eigentumsverhältnissen verteidigt. Ein Staat, der weder kapitalistische noch proletarische Eigentumsformen verteidigt, ist deshalb ein klassenloser Staat, ein Staat, der nicht länger ein Organ von Klassenherrschaft darstellt, aber einen Widerspruch zur marxistischen Staatstheorie!

Die iST argumentiert weiter, daß der Staat definiert ist "als Körperschaften bewaffneter Menschen, die sich der Verteidigung einer besonderen Eigentumsform widmen". Dies ist eine idealistische Auffassung von der Beziehung zwischen Eigentumsverhältnissen und der Staatsmaschinerie. Wir beurteilen den Klassencharakter eines Arbeiterstaats anhand seiner Aktionen, nicht anhand der "Widmung" von Individuen, die seinen Apparat ausmachen. Diese Revision ist grundlegend für die iST, indem sie ihrer Auffassung von einer "kleinbürgerlichen Regierung" einen theoretischen Anstrich verleiht, demgemäß die durch den Staat zu jeder beliebigen Zeit zu verteidigen ausgesuchten Eigentumsverhältnisse von der Unentschiedenheit in den Meinungen derjenigen an der politischen Macht abhängen.

Diese fundamental falsche Analyse ist auf Nikaragua ausgedehnt worden, wo von uns zu glauben erwartet wird (zur Zeit der Abfassung des Artikels), daß eine Regierung, die seit Sommer 1979 existiert und einer überwiegend in der Hand privaten Kapitals befindlichen Wirtschaft vorsteht, nicht den Kapitalismus verteidigt. Sie ist vielmehr noch nicht entschieden genug gegenüber dem Kapitalismus oder proletarischen Eigentumsformen "festgelegt"!

Solch eine Analyse der kubanischen Vorfälle ist nicht in der Lage, den Klassencharakter der Volksfront, die im Januar 1959 an die Macht kam, von der die iST versichert, sie sei nicht kapitalistisch, zu erklären. Sie ignoriert den prokapitalistischen, bürgerlichen Aspekt der B26J. Als dieser Aspekt vorherrschte (d.h. während der Volksfront), unterdrückte die B26J alle Versuche der Arbeiter und Bauern, über die von der Führung unter Castro festgesetzten bürgerlichen Grenzen hinauszugehen. Ferner sät diese Analyse Illusionen in die kleinbürgerliche Führung der Rebellenarmee, indem sie sie als irgendwie gegenüber keinen Klasseninteressen festgelegt deklariert und damit verbindet, daß die Armee einerseits zwischen Arbeitern und Bauern auf der einen und den Kapitalisten und Grundeigentümern auf der anderen Seite irgendwie "neutral" auftreten kann. Sie kann deshalb nicht den Kampf - in der Form der Doppelherrschaft - zwischen der Bourgeoisie und ihren Unterstützern in der Armee auf der einen und der kleinbürgerlichen Führung um Castro auf der anderen Seite erklären, wo letztere in wie auch immer verdrehter Form die Forderungen und den Druck der aufgebrachten Arbeiter- und Bauernmassen repräsentiert. Die programmatischen Schlußfolgerungen aus einer solchen Analyse sind notwendig vage - weil die Spartacists die Doppelmachtsituation nicht erfassen konnten, hatten sie kein Programm, sie zu lösen .

Die Basis, auf der Kuba als "deformierter Arbeiterstaat" von der iST charakterisiert wird, ist auch falsch: "Kuba wurde zum deformierten Arbeiterstaat mit den durchdringenden Nationalisierungen im Sommer und Herbst 1960." Die hier vorgestellte Gleichung "Verstaatlichungen = deformierter Arbeiterstaat" ist völlig falsch. Das Außenhandelsmonopol und als am bedeutendsten die Einführung der Planung auf der Grundlage der Unterdrückung des Wertgesetzes wie auch Nationalisierungen sind die Merkmale, die zusammengenommen eine Wirtschaft als postkapitalistisch bestimmen. Ferner impliziert diese Position, daß eine "kleinbürgerliche Regierung" den Kapitalismus stürzen und einen "deformierten" Arbeiterstaat nur durch massive Verstaatlichungen konstruieren kann. Auf dieser Basis kann keine wirkliche Unterscheidung zwischen Kuba und anderen "kleinbürgerlichen Regierungen", die einen ähnlichen Kurs verfolgt haben wie Algerien, Burma, Ägypten usw., getroffen werden außer auf Grundlage des prozentualen Anteils der nationalisierten Ökonomie. Waren alle diese kapitalistischen Staaten "deformierte Arbeiterstaaten im Prozeß ihrer Entstehung"? Indem sie mit "Nein" antworten, sind die Spartacists gezwungen, ihrer eigenen Methodologie zu widersprechen.

Die Spartacists erkennen auch in keiner Form die essentielle Rolle an, die der Stalinismus in der kubanischen Revolution spielte. Sie erkennen nicht den protostalinistischen Flügel der B26J vor 1959. Sie erkennen nicht die Allianz Castros mit den kubanischen Stalinisten von November 1959 an. Sie erkennen nicht die elementar wichtige Anpassung des Castroismus an den Stalinismus und sein Vertrauen auf den bürokratischen PSP-Apparat während der Periode der bürokratischen Arbeiterregierung, die mit dem Einsetzen der Planung 1962 vollendet war. Noch erkennen sie an, daß ein solcher Prozeß ohne die wirtschaftliche und militärische Unterstützung durch den Kreml unmöglich gewesen wäre. Konsequent schreiben sie der Kleinbourgeoisie die Fähigkeit zu, einen "deformierten" Arbeiterstaat zu formen - eine Revision des Marxismus in Bezug auf die fundamentalen Charaktermerkmale dieser Klasse.

Spartacisten kapitulieren vor dem Stalinismus

Die bruchstückhaften Verweise der iST auf die Bildung "deformierter" Arbeiterstaaten in Osteuropa implizieren das Vorkommen ähnlicher Perioden "klassenloser Staaten" oder "Arbeiterstaaten im Prozeß ihrer Herausbildung". Beginnend mit dem Einmarsch der Roten Armee wird die Klassennatur des Staats unbestimmt. Den einzigen Defekt, den die iST in der Gleichsetzung des Einmarschs der Roten Armee mit der Formierung von "deformierten Arbeiterstaaten" durch die Vern-Ryan-Tendenz sieht, ist der, daß sich in einigen Fällen die Sowjetkräfte zurückzogen - z. B. aus Österreich - und einen kapitalistischen Staat zurückließen. Aber der bevorzugte Begriff "Arbeiterstaat im Prozeß der Entstehung" ist eine nutzlose Bezeichnung. Er kann nur nach dem Ereignis verwandt werden, als Beschreibung. Dies ist eine Position, die wie auf Kuba den Klassencharakter des Staats, seiner Regierung, oder welche Eigentumsverhältnisse seine Armee in jedem gegebenen Stadium verteidigt, nicht festlegt und somit scheitert, irgendein kohärentes revolutionäres Programm während der Periode der Doppelmacht oder der Periode einer antikapitalistischen, bürokratischen Arbeiterregierung zu liefern.

Nicht nur eine revisionistische Position zum Staat entfaltet sich aus dieser Analyse. Indem sie die Positionen der Vern-Ryan-Tendenz nachbetet, hat die iST eine grundlegende Revision am trotzkistischen Verständnis von Stalinismus vorgenommen. Für die iST hat der Stalinismus einen "dualen Charakter" - er hat eine "schlechte", konterrevolutionäre Seite und eine "gute", fortschrittliche. Seine schlechte Seite verwickelt ihn ins Erdrücken von Arbeiterdemokratie, der Enteignung des Proletariats von der politischen Macht; seine gute Seite besteht darin, daß er den Kapitalismus stürzen kann, und beides wiegt in der Bilanz gleich.

Diese Position wird augenscheinlich im zunehmend stalinophilen Programm der iST, besonders bezüglich Afghanistan und Polen. In diesen Ländern wird der "Doppelcharakter" des Stalinismus in der vermeintlichen Fähigkeit der Stalinisten widergespiegelt, zu agieren "als Befreier im sozialen wie nationalen Sinn" in bestimmten Ländern und in ihrer Unfähigkeit, die proletarische Revolution in weltweitem Maßstab durchzuführen. Sowohl Mandel (in seinen "Zehn Thesen" 1951) wie auch die Vern-Ryan-Tendenz (in ihrer Beschreibung des Stalinismus als zentristisch) artikulierten eine ähnliche Position. Diese Position ist absolut falsch. Sie hat mit genuinem Trotzkismus nichts gemeinsam.

Der Stalinismus trägt nicht zwei konkurrierende Aspekte mit sich, von denen einer zu beliebiger Zeit den anderen dominieren kann. Er trägt vielmehr einen widersprüchlichen Charakter, weil seine privilegierte Kastenexistenz in der UdSSR auf nachkapitalistischen Eigentumsformen basiert, die von der Oktoberrevolution eingerichtet wurden. Um diese Eigentumsformen zu verteidigen, die eigentliche Grundlage der Existenz dieser Kaste, ist die stalinistische Bürokratie manchmal gezwungen, Maßnahmen durchzuführen, welche als progressiv angesehen werden könnten, wenn man sie isoliert von der Art nimmt, in der sie durchgeführt werden, und den Auswirkungen, die sie auf den internationalen Klassenkampf haben. Aber diese Maßnahmen werden niemals isoliert durchgeführt, sie werden immer auf konterrevolutionäre Weise durchgezogen und beinhalten immer die politische Entmündigung der Arbeiterklasse in den betroffenen Ländern. Somit haben für uns die stalinistischen Bürokratien einen widersprüchlichen Charakter, bilden aber ein vorwiegend konterrevolutionäres Ganzes. Wir sprechen dieser Kaste nicht das Potential zu, die Mission des Proletariats zu erfüllen - genuin proletarische Revolutionen sind die Vorbedingung für den Aufbau des Weltsozialismus.

Der Rückzug vom revolutionären Programm, den die spartacistischen Positionen mit sich bringen, kann akkurat aus den Antworten ermessen werden, die sie den afghanischen und polnischen Massen angeboten haben.

In Afghanistan weist die iST die Perspektive der permanenten Revolution für dieses Land zurück, wegen dessen Rückständigkeit. Sie zieht eine falsche Analogie zwischen dem gesunden sowjetischen Arbeiterstaat der frühen 20er Jahre, der bestimmte rückständige asiatische Länder assimilierte, zu den konterrevolutionären internationalen Plänen der bonapartistischen Clique im Kreml. Die Ereignisse in Afghanistan werden nicht vom Standpunkt des internationalen Klassenkampfs betrachtet (was den Kampf fortschrittlicher Afghanen mit dem ihrer afghanischen Arbeiterkameraden, die im Iran, in Pakistan etc. wohnen als Bestandteil eines Kampfs für eine Sozialistische Föderation Südwestasiens verbände), sondern vom abstrakten Standpunkt eines "Fortschritts" aus, "der jetzt von russischen Panzern geführt wird", gegen "Rückständigkeit". Die Spartacists fordern die Bürokratie auf, die sozialen Errungenschaften der Oktoberrevolution auszudehnen. Sie jubeln "Hoch die Rote (sic) Armee!" dem Agenten dieses Prozesses zu. Hinter dem Verbalradikalismus heißt das, daß sie als Teil ihres eigenen Programms für Afghanistan die Etablierung eines degenerierten Arbeiterstaats fordern. Dies ist keine taktische Einheitsfront, es ist eine Aufgabe eines unabhängigen Programms. Dies Vertrauen in die Sowjetbürokraten als zweitbeste Wahl angesichts der Schwäche der afghanischen Arbeiterklasse führt unvermeidlich zu einem strategischen Block mit dem Stalinismus.

Anläßlich der Geschehnisse in Polen 1980-1981 ist die iST von einfacher Feindseligkeit gegenüber der polnischen Arbeiterbewegung geradewegs zu einem Block mit den Stalinisten übergegangen, um die Bewegung zermalmen zu helfen. Sie ging in ihrer Analyse nicht von den revolutionären Möglichkeiten, die bestanden, aus, sondern von einer unterstellten Bedrohung für die Eigentumsverhältnisse in Polen und der UdSSR, die von der Aktion der polnischen Arbeiter auf die Tagesordnung gesetzt wäre. Ihre Entschuldigung für diesen Standpunkt war ihre überzogene Sicht von der Unmittelbarkeit der restaurationistischen Absichten der katholischen Kirche.

Nach dem Versuch der Quadratur des Kreises - den verführten polnischen Arbeitern begrenzte Unterstützung zukommen zu lassen und gegen eine russische Invasion zu stehen (indem man "die Panzer auspfeift", wie "Workers Vanguard" riet), gab die iST Ende 1981 auf und entschied, Solidarnosc sei bis ins Mark konterrevolutionär und sollte zerdrückt werden, wenn notwendig, von Panzern des Kreml: "Solidarnoscs konterrevolutionärer Kurs muß gestoppt werden! Wenn die Kremlstalinisten auf ihre notwendig stumpfsinnige und brutale Weise militärisch intervenieren, um sie zu stoppen, werden wir das unterstützen. Und wir laden im Voraus die Verantwortung dafür auf uns; was immer für Idiotien und Grausamkeiten sie begehen werden, so fliehen wir doch nicht vor der Verteidigung des Zerschlagens von Solidarnoscs Konterrevolution."

Als die Jaruzelski-Variante gemäß ihrem Rat am 13. Dezember 1981 lanciert wurde, als russische Tanks rollten, um die 10 Millionen starke Bewegung der polnischen Arbeiter unterzupflügen, waren die Spartacists schnell zur Stelle und boten ihre Unterstützung an. Sie warnten die polnischen Arbeiter vor jeglichem Widerstand und bezeichneten das schnelle Eingreifen als "kalte Dusche" fürs polnische Proletariat. Von mehr als einem Jahr Klassenkampf aus der Fassung gebracht, riefen diese miserablen Pedanten, die sich nur vorstellen können, die Arbeiterklasse für ihre grauenhafte Karikatur auf den Trotzkismus in der sterilen Atmosphäre des Klassenzimmers von Propagandisten gewinnen zu können (abgetrennt von den aktuellen Arbeiterkämpfen), nach einer Rückkehr von Giereks Regierungsstil der 70er Jahre:

"Wenn das gegenwärtige schnelle Eingreifen so etwas wie das dünne gesellschaftliche Gleichgewicht wiederherstellt, das in Polen vor den Danziger Streiks vom letzten August existierte, ein zaghaftes Verständnis, daß die Regierung die Leute in Ruhe läßt, wenn die Leute die Regierung in Ruhe lassen - werden sich wieder Bedingungen für die Herauskristallisation einer leninistisch - trotzkistischen Partei auftun."

Die iST hat Blut an ihren Händen kleben. Die "gute" Seite vom "Doppelcharakter" des Stalinismus, die Seite, zu deren Unterstützung die iST Revolutionäre auffordert, ist dessen Wille und Fähigkeit geworden, die unabhängige Aktivität der Arbeiterklasse zu zerschmettern. Programmatische Verwirrung über Kuba 1960 hat sich 1982 in stalinophile Klarheit verwandelt. In keinem Stadium dieser Entwicklung repräsentierten die Spartacists eine revolutionäre Herausforderung für den bankrotten Zentrismus des VSVI.

 

 

 

1963-1974:

Das Vereinigte Sekretariat bis zum 10. Weltkongreß

1951 unterstützte die SWP aus ganzem Herzen den systematischen Zentrismus des 3. Weltkongresses. Aber 1953 drängten Cannon und Hansen die Internationale in eine Spaltung, anstatt dem IS auf einer Konferenz entgegenzutreten. Das Resultat war das Internationale Komitee (IK), das mit Healy in Britannien, Lambert in Frankreich und schließlich Nahuel Moreno in Argentinien ins Leben gerufen wurde. 1963 wurde die Spaltung scheinbar kuriert, als die Mehrheit des Internationalen Komitees, mit Ausnahme der Briten, der Franzosen und einigen wenigen Anhängseln, in den Familienschoß zurückkehrte und mit dem IS zum "Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale" (VS) fusionierte. Es konnte so beanspruchen, nicht nur die Mehrheit der erklärten Trotzkisten in seinen Reihen zu haben, sondern durch Mandel, Frank, Hansen, Cannon und Pablo auch die organisatorische Kontinuität mit der vor-53-Internationale zu repräsentieren.

Der Anspruch des VS, die Vierte Internationale zu sein, verstärkte sich v.a. in den 70er und 80er Jahren, als die gegnerischen "Vierten Internationalen" auseinanderbrachen. Zuerst spaltete sich der Rest des IK 1971, Healy behielt das IK und Lambert gründete das Organisationszentrum für den Wiederaufbau der Vierten Internationale. 1980 fiel Lambert und Morenos Vierte Internationale (IK) schon nach weniger als einem Jahr Existenz wieder auseinander. Danach machte Lamberts Vierte Internationale (Internationales Zentrum des Wiederaufbaus) eine belastende Spaltung mit seinen lateinamerikanischen Sektionen durch (1987), während die morenoistische Internationale Arbeiterliga (Vierte Internationale) unfähig war, aus ihren lateinamerikanischen Kernländern auszubrechen.

Mittlerweile degenerierte Healys Internationales Komitee zu einer winzigen Sekte, die von Almosen der arabischen Bourgeoisie lebte, um 1985 auseinanderzuplatzen und zu zerfallen.

Dieses Debakel des "Anti-Pabloismus" schien den Anspruch des VS zu bekräftigen, die lebendige Kontinuität der revolutionären Vierten Internationale zu sein: die einzig signifikante, wirklich internationale "trotzkistische" Tendenz. Wie viele andere zentristische Strömungen, wuchs das VS in dem neuen Klassenkampfzyklus nach 1968 rasch an. Der Großteil der neu Gewonnenen befand sich in Europa, aber auch Sektionen in Nord- und Lateinamerika erlebten ein substantielles Wachstum. Ende der 70er Jahre zählte es etwa 14.000 Mitglieder in 50 Ländern.

Seit diesem noch nie erreichten Hoch wurde das VS schwächer, erlitt Abspaltungen und hat Ende der 80er Jahre weniger als 10.000 Mitglieder. Aber die Verluste des VS in dieser Periode waren weniger dramatisch als die seiner "trotzkistischen" Konkurrenten oder der verschiedenen halb-maoistischen oder guevaristischen zentristischen Organisationen.

Es ist daher kein Wunder, daß es ein Attraktionspol blieb, "der mainstream des Trotzkismus" - sogar für seine vermeintlich "linken" Kritiker.

Jedoch weder die beanspruchte organisatorische Kontinuität, noch die relative Größe und Stabilität des VS beantworten die Frage, ob es auch die revolutionäre Kontinuität von Trotzkis Vierter Internationale repräsentiert. Die Schlüsselfrage ist die nach der politischen und programmatischen Kontinuität mit der revolutionären Vierten Internationalen. Genau damit steht und fällt der Anspruch des VS, die Vierte Internationale zu sein.

Es war immer wieder modern im VS, wenn über seine Geschichte nachgedacht wird, zuzugeben, daß "Fehler" und "Irrtümer" begangen wurden.

Natürlich begeht auch eine revolutionäre Internationale Fehler und Irrtümer, u.U. auch schwere, aber was wir in der Geschichte des VS sehen, ist etwas anderes. Wir sehen nicht Fehler, die erkannt, korrigiert und aus denen Lehren gezogen werden. Vielmehr sehen wir systematisch und grob opportunistische Taktiken und Strategien: programmatische Liquidationen von höchstem Rang. Fehler, die versteckt oder Jahre später nur halb zugegeben werden. Fehler, die bei der erstbesten Gelegenheit wiedergeholt werden. Diese Methode hat in der kommunistischen Bewegung einen Namen. Man nennt sie "Zentrismus".

In diesem und den folgenden Artikeln zeigen wir, daß die einzige Kontinuität, die in der mehr als 30-jährigen Geschichte des VS besteht, jene der chronischen und systematischen zentristischen Fehler ist. Die Kontinuität des VS besteht mit dem Zentrismus der nach-1951-"Vierten Internationale", aber nicht mit Trotzkis revolutionärer Organisation.

Ursprünge der Wiedervereinigung

Die IS-Führung (Mandel/Frank/Pablo) kontrollierte zusammen mit Cannon, Hansen, Healy und Lambert die politische Degeneration der Vierten Internationalen in der Periode 1948-51. Ihre Analyse des Stalinismus und der bürokratischen sozialen Revolutionen, die in Osteuropa und China stattfanden, war durchgängig opportunistisch und beinhaltete eine enorme Anpassung an den Stalinismus.

Am 3. Kongreß (1951) stimmte die gesamte Vierte Internationale, inklusive Cannon, Healy und dem Rest des zukünftigen IK, darin überein, daß Tito mit dem Kreml gebrochen hätte, kein Stalinist mehr sei und sich in eine Art Zentristen verwandelt habe. Die gleiche Analyse wurde in den folgenden Jahren auch auf Mao Tse Tung angewendet. Diese Position war eine Revision des revolutionären Programms und führte direkt sowohl zu Pablos Projekt des tiefen Entrismus in die stalinistischen Parteien, als auch später zu der Begeisterung des IK für die maoistisch geführte "Kulturrevolution".

Diese opportunistische Methode, die allen Sektionen der Vierten Internationalen seit Beginn der 50er Jahre gemeinsam war, erwies sich für die Bewahrung des revolutionären Programms in den Nachkriegsjahren als verhängnisvoll. Die zerbrechliche revolutionäre Kontinuität, die durch Trotzki und dann durch die Vierte Internationale bewahrt worden war, wurde unterbrochen und die "trotzkistischen" Epigonen sowohl des IS wie des IK wurden zu Beifallspendern für verschiedene stalinistische und kleinbürgerlich-nationalistische Strömungen.

Die Kubanische Revolution von 1959, zusammen mit der wachsenden Schwäche der SWP, bereitete die Basis für die "Wiedervereinigung" 1963. Die SWP, nachdem sie sich 1953 von der Internationale abgespalten hatte, zeigte wenig Interesse, eine zu den Europäern alternative internationale Tendenz aufzubauen. Jedoch bedurfte es weiterer, materieller Faktoren, um die SWP von der Notwendigkeit einer "Vereinigung der trotzkistischen Weltbewegung" zu überzeugen.

Ein entscheidendes Element war dabei der Niedergang der SWP, sowohl an Größe wie an Einfluß. Der Druck des Kalten Krieges, des McCarthyismus und Fehler in der Perspektive führten zu einer ernsthaften Schwächung der SWP, und ihre Mitgliederzahl begann zu sinken. 1959 hatten sich alle industriellen Betriebsgruppen der SWP aufgelöst. Die Organisation, die 1934 den LKW-Fahrer-Streik von Minneapolis anführte, hatte keinerlei nationale Intervention in die US-amerikanische Arbeiterbewegung mehr. Opportunistische Wahlblöcke brachten auch keinen Erfolg.

Vor diesem Hintergrund kam die Kubanische Revolution für die SWP wie ein Geschenk des Himmels. Durch ihre Teilnahme in den "Fair Play for Cuba" Komitees, begann sie wieder zu rekrutieren. Tatsächlich war dies jene Periode, in der ein Großteil der gegenwärtigen SWP-Führung rekrutiert wurde. Außerdem öffnete sie der isolierten SWP eine Abkürzung zur Revolution. Joe Hansen, später ein selbsternannter "orthodoxer" Verteidiger der "leninistischen Strategie des Parteiaufbaus", argumentierte damals, daß Castros 26. Juli-Bewegung - ohne die Hilfe irgendeiner "leninistischen" Partei und trotz des völligen Fehlens von Organen der Arbeitermacht - einen "sehr gut aussehenden" Arbeiterstaat geschaffen habe.

Die Analyse des IS war damit identisch. Beide Interpretationen entsprachen der Position des 3. Kongresses von 1951 zu Jugoslawien, die die Notwendigkeit einer revolutionären Partei in Jugoslawien zum alten Eisen geworfen hatte, da sich herausgestellt habe, daß auch ein "stumpfes Instrument" - die jugoslawische KP - die Aufgabe für sie erledigen konnte. Wenn diese Analysen korrekt sind, dann sind Trotzkismus und IV. Internationale auf eine lediglich unterstützende Rolle beschränkt.

Die revolutionäre Position ist natürlich dazu etwas verschieden. Es stimmt, daß in Kuba ein Arbeiterstaat existiert. Aber die Natur dieses Staats ist qualitativ nicht von jenem in der SU oder einem anderen degenerierten Arbeiterstaat verschieden. Die Schlüsselaufgabe der kubanischen Massen bleibt der Aufbau von Organen der Arbeiter- und Bauernmacht (Sowjets), und die Schaffung einer revolutionären Partei, die fähig ist, die kubanischen Massen in eine politische Revolution zu führen. Der "kubanische Weg" darf von den unterdrückten Massen nicht beschritten werden, wenn sie wirklich befreit werden wollen. Er führt lediglich zu einem stalinistischen Regime von der Art, wie es gegenwärtig in Havanna besteht, das den Übergang zum Sozialismus blockiert.

Der Charakter der Fusion von 1963

Die 63er-Fusion ließ alle umstrittenen Fragen der 53er-Spaltung ungelöst. Wie es in der Präambel zur Wiedervereinigungsresolution gewand hieß: "Der Bereich der Meinungsverschiedenheit erscheint von zweitrangiger Bedeutung in Anbetracht des gemeinsamen grundsätzlichen Programms und der gemeinsamen Analyse von wesentlichen Ereignissen der Weltentwicklung, die beide Seiten vereinen".

Die Tatsache, daß das VS die meiste Zeit seiner Existenz durch Fraktionen zerspalten ist, die grundsätzlich die vor-1963-Linien wiederholen, zeigt, daß dies nicht der Fall war!

Die Frage des Entrismus sui generis wurde unter den Teppich gekehrt, genauso wie die opportunistischen Exzesse beider Seiten. Diese wurden für historische Fragen gehalten, die in Mußestunden gelöst werden konnten, obwohl z.B. die Sektionen in Britannien, Italien, Österreich, Belgien und Frankreich noch immer den opportunistischen Entrismus ausführten, wegen dem es die SWP vor einem Jahrzehnt notwendig gefunden hatte, die Internationale zu spalten. Außerdem gab es keine gemeinsame Analyse der verschiedenen stalinistischen Regimes und Parteien.

In der Frage des Charakters der Castro-Führung in Kuba befanden sich beide Seiten in Übereinstimmung. Sie griffen auf die opportunistische und zentristische Methode zurück, wie sie von der Vierten Internationalen zwischen 1948 und 1951 zur Analyse der Tito-Führung der jugoslawischen Revolution verwendet worden war. Dem VS zufolge entwickelte sich die Kubanische Revolution in die Richtung des revolutionären Marxismus und hatte "ein Muster geschaffen, das jetzt als Beispiel für eine Reihe von anderen Ländern steht". Zur Frage des Maoismus gab es hingegen kaum Übereinstimmung. Fundamentale Auffassungsunterschiede zwischen beiden Seiten wurden überspielt. Für die ehemalige IS-Führung war Mao ein "bürokratischer Zentrist" (was meinte, daß der Maoismus qualitativ besser als der konterrevolutionäre Stalinismus sei) und daher gab es keinen Grund, für eine politische Revolution in China zu kämpfen.

Die SWP hingegen vertrat - basierend auf ihrer Resolution von 1955 - die Ansicht, daß "die KPCh eine stalinistische Partei und ihr Regime eine bürokratische Diktatur ist, die eine politische Revolution erfordert".

Die Differenz wurde 1963 durch die Annahme einer zweideutigen, zentristischen Formulierung "überwunden", die zu "einem antibürokratischen Kampf in einem Ausmaß" aufrief, "das zur Herbeiführung eines qualitativen Wandels in der politischen Form der Regierung ausreicht".

Jede Seite konnte dies so interpretieren, wie sie es wollte. Die SWP meinte, daß dies politische Revolution bedeuten würde. Für die alte IS-Führung implizierte es Reformen, die zur Überwindung lediglich quantitativer bürokratischer Deformationen notwendig seien.

Die chinesische Frage sollte das VS während der ganzen 60er Jahre verfolgen, besonders nach der Kulturrevolution von 1965-67. Sämtliche opportunistischen Neigungen des Mandel/Frank/Maitan-Flügels traten hervor und ihre Analyse des Maoismus als "bürokratischem Zentrismus" wurde am 9. Weltkongreß 1969 angenommen. Diese Position, die auf einer impressionistischen Anerkennung von Maos "linker" Rhetorik und der Tatsache, daß er eine soziale Revolution geführt hatte, beruhte, wurde niemals zurückgenommen. Die Tatsache, daß Mao - wie schon vor ihm Stalin - die Arbeiterklasse der politischen Macht beraubte, und zwar von allem Anfang an, störte die alten IS-Führer in keiner Weise.

Diese Differenzen in der Analyse des Stalinismus mußten sich in Bezug auf die Vietnamesische KP wiederholen, wo es ebenfalls keine Übereinstimmung zwischen den beiden Seiten gab. Die prinzipienlose Fusion von 1963 und ihre Methode des Verdeckens von Differenzen, indem diese den "historischen Fragen" zugewiesen werden, garantierte eine von Fraktionen zerrüttete Einheit innerhalb des VS.

Dies spiegelte sich notwendigerweise im internen Regime wider, das keinerlei Beziehung zu dem einer kommunistischen, demokratisch-zentralistischen Organisation zeigte. Die SWP stellte sicher, daß sie ganz gewiß nicht als "Filiale" der Internationale behandelt wurde, wie es Cannon 1953 bei der Spaltung formuliert hatte. Als Resultat davon entwickelte das VS eine Karikatur auf den demokratischen Zentralismus, was bedeutete, daß im Falle von Differenzen die Mehrheitslinie niemals einer nationalen Sektion "aufgedrängt" wurde. Das VS entwickelte sich als eine Reihe von Nicht-Angriffspakten, wobei nationale Führer in den Organisationen ihrer Länder herrschten, ohne Furcht vor "Einmischung" durch die Internationale. Ernest Mandel hat diese Auffassung in einem Artikel über die Vierte Internationale bekräftigt:

"Das Funktionieren einer solchen Internationale - wie schon heute das der IV. Internationale - muß auf ein zweifaches Prinzip gegründet sein: die vollständige Autonomie der nationalen Parteien bei der Wahl ihrer Leitung und der Festlegung ihrer nationalen Taktik; internationale Disziplin auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips ... bei der internationalen Politik."

Die Idee, daß es möglich wäre, bei nationalen Taktiken eine "vollständige Autonomie" zu haben, als ob sich diese nicht untrennbar aus dem internationalen Programm und der internationalen Politik ergeben würden, ist durch und durch zentristisch. Sie ist ein Vorwand für den Föderalismus, der durch das Scheitern an einer wirklichen programmatischen Einheit notwendig wurde. Außerdem zeigt die gesamte Geschichte des VS - besonders in Bezug auf entscheidende revolutionäre Situationen in Argentinien, Portugal, Iran oder Südafrika - daß von dem angeblich "vereinigten" Sekretariat komplett verschiedene internationale politische Positionen praktiziert und toleriert werden.

Ein anderes Kennzeichen der Fusions-Resolutionen ist die Betonung des "weltweiten revolutionären Prozesses" und der "3 Sektoren der Weltrevolution". Diese Formeln könnten nur auf die Tatsache hinweisen, daß revolutionäre Situationen über die Jahre überall auf der Welt entstehen und vergehen, und daß es notwendig ist, in verschiedenen Situationen (v.a. in imperialistischen Ländern, Halbkolonien und Arbeiterstaaten) verschiedene Taktiken anzuwenden.

Für das VS jedoch beinhalten diese oft wiederholten Formeln eine unerbittliche Logik zur Ausdehnung von Revolutionen. Dieser "Prozeß" wird von "stumpfen Instrumenten" getragen, wie z.B. der jugoslawischen und der chinesischen KP. Dieser Auffassung folgend beschränkt sich die Rolle von Revolutionären darauf, jene unvermeidliche Abfolge von Ereignissen anzuspornen. Der Aufbau von eigenen trotzkistischen Parteien würde sich als Störung, ja sogar als Behinderung der Rolle der Internationale als freundlichem Berater jener unbewußten Trotzkisten und empirischen Praktiker der permanenten Revolution erweisen.

In der frühen Periode des VS meinte man, daß sich "das Epizentrum der Revolution" fest in den Halbkolonien befinde, die Arbeiter in den imperialistischen Ländern könnten abgeschrieben werden. Wie es Pablo 1962 formulierte:

"Der ideologische Neo-Reformismus der europäischen Arbeiterparteien, die die europäische Revolution und die koloniale Revolution verraten haben, wird so gleichzeitig durch die Aktion und die revolutionäre Ideologie der Kräfte außerhalb der entwickelten kapitalistischen Nationen bekämpft, mit denen und von denen daher die neue Führung der sozialistischen Weltrevolution geschaffen werden wird".

Die Imitation Castros in Kuba oder Ben Bellas in Algerien wurde so zur programmatischen Schlüsselfrage der wiedergeborenen "Vierten Internationale".

Diese Anpassung an den "Third Worldism" war in Wirklichkeit das Eingeständnis der Unfähigkeit des VS, während der Periode relativer Prosperität einen Weg zur industriellen Arbeiterklasse der imperialistischen Länder zu finden. Der Klassenkampf war in diesen Jahren nicht verschwunden und außerdem - wie sowohl der belgische Generalstreik 1961, als auch der französische Bergarbeiterstreik 1963 zeigten - konnten diese Kämpfe auch einen hohen Grad an Verallgemeinerung erreichen. Da jedoch die VS-Sektionen tief in den reformistischen Massenparteien eingegraben waren, war die Methode, mit dem Übergangsprogramm bei den kämpfenden Arbeitern anzuknüpfen, seit langem vergessen.

Die ersten Krisen: Sri Lanka und Algerien

Als das VS gegründet wurde, zeigten sich sofort die Probleme, die in der falschen - jedoch von allen Teilnehmern geteilten - politischen Methode angelegt waren. Das erste Beispiel war jenes von Sri Lanka, wo im Frühjahr 1964 die VS-Sektion, die Lanka Sama Samaja Party (LSSP), der Volksfront-Regierung von Frau Bandaranaike beitrat, um ihr zu helfen, eine Streikwelle zu kontrollieren und zu beenden. Der Führer der LSSP, N.M. Perera, wurde sogar Finanzminister! Das VS beeilte sich natürlich, diese Aktion zu verurteilen und schloß sogar all jene aus, die die Linie der LSSP-Führung unterstützt hatten (75% der Sektion).

Aber die opportunistischen Taktiken und Neigungen der LSSP waren für alle lang vor dem Frühjahr 1964 sichtbar. Während der ganzen zweiten Hälfte der 50er Jahre hatte die LSSP wiederholt Annäherungen an die Bourgeoisie gemacht und sogar für das Budget der Bandaranaike-Regierung 1960 gestimmt. Das IS, unterstützt von 6. Weltkongreß 1961, kritisierte schließlich diese Tat von 1960, und die LSSP korrigierte ihre Linie zumindest insofern, als die LSSP-Parlamentarier 1961 nicht für das bürgerliche Budget stimmten! Jedoch erwähnte die Fusionskonferenz von 1963 in keiner Weise die rechten Tendenzen der LSSP, in der Hoffnung, "die Weltbewegung" "vereinigt" zu halten. Die Botschaft war klar: es sollte keine "Einmischung" in die nationalen Taktiken der Sektionen geben, wie opportunistisch sie auch immer wären.

In einem Artikel, der auf "diesen schmerzhaften Moment unserer Geschichte" zurückblickt, findet der VS-Führer Livio Maitan eine ganze Reihe von Erklärungen für den chronischen Opportunismus der LSSP, einschließlich der Tatsache, daß sie niemals eine leninistische Partei war (was wahr ist, aber diese Entdeckung kommt ziemlich spät!). Eine Möglichkeit jedoch will er nicht dulden, nämlich daß die IS/VS-Führung einen großen Teil der Verantwortung für die Vertuschung des "sozialdemokratischen" Charakters der LSSP (das ist Ernest Mandels Ausdruck) trägt, da sie erst entschieden intervenierte, als es schon zu spät war und auch dann nur, um sich die Hände bei der ganzen Affäre sauberzuwaschen. Die Wahrheit ist, daß die ganze Vierte Internationale, einschließlich der nach-53-Abspaltungen, auf die LSSP als der einzigen trotzkistischen Massenpartei starrte - der einzigen, die vielleicht an die Macht kommen und das weltweite Kräfteverhältnis ändern konnte. Wenn sie auch tatsächlich ein ziemlich stumpfes Instrument war, warum sollten nur die Stalinisten all die stumpfen Instrumente haben? Die Tatsache, daß die praktische Politik der LSSP zu 90% parlamentaristisch und trade-unionistisch war, wurde geflissentlich vergessen.

In Algerien machte das VS eine parallele Reihe von Fehlern, die für diese "Trotzkisten" eigenartigerweise wieder erst lange nach dem Ereignis sichtbar wurden. Von 1959 an argumentierten Pablo und sein lateinamerikanischer Statthalter Posadas, daß sich "das Zentrum der Weltrevolution" in die imperialisierte Welt verlagert habe. Für Posadas war dies v.a. eine Rechtfertigung, alle Verbindungen mit dem IS abzubrechen, was 1961 zu seiner Abspaltung führte. Pablos Position war etwas anders. Seine Orientierung an der Ben Bella-Regierung, die er abwechselnd als "antikapitalistischen Staat" und als "Halb-Arbeiterstaat" bezeichnete, befand sich im Einklang mit dem gesamten VS.

Pablos Differenz war, daß er der Logik seiner politischen Analyse bis zum Ende folgen wollte. Am Vereinigungskongreß schlug er vor, daß das Internationale Zentrum nach Algier verlegt werden sollte! In der Folge nahm er in Algerien die Position eines Wirtschaftsberaters der Ben Bella-Regierung an und 1964 brach seine Fraktion mit der VS-Mehrheit völlig.

Begeistert durch den Sieg der FLN über den französischen Imperialismus und dann durch die massiven Nationalisierungen, die im Oktober 1963 von der Ben Bella-Regierung vorgenommen wurden, rief das Internationale Exekutivkomitee des VS im Mai 1964 zur Bildung einer "revolutionär sozialistischen Linken" auf, "geführt durch die FLN".

Wie im Fall von Kuba, Jugoslawien und China sollten die trotzkistische Partei und das Programm zu den Akten gelegt werden, zugunsten des Hinterherlaufens hinter kleinbürgerlichen Nationalisten, die keinerlei Absicht hatten, die Arbeiter und armen Bauern in der Politik mitreden zu lassen, abgesehen von einigen Andeutungen in Richtung "Selbstverwaltung". Anstatt genuiner Arbeiterkontrolle der Produktion bedeuteten diese "Selbstverwaltungsprojekte" die Einbeziehung der Arbeiter in die Betriebsführung im Interesse der kapitalistischen Klasse!

Das VS, wie immer durch Worte geblendet, schwärmte:

"Die Frage, die beantwortet werden muß, ist, ob diese Regierung einen Arbeiterstaat schaffen kann. Die Bewegung in diese Richtung ist offensichtlich und zeigt viele Ähnlichkeiten mit dem kubanischen Modell. 'Selbstverwaltung', durch ihre bereits ausgeführte Bedeutung für die Entwicklung der Arbeiter- und Bauerndemokratie, eröffnet die glänzendste Bresche für den Aufbau von Institutionen eines Arbeiterstaats".

Im Juni 1965 wurde Ben Bella in einem Staatsstreich durch Boumedienne gestürzt. Der VS-Traum von einem Arbeiterstaat an der südlichen Mittelmeerküste zerrann. Als der Traum verblaßte, tauchten die orthodoxen Kritiken wieder auf. Vier Jahre zu spät durchschaute das VS Ben Bella und die FLN. Es machte Pablo zum Sündenbock für Fehler, die alle seine Führer gemeinsam begangen hatten.

Das Dezember-Plenum des IEC 1969 argumentierte, daß die 'Pablo-Tendenz'

"... den Massenmobilisierungen im Wesentlichen die Rolle der Unterstützung der Ben Bella-Tendenz und der Ausführung des FLN-Programms übertrug, indem sie, anstatt die Notwendigkeit für das städtische und ländliche Proletariat und die armen Bauern zu würdigen, ihre unabhängigen Machtorgane aufzubauen, an dem utopischen und nicht-marxistischen Konzept der Möglichkeit eines graduellen Wandels der Natur des Staates festhielt".

Was immer uns das IEK glauben machen will, dies war das Programm des gesamten VS in der ersten Hälfte der 60er Jahre, nicht nur Pablos! Die Resolution gab auch zu - 5 Jahre zu spät -, daß das VS "die Enge der sozialen Basis, auf die sich das Ben Bella Team stützte, nicht richtig einschätzte ... die dringende Notwendigkeit des Aufbaus unabhängiger Organe der politischen Macht durch das städtische und ländliche Proletariat nicht genügend betonte", und daß man "die Notwendigkeit, zuerst unter der Basis für den Aufbau einer revolutionären marxistischen Organisation, die mit den algerischen Massen verbunden ist, zu arbeiten", betonen hätte sollen. Wie ernst diese "Selbstkritik" seine zukünftige Politik beeinflußte, wird durch die VS-Linie zu Nikaragua augenfällig gezeigt.

Linke Mitglieder des VS verteidigen häufig ihre Organisation, indem sie auf diese verspätete und halbherzige Selbstkritik hinweisen und sagen, "besser spät als gar nicht". Aber "spät" ist nur dann besser als "nie", wenn die Lehren der Fehler gezogen werden und wenn dieselben Fehler nicht wiederholt werden. Aber die Geschichte des VS ist voll von solchen nachträglichen "Korrekturen" einer opportunistischen Linie. Aber keine von ihnen wurde benützt, um die fundamentale Methode der Organisation zu verändern. Sie sind eher ein Weg für eine unverbesserlich zentristische Führung, die Spuren ihrer Aktionen zu verwischen.

"Strukturelle Reformen"

Während das "Epizentrum" der Weltrevolution als außerhalb Europas liegend und diese zu unterstützen als die Hauptaufgabe in den imperialistischen Ländern betrachtet wurde, waren die VS-Sektionen immer noch in tiefen Entrismus in den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien Europas verwickelt. Innerhalb dieser Parteien vollzogen die IS- und später die VS-Sektionen bedeutende Anpassungen an die reformistische Führungen.

Die VS-Sektionen wurden angewiesen, die Arbeiterregierungslosung zu "konkretisieren", nämlich "als Ausdruck des politischen Willens der Arbeiterklasse, nicht so wie ihn revolutionäre Marxisten haben wollen, sondern so wie er in einem bestimmten Augenblick wirklich ist". Dies bedeutete einfach, daß eine Regierung der existierenden reformistischen Führungen der Arbeiterklasse durch den Ausdruck "Arbeiterregierung" beschönigt würde. Diese Idee, die geflissentlich den Klassencharakter so einer Regierung unausgesprochen ließ - den Interessen welcher Klasse wird sie dienen? -, kommt in der gesamten Geschichte des VS immer und immer wieder vor.

In Verbindung damit unterstützte das IS die Idee, daß das Übergangsprogramm eine Serie von "strukturellen Reformen" sei, wodurch dieses vollständig seines revolutionären Inhalts beraubt wurde, eine Methode, die dann im VS fröhlich weitergeführt wurde. Während des belgischen Generalstreiks 1961 schlug Ernest Mandel, als Herausgeber von einer der Zeitungen der Sozialistischen Partei, La Gauche, ein reformistisches Programm vor, das Kürzungen der Militärausgaben, die Nationalisierung der großen Aktiengesellschaften und Kraftwerke und die "Planung" der Wirtschaft durch die Gründung eines nationalen Investitionsfonds forderte. Dieses linksreformistische Programm von "strukturellen Reformen" wurde als an die belgische Situation angepaßtes Übergangsprogramm ausgegeben!

Wieder wurde es der Logik des Kampfes überlassen, "dem revolutionären Prozeß", den Kapitalismus zu stürzen, viel eher, als der bewußten Intervention von Marxisten, die sich mit einem revolutionären Programm bewaffnen. Wie es Mandel 1967 ausdrückte:

"Entweder man steht offen innerhalb des kapitalistischen Systems ... oder man verweigert das, ergreift eine sozialistische Position, indem man das Ziel, die Profitrate zu erhöhen, zurückweist, und propagiert den einzigen alternativen Weg, d.h. die Entwicklung eines mächtigen öffentlichen Industriesektors neben dem Privatsektor. Das ist der Weg aus dem kapitalistischen Rahmen und seiner Logik heraus und leitet zu dem über, was wir strukturelle antikapitalistische Reformen nennen".

 

Wurzeln der Guerrilla-Wende

Schon während der nächsten paar Jahre wurde diese rechtszentristische Orientierung abgelöst durch eine linke, manchmal ultralinke. Die Auswirkungen des Mai 1968 und die Entwicklungen in Lateinamerika trieben das VS weg vom Weg der "strukturellen Reformen" und in die Arme von kleinbürgerlichen Radikalen, die unfähig waren, das Problem des Reformismus in der Arbeiterbewegung zu begreifen. Jedoch blieb, trotz der abrupten Linkswendung (ein Zickzack, das für den Zentrismus typisch ist), die grundlegende opportunistische Methode dieselbe. Das VS konnte vor dem Reformismus kapitulieren oder ihn durch Flüche zu zerstören versuchen, aber es konnte ihn weder bekämpfen noch überwinden.

Am 9. Weltkongreß 1969 nahm das VS eine Resolution an, worin argumentiert wurde, daß Lateinamerika "eine kontinentale strukturelle Instabilität" erlebe, "genauer gesagt eine vorrevolutionäre Situation".

Die Resolution fuhr fort:

"Lateinamerika ist in eine Periode revolutionärer Explosionen und Konflikte eingetreten, bewaffneter Kämpfe gegen die heimische herrschende Klasse und den Imperialismus, und des andauernden Bürgerkriegs in kontinentalem Maßstab".

Auf dieser Basis behauptete das VS, daß der Guerrilla-Kampf die Strategie für alle VS-Sektionen in Lateinamerika sein und das VS sich möglichst in die Strömung um Fidel Castro integrieren sollte. Die US-amerikanische SWP reagierte auf diese Resolution mit ungewöhnlicher Feindseligkeit und lancierte einen Fraktionskampf, der das VS für einen großen Teil der 70er Jahre effektiv lähmte.

In ihren vielen Polemiken gegen die europäischen VS-Führung präsentiert die SWP gerne die Konferenzentscheidung von 1969 als den Beginn der guerrillaistischen Anpassung der VS-Führer Mandel, Maitan und Frank. Diese Ansicht ist nur teilweise richtig. Obwohl der 9. Kongreß sicherlich die Kodifizierung dieser Linie markierte, hatten sowohl das IS wie die SWP schon seit den späten 50er Jahren den Guerrilla-Kampf - wie er von Mao und Castro praktiziert wurde - als ein entscheidendes Element des "revolutionären Programms für die imperialisierte Welt" betrachtet.

Die unkritische Unterstützung der Guerrilla-Strategie, die Castro und Mao zur Machteroberung verwendeten, war eine vollständige Abwendung vom marxistischen Zugang zu solchen Taktiken. Die marxistische Position zum Guerillakrieg und zum "bewaffneten Kampf" jeglicher Sorte besagt, daß, obwohl wir keine Taktik im Klassenkampf prinzipiell ausschließen, es entscheidend ist, daß sich jede Taktik in vollständiger Übereinstimmung mit unserer Strategie befindet, nämlich der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse.

Die entscheidenden Kräfte der Arbeiterklasse, in den Fabriken, Werkstätten und Bergwerken, entwickeln (geführt von einer revolutionären Partei) den bewaffneten Kampf gegen die Bourgeoisie in der Form bewaffneter Arbeitermilizen. Der Weg dorthin führt über Verteidigungsgruppen von Streikposten, bewaffnete Verteidigung von Arbeiterbezirken, von Streikaktionen und Demonstrationen. Das ist mit revolutionärer Arbeit unter den einfachen Soldaten zu kombinieren, mit dem Ziel, zuerst die Unzufriedenheit zu fördern und schließlich, wenn sich der Klassenkampf entwickelt, die Truppe für die Seite der Arbeiter zu gewinnen. Das läuft darauf hinaus, die bürgerliche Armee zu zersetzen.

Sicherlich kann der ländliche Guerillakrieg eine untergeordnete Taktik sein, besonders wo die Bauern- und die Kleinfarmerklasse einen bedeutenden oder sogar vorwiegenden Teil der Bevölkerung ausmacht. Aber auch hier muß so ein Kampf engstens mit der proletarischen Partei verbunden und der Eroberung der Arbeitermacht untergeordnet sein. Die Guerrilla-Strategie von Castro und Mao baute niemals auf so einer Konzeption auf. Der wirkliche Kampf sollte am Land stattfinden, gestützt auf die Bauernschaft. Die Kämpfe der Arbeiter in den Städten wurden bestenfalls als nützliche Beigaben aufgefaßt. Tatsächlich betrachtete der lateinamerikanische Guerillaismus politische Aktionen in den Städten traditionellerweise als Methoden zur Rekrutierung von Arbeitern und Studenten aus den Städten heraus in die Berge.

Die besondere Natur des Guerrillakampfes, sei es ländlicher oder städtischer (wie im Falle der uruguayanischen Tupamaros oder der IRA), erfordert auch Geheimhaltung und die Organisierung der bewaffneten Kräfte isoliert von den Massen, außer vielleicht in den letzten Momenten, wo der Kampf das Ausmaß des Bürgerkriegs annimmt. Sogar dann erzeugt aber die Tatsache, daß der Kampf einer Minderheit von Kämpfern überlassen wird, die sich normalerweise außerhalb der Städte aufhalten, Passivität genau unter jenen Schichten, die für ihre eigene Befreiung kämpfen sollten.

Es ist daher keine Überraschung, daß diese elitäre und individualistische Kampfkonzeption ihre glühendsten Befürworter in den Bewegungen der kleinbürgerlichen Nationalisten findet, wie z.B. der 26. Juli-Bewegung, der IRA, der ETA oder der PLO, und in den kleinbürgerlichen, intellektuellen Zirkeln, in denen das VS in den späten 60er und in den 70er Jahren eingetaucht war. Wo die Stalinisten solche Taktiken annahmen, gaben sie jede Arbeit in den proletarischen Stadtvierteln auf, um statt dessen die Bauernschaft zu mobilisieren und sich auf sie zu stützen - eine kleinbürgerliche Strategie.

"Siege" von solchen Bewegungen sind daher niemals proletarische Siege. Sie bringen entweder klassenfremde Volksfronten von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften an die Regierung, die der Erhaltung des Kapitalismus verpflichtet sind (26.-Juli-Bewegung, FLN, FSLN) - oder sie können dazu führen, daß stalinistische Parteien die Bourgeoisie enteignen und die Arbeiterklasse von der Macht ausschließen, wobei sie degenerierte Arbeiterstaaten schaffen und den Weg zum Sozialismus blockieren.

Indem es diese kleinbürgerlich-nationalistischen oder stalinistischen Guerrillabewegungen als "sozialistisch" und "revolutionär" beschönigte, gab das VS ein weiteres Mal das marxistische Programm auf. Diese opportunistische Anpassung verstärkte sich 1967 durch zwei miteinander verbundene Ereignisse: dem Versuch der Kubaner in Bolivien, eine Guerrilla-Kampagne zu eröffnen und der Gründung der Organisation für lateinamerikanische Solidarität (OLAS).

Che Guevara, romantisches Revolutionssymbol für viele pubertäre Revolutionäre jeden Alters, verließ Kuba 1966. Isoliert von den Massen, komplett ohne Kontakt mit dem wirklichen "Fokus" der bolivianischen Revolution - der bolivianischen Arbeiterklasse des Altiplano -, bezahlte Guevara 1967 den Preis mit seinem Leben. Die "Neue Linke" hatte nun ihren Märtyrer und Ches Poster schmückte die Wände von tausenden Studentenzimmern. Das VS reihte sich in die Trauerreden ein, zog aber keinerlei kritische Schlußfolgerungen aus diesem Ereignis. Ganz im Gegenteil.

Guevaras Intervention in Bolivien war keine individuelle Initiative. Er nahm 16 kubanische Offiziere mit, 4 von ihnen waren Mitglieder des ZK der kubanischen KP. Seit Anfang 1966 hatte Castro dem Kreml signalisiert, daß er mit dessen Unterstützung für das isolierte und bedrohte Kuba unzufrieden war. Zu der "Trikontinentalen Konferenz" im Jänner 1966 in Havanna lud Castro neben den nationalen KPen auch Guerrillagruppen aus Lateinamerika ein, von denen viele ihren lokalen KPen feindlich gegenüberstanden.

Im Juli 1967 hatte er die erste Konferenz der OLAS einberufen, die 160 Delegierte von "fidelistischen" Organisationen aus ganz Lateinamerika zusammenbrachte. Schon zuvor hatten die Kubaner offen den guerrillaistischen Flügel der venezolesischen KP unterstützt, die von Douglas Bravo geführt wurde und die sich von der pro-Moskau Führung abgespalten und diese angeprangert hatte.

Joe Hansen, der von der SWP als Beobachter zu der Konferenz gesandt worden war, erklärte, daß für die revolutionäre Avantgarde "ein großer Fortschritt verbucht werden konnte". Hansen bemerkte zustimmend, daß die OLAS das Ingangsetzen eines Guerillakrieges als Schlüsseltaktik betrachtete:

"Die Frage des bewaffneten Kampfes wurde so von der OLAS-Konferenz als die entscheidende Trennungslinie zwischen Revolutionären und Reformisten im kontinentalen Maßstab betrachtet. In dieser Hinsicht widerspiegelte sie die bolschewistische Tradition".

Natürlich spiegelte sie nichts derartiges wider. Guerillakrieg, zu Unrecht als "der bewaffnete Kampf" bezeichnet, ist an und für sich keine bolschewistische Methode. Er ist die Methode der revolutionären Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie. OLAS selbst traf sich unter dem Zwillingsportrait von Guevara und Bolivar!

Die angeblich bolschewistische Position Castros verführte Hansen, zu phantasieren:

"Die OLAS-Konferenz bedeutet daher einen wichtigen ideologischen Fortschritt und vermittelt den revolutionären Marxisten in aller Welt eine große Ermutigung. Eine ihrer ersten Konsequenzen wird es sein, die Umgruppierung der revolutionären Kräfte in Lateinamerika zu erleichtern. ... Die Wende, die die OLAS-Konferenz markierte, paßt zu den politischen Realitäten Lateinamerikas und zu der dringenden Notwendigkeit, eine revolutionäre Führung aufzubauen, die fähig ist, die Lehren der kubanischen Revolution korrekt aufzuarbeiten und im kontinentalen Maßstab anzuwenden".

Moreno stimmte ebenso in die unkritische Anhimmelung der OLAS ein und erklärte sie zum "einzigen organisatorischen Vehikel zur Macht", genauso wie die Europäer.

Nur zwei kurze Jahre lagen zwischen dieser offensichtlichen Einmütigkeit im Kielwasser der OLAS-Konferenz und dem Fraktionskampf, bei dem Hansen und Moreno die Opposition gegen die Unterstützung des 9. Kongresses für "die Strategie des Guerillakrieges" und dessen erklärtem Ziel "der Fusion mit der Strömung um die OLAS" anführten. Was bewegte sie, von ihren früheren Positionen Abstand zu nehmen?

Der zunehmende Linksradikalismus des VS

Trotz Hansens und Morenos großer Hoffnungen für die OLAS war Castros Linksschwenk nur von kurzer Dauer. Die Havanna-Konferenz von 1967 war das erste und letzte Treffen der OLAS. Im Oktober 1967 war Che Guevara im bolivianischen Dschungel ermordet worden. Der Guerrilla-Focus war zerschlagen. Dieses Desaster, zusammen mit dem ökonomischen Druck von Seiten der SU, die ihre Öllieferungen reduzierte, beendete rasch Castros Flirt mit der Ausbreitung der lateinamerikanischen Revolution mittels des Guerrillakrieges. 1968 befürwortete er den sowjetischen Einmarsch in der Czechoslovakei und machte Annäherungen an die neue Militärregierung in Peru.

Sowohl Hansen als auch Moreno konnten sehen, woher der Wind blies, als Castro Schritt für Schritt seine ehemaligen guerrillaistischen Verbündeten fallenließ. Der unerschütterliche Enthusiasmus der europäischen VS-Führung für den Guerrillakampf und die Richtung, in die dies die lateinamerikanischen und europäischen Sektionen trug, motivierte die Entwicklung einer Oppositionstendenz unter der Führung von Hansen und Moreno.

Hinter den Entscheidungen des 9. Kongresses von 1969 lag eine Reihe von Faktoren, die das VS und andere zentristische Strömungen Ende der 60er Jahre nach links trieben. Der Aufruf Castros, die Revolution auszudehnen, die maoistisch geführte "Kulturrevolution", der verschärfte Kampf der Vietnamesen gegen den US-Imperialismus, all dies bildete den Antrieb zur Radikalisierung einer ganzen Generation. Die Explosion in Paris im Mai 1968 löste die Radikalisierung von Studenten und Jungarbeitern in ganz Europa aus.

Dieser radikale Wind der Veränderung blähte die Segel verschiedener zentristischer Strömungen, auch des VS. Einzelne Sektionen wuchsen rasch, indem sie wichtige Schichten der Jugend rekrutierten. Dies galt besonders für die französische Sektion, die damals als Ligue Communiste (LC) bekannt war. War sie vorher eine unsichtbare, entristische Gruppe, die sich vollkommen in der PCF eingegraben hatte, so trat sie nun in das Scheinwerferlicht der Pariser Barrikaden und wurde die größte Sektion des VS.

Die Neugewonnenen waren jedoch häufig bei weitem keine "Trotzkisten", sondern waren von maoistischen und guevaristischen Konzeptionen stark geprägt, die zu dieser Zeit in der zentristischen Linken vorherrschten. In der Tat: gerade weil diese Politik im VS ein starkes Echo gefunden hatte, war es diese Organisation, die zahlenmäßig am meisten in dieser Periode der Radikalisierung gewann.

Die politische Instabilität in vielen VS-Sektionen in der Zeit des 9. Kongresses zeigte sich deutlich darin, daß bei der Gründungskonferenz der LC 1969 mehr als ein Drittel der Delegierten gegen einen Anschluß an das VS stimmte. Viele dieser Delegierten organisierten später eine maoistische Abspaltung, die sich "Revolution" nannte.

Der Linksschwenk in Europa bedeutete für die VS-Sektionen die Aufgabe ihres tiefen Entrismus und ihrer damit verbundenen Perspektive, in den reformistischen Parteien für "strukturelle Reformen" zu kämpfen. Der neue Schwenk führte zur Anpassung an das radikalisierte, studentische Milieu. Der 9. Weltkongreß sollte "die spezielle Rolle" beschreiben, "die die Universitäts-, Schul- und Arbeiterjugend als 'Sprengkopf' und Speerspitze der Bewegung spielte". Dies war die "neue Jugendavantgarde", auf die sich die europäischen Sektionen orientierten.

In der Praxis bedeutete dies die Abwendung vom Kampf in den Gewerkschaften, in den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien. Die Aufgabe wurde eine der Schaffung von "roten Universitäten" und "roten Basen", wo die Studenten als "Zündköpfe" für revolutionäre Explosionen, die die Arbeiter einbeziehen würden, organisiert werden konnten. Die Arbeiter, auf die man sich orientieren sollte, waren - wie es die 9. Kongreßresolution ausdrückte – "eine neue Generation von jungen Arbeitern", die "viel größere Freiheiten der Initiative und der Aktion genießen, weil sie großteils aus der Kontrolle der traditionellen Organisationen ausgebrochen sind".

Diese Linie repräsentierte tatsächlich einen Rückzug vom Kampf gegen die reformistischen Führer. Sowohl die sozialdemokratischen, als auch die stalinistischen Parteien behielten ihre Hegemonie über die europäische Arbeiterklasse. Die Lehren, die aus dem Pariser Mai 1968 gezogen wurden, waren das genaue Gegenteil von denen, die von Marxisten hätten gezogen werden sollen. Der französische Generalstreik und sein Verrat durch die Stalinisten zeigte die Wichtigkeit, den Zugriff des Stalinismus im Herzen der Arbeiterbewegung zu bekämpfen. Das VS entschied sich statt dessen zu versuchen, ihn zu umgehen - von der "Peripherie zum Zentrum" - , indem es Studenten und Arbeiterjugendliche mobilisierte, um diese mit den "Dritt-Welt-Kämpfen" zu verbinden.

Unter den Führern und Mitgliedern der europäischen Sektionen tauchten noch wild-abenteuerlichere und ultra-linkere Positionen auf. 1971 schrieb ein Teil der französischen Führer, einschließlich eines Mitglieds des IEC (Jebrac), ein Dokument, das tatsächlich von den europäischen Sektionen verlangte, den Stadtguerrillakampf aufzunehmen. Obwohl Mandel und andere damit nichts zu tun haben wollten, wurde klar, daß innerhalb der europäischen Sektionen eine starke guerrillaistische Tendenz heranwuchs, die auf einer verwirrten Bewunderung von Guevara und der Vietnamesen beruhte und ihrem Wesen nach grundlegend kleinbürgerlich war.

In der IMG, der damaligen britischen Sektion, blühten ultralinke Positionen zur Labour Party und zur IRA. In der Zeitung, die die IMG mitherausgab, Red Mole, erschien 1970 ein wichtiger Artikel von Robin Blackburn, der dazu aufrief, Wahlveranstaltungen der Labour Party mit den Methoden der direkten Aktion, wie sie in den Studentenkämpfen entwickelt worden waren, zu stören und zu verhindern. Selbst die sanft kritische Antwort des Sekretärs der IMG konnte sich nicht zu einem Wahlaufruf für die Labour Party durchringen. In Frankreich fand eine Reihe von Bombenanschlägen auf Geschäfte statt, die von Rouge, der Zeitung der französischen Sektion, lauthals begrüßt wurden.

Im Juni 1973 startete die Ligue Communiste einen abenteuerlichen Angriff auf ein Faschistentreffen, das von einem riesigen Verband der Aufstandspolizei bewacht wurde. Während der nächsten paar Tage wurden die Büros der Ligue und dutzende Wohnungen von Mitgliedern überfallen, zwei Führer verhaftet und die Organisation verboten. Sie tauchte erst ein Jahr später, als Ligue Communiste Revolutionaire (LCR), wieder auf. Während all dies vielleicht das Gewissen einiger kleinbürgerlicher "Revolutionäre der Tat" beruhigte, leistete es nichts, um die Arbeiterklasse aus dem Würgegriff des Stalinismus zu befreien.

All dies verursachte in der SWP-Führung wachsende Besorgnis. Nicht nur zog sich Castro von seiner Unterstützung der Guerrilla-Strömungen zurück, sondern es gab eine zunehmende Hinwendung des SWP-Umfeldes zu "bewaffneten Aktionen", die zu bekämpfen und von der sich zu distanzieren sie für notwendig hielt. Der Weather Underground, die Black Panthers und dutzende kleine, stark vom Maoismus und spontaneistischem Individualismus beeinflußte Gruppen verspannen sich in selbstzerstörerische "bewaffnete Aktionen" gegen den Staat. Das letzte, was sich die SWP damals wünschte, war, vom FBI als "guerrillaistische" Organisation angegriffen zu werden.

Wir spotten nicht über die Tatsache, daß sich eine etwa 1000 Mitglieder starke "Propagandagesellschaft", die sich hauptsächlich aus Studenten und Angestellten zusammensetzte, nicht in einen bewaffneten Kampf mit dem US-Staat verwickeln wollte. Wir empfinden aber Verachtung für jene Zentristen, die solche Kampfmethoden überall sonst befürworten, aber ängstlich zurückschrecken, wenn sie mit der Frage zu Hause konfrontiert werden.

Der 9. Kongreß

Am 9. Kongreß begann sich die Vereinigung von 1963 schon wieder aufzutrennen, obwohl bei diesem Kongreß die Tiefe der zukünftigen Differenzen noch nicht sichtbar war. Damaligen VS-Berichten zufolge waren 98 Delegierte aus 30 Ländern anwesend. Die Thesen über "Der neue Aufschwung der Weltrevolution" wurden einstimmig angenommen. Diese Resolution beschäftigte sich hauptsächlich mit der Situation der berühmten "drei Sektoren der Weltrevolution" und wie das VS die "neue Jugendavantgarde" - hauptsächlich Studenten -, die in der Folge des Mai 1968 mobilisiert worden waren, gewinnen würde.

Die Hauptdifferenzen, die am Kongreß ausgedrückt wurden, gruppierten sich um die Resolutionen zu Lateinamerika und zur chinesischen Kulturrevolution. Letztere drehten sich um die Differenzen zum Wesen des Maoismus, die 1963 unter den Teppich gekehrt worden waren. Eine Zeit lang hatten Mandel, Maitan usw. zugestimmt, daß eine politische Revolution notwendig sei - aber nur, weil Mao gesagt hatte, daß er gerade eine anführe - die "Kulturrevolution"! Als Mao wieder fest im Sattel saß, kehrten sie einmal mehr zu ihrer alten Position zurück. Für die SWP waren die Differenzen über Lateinamerika und die Guerrilla-Strategie ernster.

Hansen und die SWP gaben ihre Kuba-Position nicht auf, in der sie rückblickend die Methode des Guerrillakampfes, wie sie von Castro verwendet worden war, befürwortet hatten. In einer seiner Polemiken von 1971 zitierte Hansen stolz aus dem Vereinigungsdokument von 1963:

"Guerillakampf, getragen von landlosen Bauern und halbproletarischen Kräften, unter einer Führung, die sich zunehmend der Durchführung der Revolution bis zum Abschluß verpflichtet, kann eine entscheidende Rolle bei der Unterminierung und bei der Beschleunigung des Falls einer kolonialen oder halbkolonialen Macht spielen. Das ist eine der Hauptlektionen, die aus den Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden muß. Sie muß bewußt in die Strategie des Aufbaus marxistischer Parteien in kolonialen Ländern einbezogen werden."

Der Haupteinwand der SWP gegen die Resolution war, daß die "Europäer", besonders Maitan, den Guerrillakampf in eine Strategie verwandelten.

"Die Minderheit meint, daß es in der revolutionären Strategie vorrangig ist, eine Kampfpartei aufzubauen: zum Guerrillakampf Zuflucht zu suchen, sollte als sekundäre taktische Frage betrachtet werden."

Warum wurde also der Fraktionskampf so bitter? Ein Grund war die Befürchtung der SWP, daß dieses Programm auf die imperialistischen Länder verallgemeinert werden - und damit sie selbst betreffen könnte. Als "Taktik" für einige oder alle lateinamerikanischen Länder war es akzeptabel. Als Strategie für die ganze Internationale wollte es die SWP nicht haben. Wie es Hansen in seinem Bericht im Juni 1969 am 9. Kongreß argumentierte:

"Wenn (der Guerrillakampf) als taktische Frage betrachtet wird, dann ist der Gebrauch des Guerrillakampfes von jeder Sektion zu entscheiden und in eine breitere Strategie einzubetten". Keine Anordnungen von "einigen Burschen in Paris", wie es Cannon ausdrückte.

Dies war mit der grimmigen Opposition der SWP gegen die neuen Statuten des VS, die am Kongreß 1969 vorgeschlagen wurden, verbunden. Diese stellten fest:

"Die öffentliche Darstellung von wichtigen Differenzen mit dem Programm des VS oder mit der politischen Linie, die mehrheitlich auf einem Weltkongreß angenommen worden ist" sollte ein disziplinäres Vergehen sein.

Hansen beklagte, daß die Mehrheit "ein Konzept einer hochzentralisierten Internationale befürwortete, die ermächtigt ist, in das Leben der Sektionen in kräftiger und gewaltsamer Weise einzugreifen". Wie die ganze Geschichte der SWP zeigt, ist der demokratische Zentralismus ein Greuel für unsere "orthodoxen" Genossen.

Aber 1969 vertrat Hansen noch eine optimistische Sichtweise. In seinem Bericht an die SWP über den 9. Kongreß erklärte er, daß die Diskussionen über die strittigen Fragen "reich und erzieherisch" wären. In Wirklichkeit wurden die Debatten zunehmend verbittert. Zwischen dem 9. Kongreß und dem offiziellen Ende des Fraktionskampfs 1977 ergriff der Konflikt rasch viele andere, vom Guerrillakampf unabhängige Fragen. Der Vietnamkrieg, die Natur des Stalinismus, die nationale Frage, die Frauenfrage, die chinesische Kulturrevolution, die portugiesische Revolution, der Kontakt mit anderen "trotzkistischen" Gruppen, der demokratische Zentralismus und die Natur der Vierten Internationale waren alles Themen hitziger polemischer Auseinandersetzungen, wobei die wichtigsten Kampflinien mit jenen zwischen den IS/IC-Bestandteilen der 1963er Fusion zusammenfielen.

Die SWP und Morenos lateinamerikanische Unterstützer schlossen sich auf der einen Seite - zumindest bis 1975 - als Leninist-Trotskyist-Tendency (LTT) zusammen und die europäischen Führer mit einer Mehrheit der Mitglieder auf der anderen, als International Majority Tendency (IMT). Anschuldigungen des Fraktionalismus kamen schnell und grob von beiden Seiten, da das innere Funktionieren des VS zum Stillstand kam. Weltkongresse, die alle drei Jahre stattfinden sollten, wurden nur alle fünf oder sogar sechs Jahre abgehalten (1974, 1979, 1985). Das IEK (Internationale Exekutivkomitee) sollte sich zumindest zweimal pro Jahr treffen, trat aber häufig nicht einmal jährlich zusammen.

Bolivien und Argentinien: Guerrilla-Linie in der Praxis

Es war in Bolivien und in Argentinien, wo die Linie des 9. Kongresses bis zur Vernichtung ausprobiert wurde. Die Polemiken darüber, welche Lehren aus diesen Ländern zu ziehen seien, bestimmten die Debatten im VS bis Mitte der 70er Jahre.

Livio Maitan, Mitglied des VS mit besonderer Verantwortlichkeit für Lateinamerika in den späten 60er und frühen 70er Jahren, meinte, daß es notwendig wäre, die Arbeit der Internationale jenen Gebieten der Welt unterzuordnen, in denen ein "Durchbruch" möglich wäre. Während der Vorbereitung des 9. Kongresses erklärte er:

"... es ist notwendig zu verstehen und zu erklären, daß die Internationale in der momentanen Entwicklungsstufe rund um Bolivien aufgebaut wird".

Weit davon entfernt, aus dem Debakel Guevaras in Bolivien die Schlußfolgerung zu ziehen, daß derartiger Guerrillakampf nur zur Katastrophe führen kann, kam die Mehrheit des VS zur umgekehrten Überzeugung. In einem unglaublichen Kunststück von doppeltem Denken argumentierte er:

"Die Ereignisse, die der Niederlage der Guerrillas gefolgt sind, haben gleichzeitig Guevaras fundamentale Anschauungen bekräftigt".

Mit dieser Perspektive "bewaffnete" der 9. Kongreß seine bolivianische Sektion, die Partido Obrero Revolutionario, nach ihrem Führer Hugo Gonzales Moscoso als POR(Gonzales) bekannt. Es wurden Verbindungen zu der Nationalen Volksarmee (ELN) hergestellt, einer Guerrillaorganisation, deren Ursprünge auf Guevaras Gruppe zurückgingen und die sich vollständig mit der "Foco-Strategie" der ursprünglichen ELN identifizierte. Die POR(Gonzales) beschäftigte sich ausschließlich mit militärischen Vorbereitungen. Die politische Perspektive, die für Bolivien zur Rechtfertigung der militärischen Strategie angenommen wurde und die keinerlei Möglichkeit für legale oder halblegale Massenarbeit in den Gewerkschaften sah, wurde schon bald durch die Ereignisse von 1970/71 grob erschüttert.

Der Tod des Diktators General Barrientos führte zu einem Aufschwung der Gewerkschaftskämpfe. Wachsende Massenmobilisierungen führten 1970 zu einem Putschversuch von rechten Generälen. Als die Massen, einem Generalstreiksaufruf des Gewerkschaftsdachverbandes COB folgend, auf die Straßen strömten, fiel das Militärregime auseinander. Das Ergebnis war das "linke" Militärregime des Generals Torres, das von einem "Politischen Komitee", bestehend aus dem COB und verschiedenen Linksparteien, unterstützt wurde.

Die POR (Gonzales) war von diesen Massenkämpfen total isoliert. Statt dessen hatte sie Unterstützung für den Beginn eines Guerrillakampfes der ELN in Teoponte organisiert und ihre eigenen Guerrillaaktionen vorbereitet. Die Teoponte-Front, die im Juli 1970 eröffnet wurde, war eine komplette Katastrophe. Die 75 daran beteiligten Guerrillas wurden von der Armee massakriert. Nur 8 entgingen den Exekutionen der Armee.

Trotz der Massenkämpfe der Arbeiter 1970/71 beharrte die POR(Gonzales) auf ihrer Guerrillaperspektive. Als sie schließlich 1971 die Bedeutung der "Volksversammlung" (Assamblea Popular) anerkannte - ein Organ, das den COB, politische, studentische und bäuerliche Organisationen zusammenbrachte - , geschah dies nur, um darin Propaganda für die Notwendigkeit, einen "Volkskrieg" zu organisieren, zu machen. Selten erwies sich eine politische Linie so rasch als bankrott wie die Entscheidungen des 9. Kongresses. Aber in Argentinien kam es noch schlimmer.

Die Revolutionäre Arbeiterpartei (PRT) war 1964 als Produkt der Fusion zwischen Nahuel Morenos Gruppe, die mit dem IK gebrochen hatte und nun in politischer Solidarität mit dem VS war, und einer offen castroistischen Strömung, der FRIP, gegründet worden. 1968 jedoch stellte sich Moreno gegen den Guerrillaismus, den er vorher genährt hatte, und eine Abspaltung des pro-castristischen Flügels war die Folge. Moreno führte nun die PRT(Verdad), während der andere Flügel von Mario Roberto Santucho geführt und als PRT(Combatiente) bekannt wurde. Beide Gruppen besuchten den 9. Kongreß und ersuchten, als offizielle Sektion anerkannt zu werden.

Für die alte IS-Führung in Europa war es keine Frage, daß die PRT(C) die offizielle Sektion werden sollte, da sie sich vollständig mit der Guerrilla-Strategie identifizierte. Als Moreno aufzeigte, daß die PRT(C) nicht "trotzkistisch" sei, verneinte die VS-Führung dies. (Natürlich befand sich Moreno hierbei nicht gerade auf sicherem Boden, war die PRT(C) doch einige Jahre zuvor sein Fusionspartner gewesen).

Sicherlich, die PRT(C) behauptete nicht einmal, daß sie trotzkistisch sei. Ihr Gründungsdokument von 1968 hatte festgestellt, daß ihr Ziel die Zusammenführung der Strömungen des Trotzkismus, Maoismus und Castroismus sei. Aber solche Positionen waren nicht Lichtjahre von jenen entfernt, die der 9. Kongreß annahm, als er für die "Integration mit der historisch revolutionären Strömung" aufrief, "die die kubanische Revolution und die OLAS repräsentiert"! Ebensowenig erkannte die PRT(C) das VS als eine revolutionäre Internationale an - eine eigenartige Einstellung für eine Sektion der "Weltpartei der Sozialistischen Revolution"!

Die Entwicklung des Fraktionskampfs

Bei ihrem 5. Kongreß kündigte die PRT(C) "ihre Absicht" an, "die Proletarisierung der Internationale herbeizuführen, sie in eine revolutionäre Internationale zu verwandeln und für ihre Ausrichtung auf die Bildung einer neuen revolutionären Internationale zu kämpfen, die sich auf die chinesischen, kubanischen, koreanischen, vietnamesischen und albanischen Parteien stütze".

Nichts von alledem verhinderte, daß die PRT(C) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der VS-Führung rückte, da sie eine neue Möglichkeit eines "Durchbruchs" eröffnete. Maitan, der sicher in seinem Professorenbüro an der Universität Rom saß, ermutigte die junge PRT(C)-Führung, einen Guerrillakrieg zu führen.

1970 rief diese Führung um Santucho die "Revolutionäre Volksarmee" (ERP) ins Leben. Während der nächsten vier Jahre ließ sich die ERP auf eine Reihe von immer tollkühner werdenden Aktionen ein, die mit der faktischen Zerstörung der Organisation endeten und zur Ermordung von hunderten Revolutionären durch die Armee führten. Maitan spürte nicht nur, daß diese junge Führung mehr auf seiner politischen Wellenlänge lag als sein alter Gegenspieler Moreno, sondern daß sie auch formbarer war. Während des ganzen nächsten Jahrzehnts ermutigte und verteidigte Maitan beständig die Santucho-Führung, selbst in einigen ihrer recht eigenartigen Äußerungen und verheerenden Aktionen, und zwar in einem Ausmaß, daß er sich sogar weigerte, für die "Selbstkritik" an der Guerrilla-Wende zu stimmen, die Mandel und der Rest der VS-Mehrheit Ende 1976 vorbrachten.

Wie in Bolivien wurde auch in Argentinien die Guerrilla-Linie in einer Periode vertreten, als die Militärdiktatur unter den zunehmenden Druck von Arbeitermobilisierungen geriet. Im Mai 1969 brachen in Cordoba eine Massenerhebung und ein Generalstreik aus, denen weitere Massenstreiks an anderen Orten folgten. 1971 gab es eine zweite Erhebung in Cordoba, die eine Änderung der Regierung bewirkte und General Lanusse mit dem Versprechen einer Rückkehr zu einer Zivilregierung an die Macht brachte.

Während dieser Massenkämpfe konzentrierte sich die ERP, genauso wie die verschiedenen peronistischen Guerrillabewegungen, auf ihre bewaffneten Aktionen. Die ERP schritt, dem Beispiel der Stadtguerrilla der uruguayanischen Tupamaros folgend, von der "Befreiung" einzelner Milchwägen und der Verteilung der Beute in den Barackenbezirken zur "Kriegserklärung" an den argentinischen Staat! Banküberfälle häuften sich, politische Treffen wurden unter Waffenschutz in Fabriken abgehalten, Manager wurden zur Erpressung von Lösegeld entführt, das dann für die Verteilung von Nahrungsmitteln an die Armen verwendet wurde.

Diese "Robin Hood-Taktiken" mögen der PRT(C) vorübergehend einige Popularität eingebracht haben, aber sie leisteten nichts, um ihnen in den wachsenden Kämpfen in den Fabriken und Gewerkschaften Einfluß oder nur Gehör zu verschaffen. Im März 1972 entführten sie Oberdan Sallustro, den Generaldirektor von Fiat Concord, und exekutierten ihn einige Wochen später, als ihre Lösegeldforderungen nicht erfüllt wurden. Dies war, zusammen mit den bolivianischen Ereignissen, zu viel für die SWP. Sie verurteilte öffentlich die Erschießung, die in der Presse vieler VS-Sektionen begrüßt worden war.

Die SWP argumentierte, daß solche Aktionen, isoliert von der Massenbewegung und nicht in einer Bürgerkriegssituation durchgeführt, von Marxisten als "Terrorismus" bezeichnet würden und nichts mit der marxistischen Taktik des bewaffneten Kampfes zu tun hätten. Die europäische Führung antwortete, daß die SWP "Nachtrabpolitik" betreibe und nicht gewillt sei, die Massen in ihrem Bedürfnis nach bewaffneten Aktionen anzuführen, sondern "spontaneistisch" die Bewaffnungsfrage für die Arbeiter der "Lösung" durch den Aufstand überlasse.

Dies war der Hintergrund für das IEK-Treffen im Dezember 1972, das den gegnerischen Tendenzen Auftrieb gab. Die IMT, die im großen und ganzen aus der alten IS-Führung bestand, verurteilte die SWP-Position und verbot anderen Sektionen, sie zu veröffentlichen. Jedoch selbst Mandel und Maitan sahen sich gezwungen, einige Kritik an der Linie der PRT(C) von 1972 vorzubringen.

Als die PRT(C) den Weg zur reinen Stadtguerrilla und weg vom VS weiterging, wurde sie zunehmend von Fraktionen zerrüttet. Die Delegierten zum 9. Kongreß waren bereits ausgeschlossen und 2/3 ihres damaligen Zentralkomitees waren entweder ausgeschlossen oder ausgetreten. In einem Brief von 6 IEK-Mitgliedern (einschließlich Mandel, Frank und Maitan) an die PRT(C) im Oktober 1972 wurde eine erste vorläufige Kritik an dieser Organisation geäußert. Jedoch erklärten sie weiterhin, daß die Linie der PRT(C)/ERP "eine unzweifelhafte Errungenschaft für die trotzkistische und revolutionäre Bewegung darstellt".

Dieses Vertrauen wurde von der PRT(C) schlecht belohnt. Die Führung brandmarkte das VS für dessen Versuch, in ihren Reihen eine Fraktion aufzubauen. Nachdem sie bereits öffentlich erklärt hatten, daß sie keine Trotzkisten mehr seien, brach das Zentralkomitee im Juli 1973 formell mit dem VS. Ihr Führer Santucho war bereits in Kuba, wo er fortfuhr, eine "Revolutionäre Koordinationsjunta" zu gründen, eine Organisation, die die bolivianische ELN, die chilenische MIR und die Tupamaros von Uruguay einschloß. Santucho wurde später (1976) bei einer bewaffneten Aktion in Buenos Aires durch das argentinische Militär getötet.

Der Abfall der PRT(C) war für die IMT ein schwerer Schlag, zumal sie in einen Fraktionskampf verwickelt war. Bei der IEK-Tagung im Dezember 1972 waren kritische Resolutionen über die Bilanz der VS-Sektionen bei der Verwirklichung der Beschlüsse des 9. Kongresses vorgelegt worden. Sie waren gemeinsam von Joseph Hansen, Hugo Blanco, Nahuel Moreno, Peter Camejo und Anibal Lorenzo verfaßt. Sie wurden gemeinsam mit dem Vorschlag der Minderheit, den 1974 fälligen 10. Kongreß zu verschieben, abgelehnt. Im März 1974 wurde die LTT gegründet, die großteils aus dem alten IK-Flügel von vor der Fusion bestand. Im August verwandelte sich die LTT in die leninistisch-trotzkistische Fraktion (LTF), die nicht mehr nur eine Änderung der Linie zum Guerrillakrieg, sondern die Führung des VS anstrebte.

Das Hauptargument, mit dem die LTF ihre Verwandlung in eine Fraktion zu rechtfertigen versuchte, war, daß die IMT praktisch als "Geheimfraktion" fungierte. Hansen drückte dies auf eine Weise aus, die Cannons Entdeckung von 1953 nachäffte, daß eine geheime Pablo-Clique die Internationale "übernommen" hätte:

"Später wurde entdeckt, daß die IEK-Mehrheitstendenz tatsächlich als Geheimfraktion arbeitete; d.h. auf einer unausgewiesenen Grundlage. Es wurde außerdem entdeckt, daß einige ihrer Führer in Richtung einer Spaltung der 4. Internationale arbeiten wollten."

Diese unpolitische Antwort auf die IMT-Manöver kennzeichnete einen klaren Niedergang in der Qualität der LTF/SWP-Polemiken. Hansens letzter wichtiger Artikel wurde vor der Bildung der LTF geschrieben und das Feld wurde zunehmend der neuen SWP-Führung um Jack Barnes und Mary-Alice Waters überlassen, grauen Apparatschiks, für die die Organisationsfrage alles dominierte. Formelle, rechtsanwaltliche Argumente ersetzten die politische Debatte. Unbewiesene Behauptungen über geheime Treffen, geheime Briefe und organisatorische Manöver füllten die Seiten der LTF-Artikel. Der Ton, der angeschlagen wurde, kennzeichnet im wesentlichen das interne Leben der SWP bis heute.

Im Mai 1973 bildeten Bill Massey und John Barzman die Internationalistische Tendenz (IT) in der SWP, auf der Grundlage der Unterstützung für die IMT. Die SWP-Führung, die seit dem Jahr davor in den Händen von Barnes (Nationaler Sekretär) und Barry Sheppard (Nationaler Organisationssekretär) lag, war davon nicht angetan. Beim SWP-Konvent im August 1973 verweigerte die Nominierungskommission der IT jeglichen Platz im SWP-Nationalkomitee. Die hochgerühmte interne Demokratie der SWP zählte nicht viel.

Der 10. Weltkongreß

Der 10. Weltkongreß fand im Februar 1974 statt. 250 Delegierte aus 48 Sektionen, die 41 Länder vertraten, waren anwesend. Bei allen wichtigen Resolutionen, die angenommen wurden - über die weltpolitische Situation, Bolivien, Argentinien, bewaffneten Kampf in Lateinamerika, die Thesen zum Aufbau revolutionärer Parteien im kapitalistischen Europa - war der Kongreß tief nach fraktionellen Linien gespalten. Die Minderheit gegen die IMT-Positionen erreichte konstant mehr als 45% der Delegiertenstimmen. Am Kongreß bildete sich eine dritte kleine Tendenz - die Mezhrayonka-Tendenz - , die oft mit der LTF gegen die IMT stimmte.

Die "neue Jugendavantgarde" des 9. Weltkongresses hatte sich in etwas größeres verwandelt. "Eine neue Avantgarde im Massenmaßstab ist auf den Plan getreten", erklärten die Thesen des 10. Kongresses über "die Bildung revolutionärer Parteien im kapitalistischen Europa". Das schon am 9. Kongreß angenommene Thema weiterentwickelnd, gratulierte sich das VS selbst zu der Tatsache, daß die traditionellen reformistischen Massenparteien schwächer und schwächer würden.

Deren Politik verlöre an Glaubwürdigkeit. Der parlamentarische Weg würde objektiv von den breiten Massen zunehmend in Frage gestellt. Tatsächlich konnte dies nur "objektiv" sein, da derselbe Absatz eine ärgerliche subjektive Tendenz feststellte:

"Sie wählen weiterhin die traditionellen Parteien!" "Die traditionellen Führungen", so wurde den VS-Mitgliedern versichert, "könnten nicht mehr länger erfolgreich sehr große Teile der jungen Arbeiter für ihre Politik und ihre Konzepte gewinnen".

Wie der 9. Kongreß ging auch der 10. wieder über die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien hinweg bzw. drückte sich um diese herum, verkleinerte lachhafterweise deren Einfluß und übertrieb die Rolle und Stärke der "neuen Massenavantgarde".

Wie weit entfernt diese Position von der Wirklichkeit war, wird klar, wenn man sich daran erinnert, daß in demselben Jahr, in dem der 10. Kongreß stattfand, die Labour Party an die Regierung zurückkehrte, Mitterrand nur um ein Haar nicht französischer Präsident wurde, die italienische KP auf dem Weg zu ihrem größten Wahlerfolg war (34,4% 1976) und in Deutschland 1972 die Gewerkschaften und die Arbeiter spontan gegen einen parlamentarischen Mißtrauensantrag gegen die SPD/FDP-Koalitionsregierung streikten (den sogenannten Barzel-Coup).

Diese Ereignisse, die eindeutig die weiterbestehende Loyalität der Arbeiterklasse gegenüber den reformistischen Parteien zeigten, wurden nicht einmal erwähnt! Für das VS zählte nur ihr Eindruck, daß "wir den Beginn einer Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse als Ganzes sehen", was immer das bedeuten sollte.

Und was war ihr Programm, um diese radikalen Schichten zu gewinnen?

Wie 1969 hatte das VS nichts anzubieten, außer "weiterer Erziehung der Avantgarde" und "der Fähigkeit seitens der revolutionär-marxistischen Organisationen, politische Initiativen zu ergreifen, um die Reformisten aus der Bahn zu werfen", inklusive "unabhängiger Aktionen in den Betrieben". Wie am 9. Kongreß schienen lediglich einige "exemplarische Aktionen" notwendig zu sein (da die Reformisten durch den Zauberstab des VS zum Verschwinden gebracht waren), um das politische Vakuum durch das VS zu füllen. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Position, die auf die industrielle Arbeiterklasse in Europa angewendet wurde, und jener für die bäuerlichen Massen in Lateinamerika, ist augenfällig. Beides sind klassische Beispiele für die kleinbürgerlichen Unfähigkeit, die reale Dynamik des Klassenkampfs, die wirklichen Wurzeln des Reformismus und die Wege, wie er zu schlagen ist, zu verstehen.

Bei der Frage des Guerrillakampfs in Lateinamerika und insbesondere der argentinischen Frage mußte die IMT, im Lichte des Abtrünnigwerdens der PRT(C), einige kleinere Rückzieher machen. Die "erste selbstkritische Bilanz" war eine bemerkenswerte Angelegenheit. Sie stellte fest, daß die PRT(C), zu der Zeit, als sie als offizielle Sektion des VS aufgenommen worden war, Positionen vertrat, die sich "im Widerspruch zu den entscheidenden Konzepten und Analysen der 4. Internationale" befanden. Dies waren:

"... eine fehlerhafte Konzeption des Maoismus ... eine apologetische Bewertung des Castroismus: eine zentristische und eklektische Konzeption für den Aufbau der Internationale: eine opportunistische Konzeption des Kampfes gegen die Bürokratie der degenerierten Arbeiterstaaten, wofür ihre Unterstützung der Invasion der Kreml-Armeen in der CSSR typisch war, etc.".

Die Resolution erkennt weiter an, daß, "obwohl diese Positionen teilweise bekannt waren, weder der 9. Kongreß, noch die Führung der Vierten Internationalen eine politische Kritik der PRT (formulierten)".

Nach diesem atemberaubenden Eingeständnis der wirklichen Politik der PRT(C) und ihrer nachträglichen Charakterisierung als zentristisch setzt die Resolution fort:

"Die Anerkennung der PRT(C) als Sektion der 4. Internationale war gerechtfertigt!" Aber sobald wir den Atem wiedergewonnen haben, dürfte uns dies eigentlich nicht als Überraschung erscheinen. Ein beständiges Thema der mandelistischen 4. Internationale war ihre Bereitschaft, sich in zentristische Strömungen hinein aufzulösen, wenn diese nur dazu bereit wären. Das IS/VS hat, jedes zu seiner Zeit, die Rolle des unbelohnten Bittstellers bei Tito, Mao, Castro, Ben Bella und später bei den Sandinisten gespielt. Es war kein Wunder, daß es die neo-maoistische PRT(C) ohne Bedenken schlucken konnte. Programm? Strategie? Taktik? Führung? Dies wird zu völlig nutzlosem Ballast, wenn derartig unverbesserliche Zentristen eine verlockende Aussicht auf einen "großen Durchbruch" sehen.

Die Resolution zu Argentinien, die zwar die irrige Guerrilla-Strategie der PRT(C)/ERP für ihr Versäumnis kritisierte, sich selbst genügend mit den Massen zu verbinden, für "ihre ungenügende Aneignung der Theorie der permanenten Revolution" und für ihre Unterstützung einer Volksfront zwischen den Gewerkschaften und dem "progressiven Bourgeois Alfonsin" (der später Präsident wurde), konnte nichtsdestotrotz erklären, daß diese weiterhin "als die fortgeschrittenste und glaubwürdigste Option in der revolutionären Linken erschien".

Es war angesichts dieser Linie nicht überraschend, daß die PRT(V) von Moreno in der Resolution kaum erwähnt und Morenos Gruppe - trotz ihres beachtlichen Wachstums seit dem 9. Kongreß - nicht als offizielle Sektion anerkannt wurde. In der Bolivien-Resolution wurde die Linie der POR (Gonzales) bekräftigt. Und eine Resolution über den "bewaffneten Kampf in Lateinamerika" bestätigte die 9. Kongreß-Resolution über die Guerrillastrategie als "eine der Errungenschaften unserer Bewegung". Die "Vereinigung mit der castroistischen Strömung" blieb "eine zentrale Frage".

Die Resolutionen des 10. Kongresses reflektierten jedoch teilweise die Differenzen, die im VS aufgetreten waren. Vor dem Kongreß war ausgemacht worden, die Diskussionen über die chinesische Kulturrevolution, das Wesen der vietnamesischen KP und der Vietnam-Solidaritätsarbeit, über die Frauenbefreiung und den Nahen Osten beiseite zu lassen.

Im besonderen hatten Differenzen über die Vietnam-Solidaritätsarbeit zu einer wichtigen Auseinandersetzung über das Wesen der vietnamesischen KP geführt (1973-74). Die SWP war beharrlich der Anti-Kriegsbewegung in den USA nachgelaufen, hatte keine klaren defätistischen Losungen aufgestellt und nicht offen den Sieg der NLF unterstützt. Die europäischen Sektionen paßten sich ebenso stark der Solidaritätsbewegung an, in der sie arbeiteten. Sie riefen zwar korrekt für den Sieg der vietnamesische Armee auf, bezogen aber eine völlig unkritische Haltung gegenüber den vietnamesischen Stalinisten.

Sie argumentierten, daß die VKP - wie Tito und Mao zu ihrer Zeit - keine Stalinisten wären, sondern "empirische Revolutionäre". Die SWP antwortete, daß sie doch Stalinisten wären. Dies wurde jedoch weder auf eine Kritik der kubanischen Revolution, noch auf Castros Stalinismus verallgemeinert. Außerdem waren sie unfähig, die Grundlagen der Mehrheitsposition herauszufordern, die ja ein entscheidender Teil der zentristischen Kontinuität des VS mit dem Zentrismus der Vierten Internationalen von 1951 waren und die besagten:

"Zwischen den sozialdemokratischen und den stalinistischen reformistischen Parteien einerseits und den trotzkistischen, revolutionär-marxistischen Parteien andererseits gibt es Platz für eine ganze Stufenleiter von zentristischen Gebilden und Gruppen, die sich auf der theoretischen Ebene durch revolutionären Empirizismus auszeichnen."

Wie in den 50er Jahren war die Methode auf beiden Seiten dieselbe. Die einzige Differenz bestand darüber, wer gerade die "revolutionären Empiristen" wären.

So blieb das VS auch nach dem 10. Kongreß so tief gespalten und fraktionell zerrüttet wie immer. Worin es Übereinstimmung, zumindest zwischen Mandel und Hansen, gab, war, daß eine Spaltung vermieden und die prinzipienlose Fusion von 1963 aufrechterhalten bleiben sollte.

Dies ärgerte einerseits die "Spalter" in der IMT (z.B. Maitan oder Krivine), führte aber andererseits auch zu taktischen Differenzen in der LTF. Da Moreno und seiner Gruppe neuerlich der Eintritt als offizielle Sektion in Argentinien verweigert wurde, setzte sich dieser für die Proklamation einer "öffentlichen Fraktion" ein. Als Moreno den Widerwillen der SWP, diesen Weg zu gehen und eine Spaltung zu riskieren, bemerkte, organisierte sich die Moreno-Tendenz zunehmend getrennt und bereitete sich vor, diese Spaltung allein durchzuführen.

Die provisorische Übereinstimmung zwischen Mandel und den SWP-Führern, die Internationale nicht zu spalten, galt hingegen nicht bezüglich der Spaltung nationaler Sektionen, wie die SWP bald sehr deutlich zeigte.

Barzmans IT (International Tendency) organisierte sich - mit oder ohne Wissen des IMT-Zentrums - innerhalb der SWP unabhängig, mit eigenem internen Bulletin und eigener Konferenz. Die IT wurde auf der SWP-Konferenz vom Juni 1974 ausgeschlossen. In klassischer SWP-Doppelmoral wurden sie als "Spalter" dargestellt und als Mitglieder einer "International Tendency Party" bezeichnet. Von den 150 ausgeschlossenen IT-Mitgliedern wurden 17 - unter ihnen auch Barzman - später wieder in die SWP aufgenommen. Der Rest driftete in eine politische Verwilderung ab, nachdem er verzweifelt versucht hatte, die IT als unabhängige Organisation aufrechtzuerhalten. Dabei hatten sie keinerlei Unterstützung von Mandel oder der IMT erhalten. In dieser Periode erreichten die fraktionellen Spannungen ihren Höhepunkt, wobei das VS als internationale Tendenz praktisch gelähmt wurde.

Die SWP-Führung behauptete, daß die IMT die IT-Spaltung organisiert hätte und forderte einen besonderen Weltkongreß, um diese Angelegenheit zu behandeln, zumal jetzt diese Frage "nicht weniger, als die hauptsächlichen theoretischen Errungenschaften der Vierten Internationale seit Trotzkis Tod" beinhalte. Das VS antwortete mit der Behauptung, daß die Beschuldigungen "verleumderisch, lächerlich und unbegründet" wären und berief die Internationale Kontrollkommission ein, um die Behauptungen zu untersuchen. Das Leitungskomitee der LTF antwortete, daß die IMT-Führer "das Büro usurpiert und in ein Monopol ihrer Fraktion verwandelt" hätten.

"Sie haben das Vereinigte Sekretariat in eine formale Körperschaft verwandelt, das in einer mechanischen Weise funktioniert und dem nicht einmal vertraut werden kann, exakte Protokolle seiner eigenen Sitzungen anzufertigen".

Das Jahr 1975 war der Höhepunkt des Fraktionskampfes im VS. Die Portugiesische Revolution, die 1974 begonnen hatte, stellte die beiden Flügel des VS wiederum einander gegenüber. Die Niederlage der Revolution führte zu einem raschen Rechtsschwenk des IMT. Sie benahmen sich wie steuerlose Zentristen. Als die Realität sie nach der Niederlage der portugiesischen Revolution und dem Rückzug der Arbeiterbewegung in Europa einholte, schwenkten diese Impressionisten schnell um 180° und wurden einmal mehr zu feigen Opportunisten gegenüber denselben reformistischen Führern, die sie noch gerade für überwunden erklärt hatten. In dieser Situation ergab sich ein weiterer Ausbruch von Fraktionskämpfen im VS.

 

 

 

1980-1991:

Altersschwacher Zentrismus

Seit dem Beginn der 1980er Jahre hat sich das Erscheinungsbild des VS dramatisch verändert. Eine der größeren Sektionen, die SWP(US), führte wiederholt Ausschlußwellen durch, degenerierte zum Neo-Stalinismus und verließ schließlich das VS. Dereinst starke Sektionen in Britannien und Frankreich schrumpften oder zersplitterten. Zentrale Aussagen des revolutionären Marxismus - hinsichtlich des Charakters des Staates, der permanenten Revolution und der politischen Revolution - wurden offen zurückgewiesen.

Spätestens hier stellt sich die Frage, warum sich das VS trotz seiner zentristischen Methode so lange am Leben halten konnte. Warum wurde es nicht durch die Schlüsselereignisse des internationalen Klassenkampfes dazu gezwungen, ein für alle mal ins Lager des konterrevolutionären Stalinismus, der Sozialdemokratie oder einer anderen bürgerlichen Strömung in der Arbeiterbewegung zu wechseln?

Der Grund dafür ist die Isolation des VS von den meisten dieser historischen Aufgaben. Da es keine Führungsrolle innehatte, war es wiederholt in der Lage, die Verantwortung für den politischen Verrat, den es begangen hatte, abzuwälzen (so in Bolivien 1952, in Sri Lanka 1963, in Portugal 1974 oder in Nikaragua und im Iran 1979).

Schließlich wurden und werden die katastrophalen Konsequenzen dieser opportunistischen Anpassung an andere Klassenkräfte unbestreitbar und führ(t)en zum Verlust ganzer Sektionen und zur Zerstreuung einer ganzen Generation von Kadern. In diesen Fällen produziert des VS eine reuige - und üblicherweise äußerst kurze - Selbstkritik, um sich danach einer anderen fremden Klasse anzupassen. Trotz der ständigen Schwankungen und fortdauernden Degeneration läßt sich die Kontinuität einer bestimmten zentristischen Methode, der eines verknöcherten Zentrismus, nachweisen, die all diesem Hin und Her zugrunde liegt.

Die Vierte Internationale degenerierte zwischen 1948 und 1951 in den Zentrismus, vor allem wegen der weltweiten Expansion des Stalinismus, der bürokratischen Umstürze in Osteuropa und China. Diese historischen Ereignisse widerlegten scheinbar Trotzkis Charakterisierung des Stalinismus als konterrevolutionärer Kraft wie auch seine Perspektiven und Prognosen. Aber die eigentliche Verwirrung lag nicht in Trotzkis Analyse, sondern in der Interpretation der Nachkriegsereignisse durch die Pablo-Mandel-Frank-Cannon-Führung.

Falls "Revolutionen" von Stalin, Tito oder Mao durchgeführt werden konnten, waren die Vierte Internationale und ihr Programm zumindest für die "erste Etappe" der Weltrevolution nicht notwendig. Das sollte auch das Scheitern der Vierten Internationalen erklären, die "entscheidende Kraft auf dem Planeten", wie es Trotzki am Beginn des Zweiten Weltkrieges vorausgesagt hatte, zu werden.

Am Dritten Weltkongreß 1951 nahm die gesamte Internationale eine zentristische Methode an. Sie "bewaffnete" sich bewußt mit einer Methode der systematischen Anpassung an Strömungen aus dem Kreis des Stalinismus, des kleinbürgerlichen Nationalismus und der Sozialdemokratie. Die Früchte dieser Zurückweisung des "alten Trotzkismus", der nun als Sektierertum gebrandmarkt wurde, ließen nicht lange auf sich warten.

Seit 1953 spaltet sich die Internationale, vereinigte sich, spaltete sich wieder usw. usf. entlang fraktioneller Fehden über die Frage, welcher nicht-proletarischen Kraft man sich opportunistisch anpassen sollte. Seither hat diese Methode zu falschen Perspektiven und Taktiken sowie zu katastrophalen Schwenks in jedem Jahrzehnt geführt.

Die 80er Jahre bildeten hier keine Ausnahme. Einem zentristischen Fehler folgte der nächste. Von Nikaragua, über Polen zur UdSSR: Die Methode des VS hat direkt zum politischen und organisatorischen Zusammenbruch geführt.

Wichtiger noch ist, daß dieses Jahrzehnt mit welthistorischen Ereignissen endete, Ereignissen, die die Existenz jener Staaten und politischen Strömungen untergruben, die über Jahrzehnte einen Tummelplatz für den zentristischen Kurs des VS hergaben. Der Zerfall des Stalinismus in all seinen Spielarten (einschließlich Vietnams und Kubas), der Zusammenbruch des kleinbürgerlichen Nationalismus (einschließlich des nikaraguanischen) rissen die glaubwürdigen "alternativen, empirischen, unbewußten" Führungen, denen das VS hätte folgen können, mit sich.

In den nächsten Jahren werden Ereignisse eintreten, die das VS an den Rand des Abgrunds treiben werden, an den Punkt, wo ihm seine vierzig Jahre alte Methode nicht mehr weiterhilft und wo jede weitere Identifikation mit einem "trotzkistischen Mäntelchen" als reine Belastung gesehen wird. Schon das letzte Jahrzehnt zeigte eine Internationale, die von der Geschichte vor die Entscheidung gestellt wird: "Hic Rhodus. Hic Salta!"

Nikaraguas langer Schatten

Der relativ rasche Niedergang des VS begann mit der sandinistischen Revolution 1979. Auf ein anfängliches "sektiererisches" Zögern folgte eine typische Kapitulation gegenüber dem kleinbürgerlichen Nationalismus. Nachdem das VS jedes Programm zur Machtergreifung der Arbeiterklasse, zur Schaffung einer Arbeiter- und Bauernregierung und - natürlich - zur Schaffung einer revolutionären Partei zur Führung dieses Kampfes aufgegeben hatte, entschied es sich für die Unterstützung einer Volksfrontregierung, die von den Sandinisten dominiert wurde.

Da es zu starker Tobak gewesen wäre, Trotzkis Ablehnung der Unterstützung von Volksfronten, öffentlich abzukanzeln, verfiel es auf eine noch groteskere Revision des Marxismus. Es brach ein scharfer Fraktionskampf darüber aus, ob Nikaragua ein gesunder Arbeiterstaat sei (und noch immer wäre) oder ob es sich (bis zu Violetta Chamorros Wahlsieg) um eine revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung handele. Die theoretischen Implikationen dieser Positionen gaben den Stoff für eine Reihe von Fraktionskämpfen, die bis heute andauern und direkt zur endgültigen Verabschiedung der SWP(US) aus dem VS führten.

Womit freilich beide Seiten klarkommen müssen, ist die Tatsache, daß diese "Arbeiterregierung", zu welcher Zeit und in welcher Zusammensetzung auch immer, der Aufrechterhaltung des nikaraguanischen Kapitalismus verpflichtet blieb. Das zu leugnen, waren auch die Genossen des VS nicht in der Lage. So schrieb Livio Maitan 1985:

"Fünf Jahre nach der Sieg vom 19. Juli ist die Bourgeoisie als soziale Klasse noch immer eine beachtenswerte Kraft; sie kontrolliert lebenswichtige - nicht unbedeutende oder kleine - Teile der Wirtschaft des ganzen Landes."

Ebensowenig waren die Folgen der Beibehaltung der kapitalistischen Wirtschaft schwer voraussehbar, auch wenn das VS dazu nicht in der Lage war. Zumindest die Arbeiter kannten sie aus bitterer Erfahrung. So wurden selbst nach VS-Angaben während der 80er Jahre die Reallöhne um 99% gekürzt! Doch das VS beschrieb diese scharfen Angriffe als "eine Taktik, die zweifellos notwendig war". Diese schmähliche Unterstützung für eine arbeiterfeindliche Politik ist das traurige Ergebnis der Charakterisierung Nikaraguas als Arbeiterstaat seit 1979, obwohl kapitalistische Eigentumsverhältnisse zwölf Jahre lang beibehalten wurden.

Nach zwölfjährigem Hofieren der Sandinisten, nach dem "unvorhersehbaren" Debakel Daniel Ortegas in der Präsidentschaftskampagne 1990, wurde das VS gegenüber den einstigen Idolen kritischer. Noch vor zwei Jahren waren die Sandinisten dafür gepriesen worden, durch ihr Bekenntnis zu Pluralismus und bürgerlicher Demokratie Lenin und Trotzki verbessert zu haben. Heute wagt es das VS, die "schweren Fehler des FSLN-Kurses in den Jahren der Macht", wie die Unterdrückung von Minderheiten, die bürokratische Kontrolle der Massenorganisationen, das vom IMF inspirierte Austeritätsprogramm und die Anpassung an die bürgerliche Demokratie aufzuzeigen - genau jene Kritikpunkte also, die das VS zuvor als hoffnungsloses Sektierertum brandmarkte.

Doch selbst jetzt fährt das VS damit fort, pathetische Rechtfertigungen für die FSLN-Führer abzugeben. 1991 sprach sie der 13. Weltkongreß von jeder Schuld frei. Sowjets und Arbeiterdemokratie wären vielleicht besser gewesen, räsonieren die Revolutionstouristen des VS, aber, so fahren sie fort, es gäbe schließlich das große Problem, wie "direkte Demokratie, die in einer Periode revolutionärer Euphorie beginnt, ... zu entwickeln ist".

Die Weigerung der FSLN, mit dem Kapitalismus zu brechen, und ihre Bereitschaft, die Massen für die Krise zahlen zu lassen, wären deshalb notwendig gewesen, da die Wirtschaftspolitik der Sandinisten "aufgrund der internationalen Situation grundsätzlich notwendig war". Die Zurückweisung der Linie Trotzkis in China (d.h. die der permanenten Revolution) durch das VS führt direkt zum Schluß: "Die sandinistische Strategie der Machtergreifung war die einzig mögliche in einem Land wie Nikaragua".

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, charakterisiert das VS Nikaragua noch heute als Arbeiterstaat - trotz des bürgerlichen Charakter des Programms und der Politik der Sandinisten, trotz des ununterbrochenen Fortbestehens des Kapitalismus, trotz des Fehlens von Arbeiterdemokratie, trotz massiver Austeritätsprogramme, ja selbst trotz der Machtergreifung der Regierung Chamorro! Warum? Weil die Sandinisten noch immer die Armee kontrollieren und daher "der revolutionäre Staat noch nicht demontiert ist".

Verallgemeinerungen der nikaraguanischen Erfahrung

Der 11. Weltkongreß des VS fand kurz nach der Machtergreifung der Sandinisten statt. Umfassende Schlußfolgerungen für die Strategie des Parteiaufbaus waren in diesen Stadium der Entwicklung noch schwer zu ziehen; für das VS war es jedoch ausreichend, wie üblich mit einer bedingungslosen und unkritischen Unterstützung zu reagieren. Aber während der nächsten fünf Jahre hatten die Führer des VS genügend Zeit, über die Ergebnisse und Implikationen der nikaraguanischen Revolution hinsichtlich ihrer eigenen Strategie und Taktiken zu grübeln.

Schon seit langem war es ein bestimmendes Kennzeichen des VS, daß seine Perspektiven auf einem passiven Optimismus hinsichtlich des Vormarsches der internationalen Revolution bauten. Für das VS scheint der "Prozeß der Weltrevolution" wie der Hegelsche Weltgeist oder ein Naturgesetz zu wirken. Die Kongresse von 1969, 74 und 79 waren - verglichen mit den wirklich stattfindenden revolutionären oder militanten Klassenkämpfen dieses Jahrzehnts - die Allerübertriebensten. Am 11. Weltkongreß (1979) beispielsweise wurde festgestellt, daß "die Revolution in den imperialistischen Vaterländern wieder einmal vor der Tür steht".

Aber auf der Sitzung des Internationalen Exekutivkomitees vom Mai 1982 argumentierte Daniel Bensaid dafür, daß die Zeit für etwas mehr Realismus gekommen sei: "Wir sollten jede Art messianischen Größenwahns beiseite lassen, der Realität, darunter auch der unsrigen, klar ins Auge sehen und unsere Arbeit geduldig beginnen". Der Grund für das Fallenlassen der Hysterie des 11. Kongresses war jedoch eine Rückkehr zur These von der ständigen "Neuzusammensetzung der internationalen Arbeiterbewegung" des Kongresses von 1974, die mit einer anderen Variante des objektivistischen und prozeßverhafteten VS-Verständnisses der "Weltrevolution" verbunden wurde.

Bensaid entwarf die neue Orthodoxie der VS-Führung. Die Perspektive war nur eine geringe Veränderung der des 11. Kongresses. Er sagte: "Wir befinden uns jetzt bloß an der Schwelle zu einer neuen Welle der Radikalisierung im internationalen Ausmaß, die unvergleichlich tiefer und proletarischer sein wird als die der späten 60er Jahre."

Die Revolution stünde zwar nicht wieder einmal vor der Tür, aber sie schien zumindest auf das Haus zuzukommen. Und auch das erforderte eine starke Prise Impressionismus und Übertreibung:

"Mehr denn je können wir heute tagtäglich sehen, daß die Weltrevolution eine dialektische Einheit bildet. Es gibt kein einziges bedeutenderes Ereignis des internationalen Klassenkampfes, das nicht eine unmittelbare Kettenreaktion bei seinem Gegenüber in Gang setzt."

Die objektive Grundlage für diese apokalyptischen Perspektiven war die sandinistische Revolution. Nachdem das VS Nikaragua als Arbeiterstaat betrachtete, begann es auch über die Konsequenzen des FSLN-Sieges und des Guerillakrieges in El Salvador nachzudenken. Gleichzeitig befand sich die europäische Arbeiterklasse aufgrund der Schärfe der kapitalistischen Offensive und des Verrats der reformistischen Führung zu dieser Zeit auf dem Rückzug. Damit waren die Bedingung für eine neue "Wende" der VS-Perspektiven hin zur Revolution in der "Dritten Welt" gegeben. Wirksam wurde diese Sicht am 12. Weltkongreß 1985.

Auf den ersten Blick schien das VS einige grundlegende Lehren aus den Fehlern der eigenen Vergangenheit gezogen zu haben. "Im Leben der Internationale wurde jede bedeutendere Periode von der Perspektive eines kurz- oder mittelfristigen Durchbruchs bestimmt." Ähnlich einem Alkoholiker, der behauptet, das Saufen endgültig aufgegeben zu haben, bemühte sich das VS festzustellen: "... Funktion und Zukunft der Internationale liegen nicht in einem kurzfristigen Wunder. (...) Die wirkliche Perspektive ist ein langfristiger und viel komplexerer Prozeß der Neuzusammensetzung der Avantgarde im internationalen Maßstab."

Aber diese scheinbare Wandlung zu Mäßigung und Realismus hielt nicht, was sie versprach. Statt sich dem Aufbau von Propagandagruppen (denn das sind und waren die Sektionen des VS) als Kern zukünftiger revolutionärer Parteien zuzuwenden, war diese "Mäßigung" nur der Vorwand dafür, einer neuen Ersatzavantgarde hinterher zu jagen.

Wie üblich betrachtete die VS-Führung ihre Sektionen und sogar die "Vierte Internationale" als Hindernis für die Neuzusammensetzung einer neuen Avantgarde.

"Die internationale Entwicklung des Klassenkampfes, das Voranschreiten der Revolution, die Bildung neuer Arbeiterstaaten fördern in diesem Moment den allgemeinen Trend zu einer Neuzusammensetzung der Arbeiterbewegung und ihrer Avantgarde. In dieser Situation können Strömungen entstehen, die nicht mehr zwischen Reform und Revolution schwanken, sondern zwischen revolutionärem Internationalismus und der Sowjetbürokratie; oder, in einer komplexeren Variante, zwischen Revolution, Reform, der Sowjetbürokratie und der chinesischen Bürokratie."

Diese Analyse bestand aus zwei Teilen. Erstens aus dem üblichen objektivistischen Optimismus, der keine Bilanz ziehen kann, die sowohl Niederlagen als auch Siege beinhaltet. "Wir befinden uns am Beginn von tiefgehenden und lang andauernden Umwandlungen in der Arbeiterbewegung."

Zweitens ist sie eindeutig auf "zukünftige Sandinisten in einer Reihe von Ländern" und all jene Tendenzen, die die "Neuzusammensetzung" repräsentieren könnten, ausgerichtet. Der Kongreß erwartete offenkundig, daß weitere "Sandinisten" auftauchen würden. Die Aufgabe der VS-Sektionen bestand darin, diese Elemente ausfindig zu machen, und sie dazu zu ermuntern, ihre Mission zu erfüllen.

Der Methode, mit der sich das VS auf diese Tendenzen zu beziehen versuchte, war nicht die, mit der Trotzki versucht hatte, gegenüber sich nach links bewegenden zentristischen Strömungen zwischen 1933 und 36 zu operieren - Vorschläge für gemeinsame Aktionen, Blöcke mit dem Ziel der Fusion und, im Falle von Massenparteien, der Entrismustaktik.

Der 12. Kongreß behauptete, daß der "Block der Vier", den Trotzki 1933 vorgeschlagen hatte, impliziere, daß "ihm keine Internationale vorschwebte, die auf revolutionäre Marxisten begrenzt sei, sondern eine breitere Internationale, in der sie ein entscheidender Bestandteil sein würden". Die Kongreßthesen zum Parteiaufbau, die sich als Wiedergabe von Trotzkis Positionen verstehen, halten folgendes fest:

"Die Annäherung an andere Kräften kann verschiedene Formen annehmen, angefangen von systematischen gemeinsamen Aktionen bis hin zur Schaffung ständiger Verbindungskomitees und der Vereinigung. Bei Fusionen mit revolutionären Organisationen oder sich nach links bewegenden Massenströmungen ist die Zugehörigkeit der vereinten Organisation zur Vierten Internationale keine grundsätzliche Bedingung."

Im Gegensatz dazu war Trotzkis organisatorische Flexibilität mit dem Beharren auf klare und deutliche Kritik an den zentristischen Führern und einem unablässigen Kampf für das Programm verbunden. Das wichtigste Ziel, das er keine Minute verbarg, war der Aufbau einer neuen revolutionär-kommunistischen Internationale, der Vierten Internationale.

Die VS-Position beinhaltet das genaue Gegenteil von Trotzkis Praxis - und das wurde den VS-Sektionen auch signalisiert:

"Falls ihr mit einer anderen Gruppe fusionieren könnt, dann tut es; die nächste Internationale, die wir aufbauen wollen, wird ein Block mit den Sandinisten und ihren Nachahmern sein; vergeßt daher die Vierte Internationale für die nächste Periode."

Die Sektionen setzen die neue Wende um

Die erste Sektion, die den Rat es 12. Kongresses befolgte, war die deutsche "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM). Anfang 1985 fusionierte sie mit der KPD, einer Gruppe ehemaliger Maoisten, um die reformistische VSP zu bilden. Das Fusionsprogramm ließ nicht nur die Frage der Internationale offen, sondern auch die des Charakters der UdSSR und anderer degenerierter Arbeiterstaaten, des Charakters von SPD und Grünen, revolutionärer Taktiken in den Gewerkschaften, des "Sozialismus in einem Land" und des Charakters der sozialistischen Revolution!

Diese Fusion stellte nicht nur einen Weltrekord an Prinzipienlosigkeit dar, sondern dieser Minimalkonsens erwies sich auch für jede bedeutendere gemeinsame Aktion in Deutschland als selbstzerstörerisch. Das hatte das VS natürlich nicht erwartet. Seine Hauptsorge war es, sich auf einen Teil der "Neuzusammensetzung der Arbeiterbewegung" zu orientieren. Unglücklicherweise fusionierte die GIM nicht mit einer neu zusammengesetzten Führung, sondern mit einem sich zersetzenden maoistischen Überrest der 70er Jahre. Das ganze mündete in einen Wettlauf um die Frage, welcher Teil schneller zerbröselt.

In Peru wurde eine ähnliche Taktik angewandt. Aber während die GIM ihren Zenit längst überschritten hatte, war die peruanische Sektion, die PRT, relativ stark. So erhielt der international bekannte Führer der peruanischen Sektion, Hugo Blanco, bei den Präsidentschaftswahlen 1978 über 9% der Stimmen. Trotz dieser starken Basis wurde die PRT 1985 "formell" in der linksreformistischen PUM aufgelöst. Bald stellte sich heraus, daß diese Auflösung nicht bloß formell war. Die peruanische Sektion hörte einfach auf zu existieren.

Der Eintritt in die PUM trieb die PRT-Führung schon bald zur Annahme noch opportunistischerer Positionen. So rief die PUM bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen von 1990 zur Unterstützung des reaktionären, neoliberalen bürgerlichen Kandidaten Fujimori auf. Das wurde damit entschuldigt, daß die Massen glaubten, daß der Reaktionär Fujimoro "besser" als der Reaktionär Mario Vargas Llosa sei.

Das VS hat seine Unterstützer dafür nie kritisiert. Der Weltkongreß von 1991 schwieg sich dazu aus. Selbst angesichts der knallharten Angriffe durch Fujimoris Austeritätspolitik haben sich die VS-Unterstützer in Peru gerade dazu durchringen können, über die "Verwirrung", die der Wahlaufruf für Fujimori hervorrief, zu grübeln. Hugo Blanco, der mit nur 0,2% der Stimmen zum Senator gewählt wurde, bereut es jedenfalls nicht, die peruanischen Arbeiter und Bauern zur Wahl eines bürgerlichen Kandidaten aufgerufen zu haben. Und das, obwohl er zugibt, daß "Fujimori natürlich dasselbe Programm wie Vargas Llosa verfolgt". Über seinen Verrat erzählt er munter, daß "ich noch immer glaube, daß das kein Fehler war", und gibt dafür die eigentümliche Begründung, daß die Massen nun mehr kämpfen würden, als wenn sie den thatcheristischen Dichter gewählt hätten, da sie sich von Fujimori verschaukelt fühlen!

Vergeßt die erste Pflicht der Revolutionäre: Zu sagen, was ist, die Massen im Voraus zu warnen, so daß später wenigstens ihre Avantgarde sagen wird: "Diese Partei hat uns gewarnt, sie hat unsere dummen Illusionen nicht geteilt, sie konnte einen proletarischen Standpunkt einnehmen."

Opportunismus gegenüber bürgerlichen Kräften war, beginnend mit Perron in Argentinien und Ben Bella in Algerien, immer ein Markenzeichen der VS-Politik. Neuerdings hat auch der VS-Heros unter den lateinamerikanischen Sektionen, die mexikanische PRT, diesen Weg beschritten. Das Objekt ihrer Begierde ist Cuauhtemoc Cardenas, ein radikaler Bürgerlicher, der sich von der regierenden PRI abspaltete. Sein Programm war eine Wiederauflage reinsten populistischen Nationalismus. Ohne Cardenas offen zu unterstützen, begann die PRT, seine Politik nachzuahmen.

Vor der Cardenas-Abspaltung verlautbarte Rosalia Pereo-Aguilar, Abgeordnete und eines der Aushängeschilder der PRT, im Parlament:

"Um dieses Land voran zu bringen, muß ein anderer Weg eingeschlagen werden, ein nationaler, volkstümlicher und demokratischer Weg, auf dem die Bedürfnisse der Arbeiter befriedigt und die Unabhängigkeit des Landes gegen auswärtige Aggression verteidigt werden können."

Von einem anderen der PRT-Führer wurde ihre Politik so beschrieben: "Aufbau politischer Fronten mit anderen Kräften, um die bürgerlichen Nationalisten unter Druck zu setzen."

Cardenas landete bei den Präsidentschaftswahlen vom Juli 89 knapp hinter dem PRI-Kandidaten. Eine Minderheit der PRT unter dem Veteran des mexikanischen Trotzkismus, Adolfo Gilly, war mit der Entscheidung der Partei, einen unabhängigen Kandidaten zu stellen, unzufrieden und spaltete sich von der PRT ab, um Cardenas zu unterstützen. Die PRT, deren Politik sich nicht sonderlich von der Cardenas unterschied, saß zwischen den Stühlen und ihr Stimmenanteil sank auf 0,38% nach offizieller Zählung bzw. auf 1,5% nach ihrer eigenen und verlor daher ihre Sitze im Parlament.

Für die PRT stellt sich das Problem, den Widerstand der Arbeiter und armen Bauern gegen die Politik der bürgerlichen Nationalisten aufzubauen, nicht. Vielmehr sollten die Führer der Bourgeoisie unter Druck gesetzt werden. Seit den Wahlen wurde der PRT-Opportunismus weiterentwickelt - oder vielmehr zurechtgestutzt - auf das einfache Projekt der Klassenkollaboration mit Cardenas PRD in Form eines "privilegierten Bündnisses".

Auf dem 13. Weltkongreß wurde diese Linie in einer Reihe von Thesen zu Lateinamerika kodifiziert. Der Kongreß kam zur Überzeugung, daß "die revolutionäre Linke den Kampf für Demokratie und für die Verteidigung der unterdrückten Nation mißachtet hatte".

Die entscheidende Lehre, die laut VS zu ziehen wäre, bestehe in der Wichtigkeit des "Volkes" - einer soziologischen Kategorie, die durch Kriterien wie Wohlstand, Einkommensniveaus etc. ohne offenen Bezug auf die jeweilige Klassenlage bestimmt ist - und der Strategie des "Aufbaus politischer Fronten", die "das grundlegende Mittel zum Kampf für die Hegemonie in möglichen Allianzen und in der Gesellschaft" seien. "Sie erfüllen eine Funktion, die nicht bloß konjunkturell, sondern langfristig ist."

Die politische Basis solcher Organisationen und die Ziele, die ihre unvermeidliche Langlebigkeit rechtfertigen würden, wurden nicht genannt. Handelt es sich um Einheitsfronten, Blöcke oder gemeinsame Propaganda? Sind sie Quasi-Parteien oder eine Mischung all dieser Dinge? Das einzige, was mit Sicherheit gesagt werden kann, ist, daß es sich um einen Ersatz dafür handelt, Parteien auf der Grundlage eines klaren Programms aufzubauen.

Zwischen dem 12. und 13. Kongreß schwollen die bislang gelegentlich durchgeführten prinzipienlosen Fusionen und Bündnisse zu einer riesigen Welle an, da die VS-Sektionen weltweit dazu übergingen, sich in jeder nationalistischen, reformistischen oder rechtszentristischen Organisation, die sie haben wollte, aufzulösen:

• In Kolumbien löste sich die Sektion spurlos in der verschwommenen reformistischen Front A Luchar auf.

• In Italien trat die LCR in die "Democrazia Proletaria" (DP) nur drei Jahre, nachdem sie das aus programmatischen Gründen abgelehnt hatte, ein. Die DP selbst hat erst vor kurzem beschlossen, der MRC beizutreten, die von ehemaligen PCI-Mitgliedern gegründet wurde, die es ablehnten, die Sozialdemokratisierung der Partei mitzumachen.

• In England spalteten sich die VS-Unterstützer über die Frage, welchem Teil der Labour-Linken sie sich anpassen sollten. John Ross' Socialist Action ging mit den Anhängern Livingstones zusammen, während Socialist Outlook zu einem Wasserträger T. Benns wurde. Auf der Suche nach Wegen, die Avantgarde "neu zusammenzusetzen", lehnten es beide Sektionen ab, die "linken" Bürokraten scharf und deutlich zu kritisieren.

• Im Baskenland fusionierte die LKI mit der nationalistischen MKE auf der Grundlage einer vollkommen opportunistischen Position zur nationalen Frage.

• Die korsischen Mitglieder der französischen LCR schlossen sich Mitte 1991 mit einer korsischen nationalistischen Gruppierung zusammen und gaben dabei ihre VS-Mitgliedschaft auf.

• Die bolivianische POR-Gonzales brach de facto zusammen, nachdem sie 1985 an den Wahlen der Gewerkschaftsföderation COB auf der DRU-Liste von Lechin teilgenommen hatte. Lechin, ein nationalistischer reformistischer Bürokrat, war seinerseits ein begeisterter Unterstützer der reaktionären MNR-Koalition.

• In der Schweiz nahm die PSO an den Wahlen vom November 1990 auf der Liste der "Sozialistischen Grünen Alternative" teil. Hans-Peter Uster, ein PSO-Führer, wurde dabei zum Justiz- und Polizeiminister des Kantons Zug gewählt!

Die Fusionsmanöver konnten jedoch nicht immer durchgeführt werden. Wo die Sektionen nicht in der Lage waren zu fusionieren, waren die Auswirkungen jedoch nicht anders als bei den sogenannten Erfolgen:

• Die französische LCR gab ihr bestes, um sich mit den Ex-KPF-Mitgliedern um Pierre Juquin zu vereinigen. Trotz einer langen Reihe schmeichelhafter Artikel und Resolutionen und der Tatsache, daß die LCR bei den Präsidentschaftswahlen vom Mai 1988 einen Großteil der Kampagne für Juquin geführt hatte, schlug er diese Angebote in den Wind, nachdem er zuvor eine Reihe von LCR-Mitgliedern rekrutiert hatte.

• In Belgien bot die PTB einer maoistischen Organisation, die behauptete, daß Trotzki konterrevolutionär war, eine Fusion an! Die Maoisten erwiesen sich dabei jedoch als prinzipienfester und schlugen diesen opportunistischen Vorschlag aus.

In anderen Teilen der Welt, wo das VS keine Sektionen hatte und wo es beschlossen hatte, daß es schon reale oder zumindest potentielle "Sandinisten" gab, wurde kein Versuch unternommen, offen revolutionäre Kerne zu bilden.

• In Südafrika konnte sich das VS zu keiner Entscheidung durchringen, wo die sich nach links bewegende Strömung entstehen sollte. Ursprünglich setzte es seine Hoffnungen auf AZAPO und das Nationale Forum. Aber im Februar 1986 beschloß das Internationale Exekutivkomitee (IEK) des VS, daß das Nationale Forum im Kampf um die Hegemonie über die Massenbewegung unterlegen war. Obwohl die VS Resolution - wenn auch nur einmal! - die Notwendigkeit einer revolutionären Partei in Südafrika erwähnte, bestand für das VS - so wie heute in der UdSSR - die Hauptfrage darin, die Führung der Massen unter Druck zu setzen. Die logische Folgerung daraus wurde nicht einmal ein Jahr später gezogen, als das IEK feststellte, daß "die Organisationen der Vierten Internationale alles tun sollten, um besonders ihre Verbindungen zum ANC aufzubauen".

• Auf den Philippinen lehnte es das VS ab, eine Sektion aufzubauen, und empfahl Revolutionären statt dessen, sich hinter der bürgerlichen Führung von Cory Aquino zu verstecken. Es sprach sich für eine passive Unterstützung Aquinos bei den Präsidentschaftswahlen aus, um "das Zerbrechen der Einheit des Kampfes gegen Marcos um jeden Preis zu vermeiden".

• In Sri Lanka wurde diese klassenversöhnlerische, "anti-imperialistische" Wahlpolitik ebenfalls angewandt. Die NSSP, die ihre Verbindungen zur britischen Militant-Tendenz abgebrochen hatte, wurde am 13. Weltkongreß 1991 als sympathisierende Sektion trotz ihrer Zusammenarbeit mit der Reaktionärin Bandaranaike anerkannt.

Salah Jaber, der den Kongreß über die NSSP informierte, drückt das so aus:

"Die NSSP ... stimmte einer Unterstützung von Frau Bandaranaike als gemeinsamer Oppositionskandidatin im Fall von Wahlen öffentlich zu, aber nur auf Grundlage einer getrennten Plattform, die von einem Kandidaten ihrer Partei (der NSSP) präsentiert wird, für den sie jedoch nicht zur Wahl aufruft."

Vollkommen verlogen fuhr Jaber fort: "Unter den besonderen Bedingungen dieser Insel könnten das die breiten Massen möglicherweise nicht als taktische Frage erkennen." In der Tat! Die Position der NSSP, die vom VS noch immer nicht öffentlich zurückgewiesen wurde, war die des Verrats an den Kämpfen der Arbeiter und Bauern Sri Lankas, ganz zu Schweigen vom nationalen Kampf der Tamilen, die allesamt durch die Regierung Bandaranaike blutiger Unterdrückung ausgesetzt waren. Ihre "Taktik", einen Scheinkandidaten zu stellen, ist nicht mehr als ein Feigenblatt, hinter dem sie ihre reformistischen Positionen verbirgt.

Revolution in Polen

Die 80er Jahre begannen und endeten mit großen Umbrüchen in den stalinistischen Staaten. Die politisch revolutionäre Krise, die Polen 1980-81 erschütterte, war die Generalprobe für die historischen Ereignisse von 1989-90. Eine offene Krise der stalinistischen bürokratischen Planwirtschaft führte zu Massenkämpfen der Arbeiter gegen die stalinistische Diktatur. Zum ersten Mal errang eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, Solidarnosc, ihre Legalisierung. Embryonale Arbeiterräte entstanden.

Die Frage der Führung stellte sich besonders dringend. Die Walesa-Führung von Solidarnosc nahm ein Programm an, das einen "reformistischen" Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus verfolgte. Aber die Arbeiterklasse als ganzes war weit davon entfernt, hinter dem Programm der Walesas vereint zu sein, und die Möglichkeit eines Kampfes um die politische Macht bestand für das Proletariat bis zu dem Tag, als Jaruzelskis Panzer die Bewegung zerschlugen.

Erwartungsgemäß rollte das VS das Banner der politischen Revolution schnell ein. Kein Wort wurde über die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären trotzkistischen Partei zur Führung der antibürokratischen Revolution verloren. Statt dessen war das neueste "stumpfe Instrument" der Weltrevolution niemand anderer als die Walesa-Führung und ihr Programm. Die Kritik an Walesa wurde fast vollkommen eingestellt.

Statt sich auf die sowjetähnlichen Organe des Kampfes zu orientieren und dafür zu kämpfen, sie zu Instrumenten des Kampfes um die Macht zu machen, versteckte sich die VS-Führung hinter dem Parlamentarismus der Solidarnosc-Führer, die für eine zweite Abgeordnetenkammer eintraten, und versuchte das zu begründen, indem sie sich "für die Zentralisierung und Entwicklung von Arbeiterkomitees und ihrer nationalen Repräsentanten in einer zweiten Kammer der Produzenten" aussprach.

Die erste Kammer sollte auf "normalem" bürgerlichen Weg gewählt werden. Diese "Kombination" von bürgerlicher und proletarischer Demokratie, die den rechten Zentristen der frühen 20er Jahre entlehnt ist, pries das VS als Übergang zur proletarischen Rätedemokratie an. In Wirklichkeit sind jedoch alle Arbeiterräte, die zulassen, auf diese Art neutralisiert zu werden, dazu verurteilt, in kurzer Zeit zu verschwinden. Das zeigen sowohl die deutsche Revolution von 1918-19 als auch die polnischen Arbeiterräte von 1956.

Die zersplitternde indirekte Demokratie der bürgerlichen Parlamente, die die Arbeiter in die Passivität drängt, maximiert das tote Gewicht der Bauern und der Mittelklassen. Sie gestattet es der Exekutive und der staatlichen Bürokratie, systematisch gegen die Interessen der Produzenten zu handeln. Kurz gesagt, es ist keine neutrale Institution. Es ist sogar in Abwesenheit einer Bourgeoisie und kapitalistischer Eigentumsverhältnisse ein bürgerliches Instrument, das gegen die proletarische Diktatur eingesetzt wird.

Die Stalinisten benutzten ihre Scheinparlamente dazu, Arbeitersowjets zu ersetzen, und um, wie vergeblich auch immer, die Diktatur der Partei der Bürokratie über die Arbeiter zu verschleiern. Der Triumph richtiger parlamentarischer Demokratie über die bürokratische Diktatur führt andererseits sowohl zur Zersplitterung der politischen Kräfte, die eine schnelle Restauration beabsichtigen, wie er ihnen gleichzeitig eine Form für ihren Triumph verschaffte.

Bürgerlichen Parlamentarismus zu fordern oder zu unterstützen, ist ein bösartiger Verrat am Programm der politischen Revolution. Arbeiterräte, mit denen Polen und Ungarn Erfahrung gemacht haben, hätten im Zentrum revolutionärer Agitation und Propaganda stehen müssen. Wir entschuldigen uns nicht dafür, zu sagen, daß Trotzkisten, weit davon entfernt, bürgerliche und proletarische Demokratie miteinander zu vermischen, letzere ersterer entgegengesetzt hätten. Das war nicht einfach oder hauptsächlich eine Frage der Propaganda, sondern die Aufgabe, die fabrikübergreifenden Komitees für ein Aktionsprogramm zur Machtergreifung zu gewinnen und dafür, dieses zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme Polens durch einen demokratisch erarbeiteten Plan zu verwenden.

Nach Jaruzelskis Coup entwickelte sich eine Reihe von Debatten in den Gefangenenlagern, im Exil und im Untergrund, wo die polnische Linke versuchte, die Lehren aus des Fehlern von Solidarnosc zu ziehen. Unterstützer des VS spielten eine Schlüsselrolle, um den Kern einer neuen Organisation in Polen zusammenzuführen. Aber sie hielten erneut nach einer anderen Führung, der sie sich anhängen konnten, Ausschau. Zentraler Bezugspunkt für diese Gelüste war damals die offen konterrevolutionäre WSN (Freiheit, Gerechtigkeit, Unabhängigkeit) Jacek Kurons. Diese Organisation wurde nach der Auflösung der KSS-KOR im Oktober 1981 gegründet und befürwortete eindeutig die parlamentarische Demokratie und die Restauration des Marktes als integrale Bestandteile einer zukünftigen polnischen Revolution.

Das VS lehnte es ab, die WSN als Kraft zu charakterisieren, die den Kapitalismus wiedereinzuführen versuchte, und bog sich Kuron zurecht, indem es argumentierte, daß "der Charakter des Eigentums über die Produktionsmittel in keinster Weise aus dem System der parlamentarischen Demokratie folgt". Reiner Sophismus! Er mag zwar nicht aus den parlamentarischen Institutionen folgen, aber die parlamentarische Demokratie ist ein mächtiges Mittel, um sie zu schaffen! Kuron, der zweifellos über das linke Deckmäntelchen, das ihm das VS gab, froh war, wollte indes höher hinaus und er wies zunehmend auch das Feigenblatt der "sozialistischen" Rhetorik zurück.

Lähmung und Anpassung angesichts Gorbatschows

Gorbatschows Glasnost und Perestroika scheinen das VS unvorbereitet erwischt zu haben. Sein erstes programmatisches Statement wurde von einem IEK im Jahr 1987 erarbeitet, mehr als zwei Jahre nach Gorbatschows Machtübernahme. Um sich gegen die Eventualität zu sichern, daß sich der sowjetische Bonaparte als empirischer Agent des trotzkistischen Programms entpuppt, wurde vorsichtshalber vermieden, die politische Revolution und die Notwendigkeit, für den Aufbau einer Sektion in der UdSSR zu kämpfen, zu erwähnen.

Statt dessen entwickelte das IEK ein Programm zur Vertiefung von Glasnost, wie es Catharine Samary, die SU-Expertin des VS, nannte. Es verband eine Reihe grundlegender demokratischer Forderungen (Abschaffung der Zensur, Freiheit der politischen Gefangenen, Streikrecht, etc.) mit der abstrakten Maximalforderung nach einer "allgemeinen Arbeiterkontrolle über alle wirtschaftlichen Aktivitäten", die wie üblich die Frage der Arbeiterräte wegließ, eine Frage, die der alte Trotzki für den Schlüssel zum Übergangsprogramm hielt.

Wie in den vorhergegangenen Krisen der 50er und 70er Jahre versuchte das VS, den Reformflügel der Bürokratie nach links zu drängen. Für das VS ist die "politische Revolution" (bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie beim Namen genannt wird) einfach die Beschreibung der Teilnahme der Massen an einer Reform, nicht die Machtergreifung durch die Arbeiter. Wenn "Formen der Selbstorganisation" erwähnt werden, so als Mittel, die Bürokraten zur radikalen Reform zu drängen, nicht als embryonale Organe der politischen Revolution.

Inzwischen ist Gorbatschow in den Augen der Massen total diskreditiert. Mehr noch, er ist als der entlarvt, der die UdSSR nahe an die Restauration des Kapitalismus gebracht hat. Angesichts dieser Tatsachen ging der 13. Weltkongreß schließlich daran, die "Perspektive" des Aufbaus einer Sektion des VS in der UdSSR aufzuwerfen. Aber dabei ist der Blick vorrangig noch immer auf das gerichtet, was sich in der KPdSU abspielt:

"Die KPdSU ist noch immer eine verschieden zusammengesetzte Organisation, die zweifellos explodieren und als Instrument der Bürokratie verschwinden muß, so daß eine wirkliche Arbeiterpartei aufgebaut werden kann."

Die Krise des Stalinismus in Osteuropa

Während der Ereignisse im Osteuropa des Jahres 1990 war das VS nicht nur gänzlich unfähig, ein Aktionsprogramm für die politische Revolution vorzuschlagen, es bejubelte sogar die Machtübernahme sozial konterrevolutionärer Kräfte.

Als die Mazowiecki-Regierung im August 1989 gebildet wurde, feierte Zbigniew Kowalewski, ein polnisches VS-Mitglied, der zu dieser Zeit als Linker galt, diese Entwicklung als "nächsten Schritt auf dem Weg der antibürokratischen politischen Revolution" und rief zur "Bildung einer Solidarnosc-Regierung ohne Bürokraten, zu sofortigen freien Wahlen und zur Einberufung einer konstituierenden Versammlung" auf - Losungen, die in den nächsten zwei Jahren vom VS ständig wiederholt werden sollten.

Kein einziges Wort wurde über die grundlegenden Veränderungen in den Jahren zwischen der Gründung von Solidarnosc als Massengewerkschaft 1980 und der Schaffung von Solidarnosc als politischer Partei, die die Wahlen von 1989 gewonnen hat, verloren. Vielmehr insistierte Kowalewski darauf, daß diese Veränderung nie stattgefunden habe.

Das VS bedachte weder die Frage, was diese Solidarnosc-Regierung für die polnischen Massen bedeuten würde, noch die Probleme, die die Beschränkung ihres Programms auf den Aufruf für eine konstituierende Versammlung aufwarf. Die Geschichte spielte ihm jedoch einen bösen Streich. Ihr Programm wurde verwirklicht! Das Resultat kann man heute sehen, wenn die letzten Überreste der Planung zerstört werden und sich der Kapitalismus darauf vorbereitet, das erste Mal seit 40 Jahren in Polen zu herrschen.

Drei Monate später, nach dem Fall der Berliner Mauer, wischte Ernest Mandel jeden Gedanken an Arbeiterräte und eine proletarische politische Revolution in der DDR vom Tisch: "Das Ziel freier Wahlen zu einer parlamentarischen Institution ist vollkommen korrekt. Es verlangt die Unterstützung der revolutionären Sozialisten, die nicht gänzlich vom sektiererischen Dogmatismus geblendet sind."

Unter den Massen in den degenerierten Arbeiterstaaten existierten zweifellos bedeutende Illusionen in die bürgerliche Demokratie. Nach Jahrzehnten brutaler und verdummender stalinistischer Diktatur ist das keine Überraschung. Die Schlüsselfrage besteht freilich darin, wie die Massen von diese Illusionen gebrochen werden können. Für das VS besteht die einzige Lösung darin, sie zu bestärken! Tatsächlich war es jedoch möglich, diese Illusionen zu bekämpfen und den Weg zur politischen Revolution zu weisen, indem man die Übergangsmethode verwendete.

Die LRKI machte genau das, als wir im November 1989 feststellten:

"In Wirklichkeit eröffnen Parlamentswahlen schier unendliche Möglichkeiten für die SED-Bürokraten, aber auch für neu entstehende bürgerliche und sozialdemokratische Parteien, die Massen zu täuschen. ... Die Arbeiterklasse kann und muß den Prozeß der 'freien Wahlen' für sich selbst beginnen, indem Fabrikkomitees und städtische Arbeiterräte gewählt werden. Bei diesen Wahlen sollten Parteien, Programme und Plattformen frei zugelassen werden, so daß die Arbeiter entscheiden können, welche Parteien sie als die ihren ansehen.

Falls die Bürokratie gezwungen ist, Parlamentswahlen auszurufen, rufen wir die Arbeiter auf, unverzüglich Massenversammlungen abzuhalten, um ihre Kandidaten zu wählen und die der anderen Parteien zu hören. Diese Versammlungen sollten jährliche Wahlen und die Abwählbarkeit der Abgeordneten durch ihre Wahlbezirke fordern. Sie sollten von allen Kandidaten die Zusicherung fordern, das verstaatlichte Eigentum und die Planwirtschaft zu verteidigen. Durch diese Mittel kann der Schwindel des bürgerlichen Parlamentarismus aufgezeigt werden. Seine Gefahren können auf ein Minimum reduziert und auf dieser Grundlage kann für die Prinzipien eines Rätesystems gekämpft werden".

Ein anderes schlagendes Beispiel für den Opportunismus des VS während der Zeit der antibürokratischen Bewegungen 1989-90 ereignet sich in der Tschechoslowakei. Nach der sowjetischen Invasion von 1968 wurde das führende VS-Mitglied Petr Uhl wegen seiner Weigerung, vor der bürokratischen Herrschaft in die Knie zu gehen, wiederholt verfolgt und von den Stalinisten eingesperrt. Sein Ansehen als Oppositioneller war enorm.

Aber trotz seines außer Zweifel stehenden Mutes zeigte sich Uhl unfähig, den Weg der politischen Revolution nur irgendwie zu verfolgen. Im Herbst 1989 war er ein Gründungsmitglied der Linken Alternative, die kurz darauf vom Demokratischen Forum aufgesogen wurde. Die Linke Alternative entwickelte ein Programm - für die Restauration des Kapitalismus! Sie schrieb:

"Wir meinen, daß die Entwicklung des Marktes und die Rehabilitation der Finanz- und Marktbeziehungen eine wirtschaftliche Notwendigkeit sind."

Die politische Form, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen sollte, wurde recht unverblümt dargestellt:

"Wir meinen, daß die repräsentative Demokratie die grundlegende Form eines zukünftigen demokratischen Systems sein sollte; es sollte eine parlamentarische Demokratie sein."

Zeichen in diese Richtung gab es schon lange - für die, die keinen Grund hatten, sie zu übersehen. Der "Trotzkismus" war nie die starke Seite Petr Uhls. Zu Beginn der 80er Jahre hat er ein Buch veröffentlicht, in dem er sich eindeutig von der Politik der Bolschewiki distanziert, jeden Gedanken an eine leninistische Partei zugunsten "einer unabhängigen Gruppe von Intellektuellen, die die Interessen der Arbeiter besser verteidigen würden" verwirft und allen Versuchen entgegentritt, eine Untergrundorganisation aufzubauen.

Es ist daher kein Wunder, daß Uhl - damals noch ein Führungsmitglied des VS! - als Direktor der offiziellen Presseagentur CTK ein Sprecher der restaurationistischen Regierung Havel wurde.

Zur selben Zeit, als sich das VS für die Harmlosigkeit bürgerlich-demokratischer Formen verbürgte, verniedlichte es die Gefahr der Rekapitalisierung während des Jahres 1989 und zu Beginn 1990. Ernest Mandel, der wieder einmal die Rolle Karl Kautskys, des ewigen Optimisten, übernahm, erklärte im April 1989 blauäugig:

"Die europäische Bourgeoisie blickt nicht wohlwollend auf diese Destabilisierung. Sie hat keine Hoffnung darauf, Osteuropa für den Kapitalismus zurückzugewinnen."

Im Oktober 1989 bestand die Führung der französischen Sektion darauf, daß es notwendig ist, "die Idee zu verwerfen, daß die Restauration des Kapitalismus bei den gegenwärtigen Entwicklungen in den Ländern auf dem Spiel steht". Mandel wiederholte das: "Die Hauptfrage bei den stattfindenden Kämpfen ist nicht die Restauration des Kapitalismus."

Die Weigerung, diese offensichtlichen Gefahren zur Kenntnis zu nehmen, entsprangen der ganzen Geschichte der Anpassung des VS. Ursprünglich herrschte die Vorstellung, daß die degenerierten Arbeiterstaaten eine überlegene Produktionsweise wären, die von einer primitiveren - dem Kapitalismus - nicht zerstört werden könnte. Obwohl dieses Thema in den 80er Jahren in den Hintergrund trat, spielte es offenkundig eine Rolle dabei, Mandels angeborenen passiven Optimismus zu bestärken. Zweitens gab es Mandels Vertrauen in den Pluralismus und die Neutralität der Demokratie. Drittens gab es die Verpflichtung gegenüber den verschiedenen Dissidentenführern, deren prokapitalistische Sichtweise im Grunde als persönliche Marotte betrachtet wurde.

Die Restauration des Kapitalismus in der DDR mußte ein sehr schmerzhaftes Erwachen für diese zentristischen Tagträumer sein!

Der Umstand, daß die Krise des Stalinismus nicht unmittelbar eine sichtbare sozialistische Alternative hervorbrachte, stellte Revolutionäre vor ein großes Dilemma. Eröffnet die gegenwärtige Situation eine neue Periode? Repräsentiert sie einen zeitweiligen Rückschlag oder eine einschneidende Niederlage auf dem Weg zur sozialistischen Revolution?

Perspektiven für Osteuropa und für das VS

Früher verkündete das VS an Wendepunkten des internationalen Klassenkampfes den herannahenden Sieg der sozialistischen Revolution; heute sagt es eine große Periode der Reaktion voraus. Die grundlegende Analyse, die vom 13. Weltkongreß entwickelt, lautet: "Die Ära, in der die internationale Arbeiterbewegung sich selbst im Verhältnis zum Sieg oder zur Degeneration der russischen Revolution bestimmte, geht ihrem Ende entgegen."

Wenn das VS diese Position erklärt und ausführt, wie "das sozialistische Projekt attraktiv und kreditfähig zu machen" sei, zeigt es, wie sehr es die bürgerliche Sichtweise anerkennt, daß der Bolschewismus unvermeidbar im Stalinismus endete, und wie sehr es sich den anarchistischen und sozialdemokratischen Vorurteilen von Intellektuellen in Arbeiterstaaten angepaßt hat, wenn es alle positiven Bezüge zum bolschewistischen Projekt über Bord wirft.

Der Kongreß behauptete, daß eine qualitativ neue Situation entstanden sei, für die die revolutionären Programme von Marx, Lenin und Trotzki nicht geschaffen seinen:

"Der Wunsch, bewußt über sein eigenes Schicksal zu entscheiden, ist zum charakteristischen Merkmal geworden, das Volksbewegungen gemeinsam ist.... Komplexe Gesellschaften können zunehmend nicht mehr durch ein System wirtschaftlicher Zentralisation gelenkt werden.... Die verallgemeinerte Selbstverwaltung tritt ins Zentrum einer sozialistischen Alternative zum Stalinismus..., eine dezentrale Form der Regulation."

Trotz der Begeisterung des VS darüber, wie neu das alles sei, handelt es sich dabei um Themen, um die die revolutionäre Politik der letzten 150 Jahre kreiste. Natürlich wollen die Massen ihre eigenes Leben kontrollieren, sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Genau das ist die treibende Kraft im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels. Das ist die Lehre der bolschewistischen Revolution. Das steckt hinter jeder Zeile von Trotzkis Schriften.

Die Arbeiter- und Bauernräte von 1917 und die darauf folgenden ersten Versuche einer nationalen, koordinierten Planung verkörpern die wirkliche "sozialistische Alternative zum Stalinismus". Die VS-Version dieser Alternative ist ein Leitfaden kleinbürgerlicher Vorurteile gegenüber individueller Freiheit und individueller Produktion, eine Anleitung zum vollständigen Zusammenbruch der Ökonomie jedes Arbeiterstaates, der dumm genug ist, sie in der Praxis umsetzen zu wollen.

Das VS selbst gibt den Grund für diesen Rückschritt zum pseudo-wissenschaftlichen Sozialismus, der nach den Kooperativen Proudhons riecht, an:

"Die Auswirkungen der reformistischen Politik in den kapitalistischen Ländern und der Bankrott des bürokratischen Systems führen zum Zweifel an jedem sozialistischen Projekt.... Es bremst jene sozialen Energien, die um ein neues revolutionäres Projekt der sozialen Transformation gebildet werden, und wiegt schwer auf der Entwicklung von Klassenbewußtsein."

Oder, etwas "poetischer" ausgedrückt: "Gedächtnis und Hoffnung müssen wiederaufgebaut werden."

Der Zusammenbruch des Stalinismus und das Ausbleiben einer revolutionären sozialistischen Alternative, die ihn ersetzte, hat zweifellos bestimmte Teile der internationalen Arbeiterklasse, vor allem in kapitalistischen Staaten mit ehemals starken stalinistischen Parteien, demoralisiert. Aber diese Situation ist nicht nur negativ.

Die Trotzkisten haben immer gesagt, daß der Stalinismus keine neue soziale Klasse repräsentiert, trotz seiner brutalen Diktatur unvermeidlich zusammenbrechen würde, und das die Grundlagen der Weltordnung erschüttern würde. Der Niedergang dessen, das Trotzki die Syphilis der Arbeiterbewegung nannte, stellt auch eine gigantische Möglichkeit für revolutionäre Marxisten dar. Die neuen demokratischen Freiheiten in Osteuropa geben uns Chancen, die noch vor wenigen Jahren als Phantasieprodukte abgetan wurden. Der Zusammenbruch der stalinistischen Polizeidiktaturen gibt uns eine Freiheit zu intervenieren, die eine Quelle des Optimismus, nicht des Pessimismus von Revolutionären sein sollte.

Die Gefolgsleute der Stalinisten, die ihre Augen vor dem bürokratischen Horror des Lebens in den degenerierten Arbeiterstaaten absichtlich verschlossen, sind von der gegenwärtigen Situation am meisten schockiert. So auch das VS, dessen systematische Anpassung an den Stalinismus in Osteuropa und anderswo auf die zentristische Degeneration der Vierten Internationale in der Zeit von 1948-51 zurückgeht. Die demoralisierten Zentristen des VS sind wie übernächtigte Saufkumpane, die nun den Preis für die Exzesse der Nacht zahlen. Wie all diese reuigen Sünder blicken sie nach oben und sagen: "Nie wieder!"

Damit soll die Situation in Osteuropa keineswegs beschönigt werden. Der zeitweilige ideologische Triumph des Westens bedeutet, daß harte Kämpfe im Rahmen dessen, was von den degenerierten Arbeiterstaaten übrig geblieben ist, auszutragen sind. Aber um solche Kämpfe zu gewinnen, ist, solange der Restaurationsprozeß nicht endgültig vollzogen ist, das Festhalten an unseren wichtigsten politischen Waffen unabdingbar - der politischen Revolution auf der Basis revolutionärer Arbeiterdemokratie, demokratischer Planung, der zentralen Rolle der revolutionären Partei. An jedem dieser Punkte zieht das VS den "alten Bolschewismus" in den Dreck. Die schmählichen Kämpfe, die es führen wird, sind zum Scheitern verurteilt. Es bereitet seine eigenen zukünftigen Niederlagen vor.

SWP(US): Von der Blutvergiftung zur Selbstamputation

In der Degeneration der Mehrheit des VS während der 80er waren Konsequenzen in zwei Richtungen angelegt. Einerseits würden die rechneten Elemente die Schlußfolgerung ziehen, daß es wenig Sinn macht, mit dieser Politik in der "Vierten Internationale" zu bleiben. Andererseits würden Tempo und Ausmaß der Degeneration unvermeidlich zu einigen oppositionellen Ängsten führen. Das beste Beispiel für erstgenannte Entwicklung bietet die SWP(US).

Während der 70er Jahre war das VS von einem langen, erbitterten Fraktionskampf zwischen der Internationalen Mehrheitstendenz (Mandel et al) einerseits und der leninistisch-trotzkistischen Fraktion (SWP(US)) andererseits geprägt. All das war Bestandteil des Innenlebens der Internationale.

Anfang der 80er Jahre trat jedoch eine qualitative Veränderung in den Beziehungen mit der SWP ein. Die relativ neue Barnes-Waters-Jenness-Führung, die das alte Hansen-Novack-Team Mitte der 70er Jahre ersetzte, war von der sandinistischen Revolution tief beeinflußt. Mit der Perspektive, eine internationale Organisation mit den "revolutionären Führern" der Sandinisten und Castroisten zu bilden, begannen sie, eine Reihe noch größerer politischer Anpassungen an den Stalinismus zu machen, die sie zuerst zu einem Bruch mit den ideologischen Resten ihres Trotzkismus und nach einigen Jahren der kalten Spaltung zum Bruch aller Verbindungen mit dem VS führen sollte.

Im August 1980 stand die Notwendigkeit, sich zur kubanischen KP, zur FSLN und zur grenadischen New Jewel Bewegung zu orientieren, im Mittelpunkt der Schulungskonferenz der SWP in Oberlin, Ohio. Im März 1982 stellt Jack Barnes das Problem folgendermaßen:

"Ein glorreiches neues Kapitel der sozialistischen Revolution ist eröffnet.... Das war natürlich eine Hilfe für uns. Was sonst könnte die Ausweitung der sozialistischen Revolution unter revolutionären Führungen sein?"

Während des nächsten Jahrzehnts sollte kein Lob für Castro, die FSLN oder Maurice Bishop zu übertrieben sein. Verglichen mit diesen neuen Heroen waren Lenin, Trotzki und die Bolschewiki kleine Lichter. Ihre langatmigen und sich ständig wiederholenden Ansprachen an die Zuhörerschaft auf den Plätzen von Kuba und Managua wurden zur Gänze in der SWP-Presse veröffentlicht. Die Last formal trotzkistischer Positionen und selbst der Name wurden ein Hindernis für engere Beziehungen mit Castro und Tomas Borge.

1983 argumentierte Barnes daher:

"Die permanente Revolution hilft heute weder uns noch anderen Revolutionären, sich dafür zu bewaffnen, die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten zur Machtergreifung zu führen.... Sie ist ein Hindernis dafür, die politische Kontinuität mit Marx, Engels, Lenin und den ersten vier Kongressen der Komintern wieder herzustellen."

Diese Verbeugung vor dem Stalinismus wurde von Barnes als "das Entwachsen einer mehr als 25 Jahre dauernden halb-sektiererischen Existenz" beschrieben.

Zwischen 1982 und 1985 wurden zwischen der SWP und der europäischen Führung eine Reihe von polemischen Artikeln zur permanenten Revolution, zum Charakter der bolschewistischen Revolution und zum Verhältnis des Programms Lenins mit dem Trotzkis ausgetauscht. Von Anfang an argumentierte die SWP, daß die Oktoberrevolution von 1917 eine "Arbeiter- und Bauernregierung" an die Macht gebracht hatte, die über kapitalistische Eigentumsverhältnisse herrschte.

Die wiedergeborene Etappentheorie der Revolution wurde anhand der Entwicklung der südafrikanischen Revolution schnell vor eine konkrete Probe im Klassenkampf gestellt. In diesem Fall unterstützte die SWP die stalinistische ANC-Perspektive einer demokratischen Etappe und wies die Frage der sozialistischen Revolution zurück. Schon 1981 hatte die SWP Castro nachgeäfft, als sie die Teilnahme an einer Demonstration gegen Jaruzelskis Zerschlagung von Solidarnosc ablehnte.

Diese Bewegung nach rechts ging Hand in Hand mit einer Reihe von Ausschlüssen. Zwischen 1982 und 1984 wurden langjährige SWP-Mitglieder, die diesen Mist nicht einfach schlucken konnten, ausgeschlossen. Gleichzeitig zog sich die SWP von allen Führungsgremien des VS zurück, das sie als "ultralinke Sekte" charakterisierte, die von einer "Geheimfraktion" geführt wird. Außerdem verwehrte die SWP dem VS den Zugang zu den Protokollen der SWP-Leitungen und stellte mit einer überraschenden Unverschämtheit fest:

"Das Konzept einer Internationale, die von Parteien gebildet wird, die Anweisungen von höheren Organen erhalten, ist all dem fremd, wofür die Vierte Internationale je gestanden ist."

So skandalös diese Behauptung hinsichtlich der Vierten Internationale Trotzkis und der Kommunistischen Internationale Lenins ist, so sehr trifft sie jedoch auf die SWP nach 1953 zu. Nüchtern betrachtet, war das der wirkliche Grund für Cannons Abspaltung in jenem Jahr - und eine Voraussetzung für die Wiedervereinigung von 1963.

Die VS-Führung war weit davon entfernt, darauf mit einem Beharren auf der Notwendigkeit und dem Zweck des demokratischen Zentralismus in einer Internationale zu antworten. Vielmehr strich sie den förderalen Charakter des VS hervor und plädierte pathetisch dafür, daß die Festlegung einer Linie keine Frage der internationalen Führung sei. Als die SWP Unterstützer der VS-Mehrheit bürokratisch ausschloß, beschränkte sich der VS-Kongreß darauf, lahme Appelle für ihre Wiederaufnahme zu verabschieden und ansonsten die Existenz von dreieinhalb VS-Gruppen in den USA zur Kenntnis zu nehmen!

Selbst zur Frage der permanenten Revolution war das VS nicht in der Lage, sich effektiv zu verteidigen. Obwohl Mandel Trotzkis Analyse der Oktoberrevolution wiederholte, war sein Verständnis der permanenten Revolution selbst von den Schwächen Trotzkis vor 1917 geprägt. Dessen Vorkriegsirrtum hinsichtlich des Charakters und der Notwendigkeit der Partei war nicht bloß eine organisatorische Frage, sondern beeinflußte auch seine erste spontaneistische, objektivistische Formulierung der Theorie. 1906 schrieb er in Ergebnisse und Perspektiven:

"Gleichgültig, unter welcher politischen Flagge des Proletariat an die Macht gekommen ist - es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen.... Die Schranke zwischen dem minimalen und maximalen Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt."

Natürlich dachte Trotzki dabei daran, daß es sich darum handle, daß die Massen ihre eigene revolutionäre Partei korrigieren müssen, so wie Rosa Luxemburg dachte, die SPD könnte reformiert werden. Daher sahen beide in Lenin einen Sektierer und seine Spaltungen und fraktionellen Kämpfe als Ausdruck der russischen Rückständigkeit. Sich auf die Formulierungen von 1906 gegen die der Permanenten Revolution von 1928 zu stützen, ist selbst eine Nachahmung der SWP-Methode hinsichtlich Lenins vor der Oktoberrevolution. Die schlechten Formulierungen in "Ergebnisse und Perspektiven" wurden von Mandel und Co. wiederholt dazu verwendet, um zu erklären, wie Tito, Mao und Castro durch die objektive Logik der permanenten Revolution gezwungen wurden, "unbewußte Revolutionäre" zu werden.

Obwohl der politische Bruch zwischen VS und SWP Mitte der 80er Jahre feststand, wurde er auf organisatorischer Ebenen erst im Juni 1990 vollzogen. Diese Vorgangsweise unterscheidet sich von der hinsichtlich der australischen SWP, die schneller zum pro-Moskauer Stalinismus degenerierte, und deren Austritt aus dem VS 1985 explosiver war. Der Grund für den langsamen Verfall der Beziehungen der SWP(US) zum VS liegt im Kräfteverhältnis in der SWP-Führung. Wichtige Teile der Führung, wie Malik Miah und Barry Sheppard, akzeptierten zwar die theoretischen Revisionen, bestanden jedoch darauf, die Verbindung zum VS beizubehalten. Die Spaltung konnte daher erst stattfinden, sobald diese Elemente aus der SWP hinausgetrieben waren.

Der politische und organisatorische Verfall der SWP zu stalinistischer Politik und Praxis zeigt, daß der verknöcherte Zentrismus des VS trotz seiner relativen Langlebigkeit vom Gang der Geschichte nicht verschont bleibt. Früher oder später wird es ohne revolutionäres Programm, ohne ein revolutionäres demokratisch-zentralistisches Regime auf internationaler Ebene entweder zu einer offen antitrotzkistischen rechtszentristischen Formation oder einer Spielart des Linksreformismus werden.

Können die neuen Oppositionellen das VS retten?

Der Niedergang des VS und die damit verbundene Krise zentraler Sektionen führten zur Entstehung neuer Oppositionsgruppen, die gegen die Mehrheitslinie zu dieser oder jener Frage am 13. Kongreß auftraten.

Die drei Oppositionsgruppen - die von Matti geführte französische Tendenz für den Aufbau der Vierten Internationale (TAVI), Socialist Action (US) und die von Franco Grisolia in der italienischen Sektion geführte Linke Tendenz - beschränkten ihre Opposition auf die Ebene des Aufbaus von Tendenzen. Keine von ihnen war bereit, eine Fraktion zu bilden, was nicht nur einen Kampf gegen diesen oder jenen Aspekt der VS-Politik, sondern gegen die ganze Methode der Führung und den Versuch, diese durch eine andere zu ersetzen, bedeutet hätte. Und noch viel weniger wagten sie es, die Führung offen als zentristisch zu bezeichnen.

Die größte Tendenz, die schon seit langem bestehende Matti-Gruppe, legte großen Wert darauf, daß sie die Führung nicht einmal für opportunistisch hielt und löste sich auf dem IEK-Treffen nach dem Kongreß als internationale Tendenz auf.

Solche Tendenzen sind nicht viel mehr als Instrumente, um die Stellung von Führern bestimmter Cliquen zu stärken. Fraktionskämpfe, die Trotzki selbst wenn es um prinzipielle Fragen ging, als notwendiges Übel bezeichnete, verkehrte sich für diese Typen zur grundlegenden Daseinsweise ihrer politischen Existenz.

Hinsichtlich des Parteiaufbaus waren sich alle drei Oppositionsgruppen in der Kritik einig. Die Mehrheit des VS bezweifelte immer die historische Berechtigung der Vierten Internationale - und noch viel weniger liegt ihr die Existenz der Sektionen am Herz. Angesichts einer empirisch revolutionären Kraft haben sie immer wieder das Hindernis zerstört, das eine VS-Sektion für die "Verschmelzung mit der Massenbewegung" darstellen könnte. Diese Politik geht auf die zentristische Anpassung an den jugoslawischen Stalinismus 1948 zurück und wurde danach in Algerien, Kuba, Vietnam, Nikaragua usw. wiederholt.

1979 macht die von Nahuel Moreno geführte internationale Opposition die Frage des "Sektionsaufbaus in jedem Land" zu einem zentralen Punkt ihrer Plattform. Dieses Lied wurde von allen darauffolgenden Oppositionsgruppen wiederholt, neuerdings v.a. in Hinblick auf die UdSSR. Im Gefolge der Reformen Gorbatschows und der Öffnung der politischen Diskussion trat die VS-Mehrheit, insbesondere die von Sandor und Verla geführte Osteuropa-Zelle gegen den Versuch auf, eine Sektion des VS in der UdSSR aufzubauen. Das sollte dem Verschmelzen mit oppositionellen Tendenzen in der KPdSU (eine politische Orientierung, die einige Zeit durch die Ausrichtung auf die "Marxistische Plattform" Buzgalins begeistert durchexerziert wurde) und einer deutlichen Zurückhaltung beim Erheben des Slogans der politischen Revolution den Weg bereiten.

Dieser opportunistische Makel war ein beliebtes Angriffsziel aller drei Tendenzen, die seit 1989 zum Aufbau einer VS-Sektion in jedem Land aufriefen. Doch da ihre Kritik auf einer rein organisatorischen Ebene verblieb, war sie vollkommen zahnlos. Die Mehrheit erwidert schlicht, daß sie dieses Ziel durch taktische Kompromisse (Entrismus etc.), die auch Trotzki einging, zu erreichen versucht.

Ohne die programmatischen Folgen klarzumachen, die im Namen dieser falsch benannten Taktiken entstehen, erscheint das Pochen auf die Notwendigkeit von Sektionen als reiner Organisationsfetischismus. Da diese Oppositionellen auch keine tiefgehenden Vorbehalte gegenüber der Methode des VS hatten und haben, machte es weiter wie bisher.

Schlimmer noch, solche Oppositionen können durch die VS-Führung problemlos ausgebremst werden - indem sie zum Aufbau von Sektionen aufruft. Wenn auch halbherzig proklamierte der 13. Weltkongreß, daß das VS für den Aufbau von Sektionen/einer Sektion in der UdSSR ist. Es fragt sich jedoch, wie und auf welchem Programm? Hier wartet man vergeblich auf eine Antwort von der Mehrheit wie auch ihrer Kritiker.

Der einzige Versuch der Matti-Tendenz, dieses Problem anzugehen, war erbärmlich bis zum letzten. In ihren Augen bestand die zentrale programmatische Frage beim Aufbau einer Sektion in der "Unterstützung der Revolution in den drei Sektoren" (d.h. in den imperialistischen und imperialisierten Ländern sowie in den degenerierten Arbeiterstaaten). Bis jetzt war die TAVI die erfolgreichste Oppositionsgruppe, wenn man die am Kongreß erhaltenen Stimmen (11%) als Maßstab nimmt. Matti war lange Zeit ein Oppositioneller in der französischen LCR, die wegen ihrer Größe, Geschichte und Nähe zum internationalen Zentrum noch immer das europäische Flaggschiff des VS ist.

Mattis Politik - und die seiner britischen Mitstreiter in der TAVI - war als "orthodoxer Trotzkismus" bekannt. D.h. sie ließen sich von der Stalinophobie in der Tradition des alten Internationalen Komitees, v.a. in dessen lambertscher Spielart, die besonders in Frankreich stark ist, inspirieren. Wie bei ihren politischen Ziehvätern in der Organisation Lamberts, der PCI, ist die Kombination radikal klingender Kritiken am VS mit einer besonders opportunistischen Anpassung an die Sozialdemokratie und sogar an radikale bürgerliche Tendenzen das Markenzeichen der TAVI.

Ihren lambertistischen Ahnen getreu, argumentierte die TAVI für die Vereinigung Deutschlands, ohne die Konsequenzen für die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse in der ehemaligen DDR in Erwägung zu ziehen. Matti ging sogar soweit zu leugnen, daß an den nachkapitalistischen Eigentumsverhältnissen, die das Wesen der degenerierten Arbeiterstaaten ausmachen, irgend etwas Fortschrittliches wäre: "Diese Systeme stellten keinen Fortschritt dar und auf keine Weise und unter keinen Umständen waren sie ein Fortschritt gegenüber dem Kapitalismus." Ja, in den Augen Mattis war die kapitalistische Wiedervereinigung "für die gesamte Menschheit und in erster Linie für die Arbeiter gut".

Diese mechanistische Sichtweise, die die stattfindende politische und soziale Dynamik nicht begreifen kann, war mit dem für die verrottete Tradition des Internationalen Komitees ebenfalls typischen zügellosen Euphorismus und Katastrophismus verbunden. Befreit vom konterrevolutionären Einfluß des Stalinismus, würde die Arbeiterklasse im Osten und Westen "dazu tendieren, ihre sozialen Forderungen auf höchstem Niveau zu vereinheitlichen, neue erringen und das Ausmaß demokratischer Freiheiten und politischer Demokratie vergrößern. Diese Realität unterminiert bereits klar ersichtlich alle Pläne der europäischen Bourgeoisie."

Es stimmt natürlich, daß eine in Zukunft geeinte deutsche Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Offensive kämpfen und neue soziale Errungenschaften erreichen wird. Aber die erste Aufgabe von Revolutionären besteht darin zu sagen, was ist - und zwar, daß die ostdeutsche Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage erlitt, als sie sich zwischen November 1989 und April 1990 unfähig zeigte, die Gunst der Stunde zu nutzen und um die politische Führung zu kämpfen.

Die Zerschlagung der bürokratisch Planwirtschaft und derjenigen sozialen Errungenschaften, die die Stalinisten akzeptieren mußten, markieren eine Niederlage für die Arbeiterklasse im Osten wie im Westen. Die gegenwärtige ideologische Hegemonie des Kapitals bei großen Teilen der Arbeiterklasse wird nicht ewig währen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß diese für Revolutionäre ungünstige Situation unser Ausgangspunkt ist, und nicht ihre Verharmlosung durch irgendwelche tröstlichen Phantasien über zukünftige Kämpfe.

Die Stalinophobie der TAVI machte sie auch blind gegenüber realen Differenzen in der stalinistischen Bürokratie, die sie als undifferenzierten Block betrachtete. Für Matti et al (wie auch für die Lambertisten) ist die Bürokratie einzig und allein ein Agent des Imperialismus in der Arbeiterbewegung und daher zur Gänze und immer für die Restauration des Kapitalismus:

"In unserer Sicht gab es eine Klassenpolarisierung zwischen zwei Lagern - den Imperialismus und die Bürokratie auf der einen Seite, der Arbeiterklasse auf der anderen".

Der mangelnde Realitätsgehalt der TAVI-Position zu Osteuropa zeigt sich auch an ihrer blauäugigen Sorglosigkeit gegenüber der Gefahr der kapitalistischen Konterrevolution. Noch im März 1991 behauptete Matti, daß "die kapitalistische Restauration in nächster Zukunft in Osteuropa und der UdSSR nicht stattfinden wird". Polen und Ungarn werden ihn bald eines bessern belehren.

In einer anderen Huldigung des Lambertismus argumentiert die TAVI, daß die Entwicklung demokratischer Forderungen die Hauptlinie des Voranschreitens des internationalen Proletariats sei. "Radikale Demokratie bis zur letzten Konsequenz umgesetzt, das ist revolutionär", behauptet Matti. Diese Position war es auch, die die TAVI dazu brachte, zuerst und an zentraler Stelle die Losung einer konstituierenden Versammlung für ein vereinigtes Deutschland aufzustellen, statt der Arbeiterräte.

Von Anfang an akzeptierte die TAVI, daß es eine "demokratische" Etappe der Wiedervereinigung geben werde, daß sie notwendigerweise eine Periode durchlaufen müsse, in der die Losung der konstituierenden Versammlung die Schlüsselforderung sein werde. Selbst zu einem so späten Zeitpunkt wie dem Jahresbeginn 1990 versagte die TAVI darin, die Frage von Arbeiterräten aufzuwerfen. Das ist kein "Mißgeschick". Es ist das Resultat ihrer rechtszentristischen Methode, die versucht, einen "demokratischen" Weg statt den des Kampfes für Arbeiterdemokratie und Arbeitermacht zu beschreiten.

Socialist Action (US) stellte eine anderen Oppositonstendenz zur Mehrheitslinie dar, daß in Nikaragua ein Arbeiterstaat entstanden sei. Andererseits bestehen sie jedoch darauf, daß die FSLN eine "Partei von Revolutionären in Aktion" gewesen sei, was bedeutet, daß die FSLN eigentlich nur in die richtige Richtung gedrängt werden müßte. Zur Frage der politischen Revolution in Kuba äußert sich diese Tendenz ausgesprochen vage. Sie zieht es vor zu sagen, daß sie "Räteformen der Regierung befürworten". Trotz ihres Statements, daß "die Vierte Internationale ohne einen Führungswechsel untergehen wird", stellt Socialist Action keinen qualitativen Bruch mit der zentristischen Methode des VS dar.

Angesichts der Ähnlichkeit vieler Positionen von Socialist Action und der TAVI ist es schwer einzusehen, warum sie keine gemeinsame Opposition gebildet haben, wie das 1989 ursprünglich vorgeschlagen wurde. Aus irgendwelchen fraktionellen Gründen scheiterten die Verhandlungen und Anfang 1991 wurde Socialist Action durch eine prolambertistische Abspaltung, die etliche Führungsmitglieder umfaßte, darunter die Inspiratoren vieler ihrer lambertistischen Positionen, deutlich geschwächt.

Außerdem sind eine Reihe ehemaliger SWP-Führer (Sheppard, Miah und Lund) Socialist Action zu Beginn der 1990er Jahre beigetreten, die ihre vollständige politische Übereinstimmung mit den neo-stalinistischen Positionen der SWP(US) verkündeten.

Die Linke Tendenz (LT) kommt aus einer anderen politischen Tradition, aber sie ist ebenso vom Zentrismus des VS geprägt. Korrekterweise hält sie fest, daß "die Politik der Internationale während der letzten paar Jahrzehnte eine Reihe analytischer, strategischer und taktischer Fehler war". Aber daraus ziehen sie nicht den naheliegenden Schluß: Die Führung des VS ist unrettbar zentristisch und das VS kann nicht als Ganzes in eine revolutionäre Organisation umgewandelt werden.

Das LT-Dokument, das dem Kongreß vorgelegt wurde (wo es eine Stimme erhielt), ist bedeutend kürzer als das ursprünglich intern zirkulierte Papier. Die Kritik an der Linie der Führung zu Nikaragua wurde durch ein vages, obligatorisches Bekenntnis zur permanenten Revolution ersetzt. Ob das geschah, um dem Zorn der Führung zu entrinnen oder um eine opportunistische Allianz zu schaffen, änderte nichts am Ergebnis: Trotz ihres Anspruchs zeigte sich die LT als loyale Opposition im VS.

In keiner Version ihres Dokuments wurde Gorbatschow oder die Krise der UdSSR erwähnt. Bezüglich der Schlüsselfrage der politischen Revolution fand sich nicht die geringste konkrete Kritik an der Bilanz des VS. Wie es bei VS-Oppositionen zumeist üblich ist, mußten allgemeine Bemerkungen als verklausulierte Darstellung bestimmter politischer Differenzen herhalten. Diplomatische Formeln und die Weigerung zu sagen, was ist, sind Kennzeichen des Zentrismus und nicht des Trotzkismus.

Bezüglich der "besonders Unterdrückten", einem der Fetische des LT, liegen sie ganz auf der Linie der VS-Methode, indem sie für "autonome" klassenübergreifende Bewegungen und eine "strategische Allianz" der Unterdrückten mit der Arbeiterklasse eintreten. Die gesamte Strategie der LT und ihrer damaligen Gesinnungsgenossen im "Internationalen Trotzkistischen Komitee" drückte sich schließlich in der erneuten Bekräftigung ihrer Position aus, daß das VS eine besondere Art des "Zentrismus mit trotzkistischem Ursprung" darstelle, der dem stalinistischen, sozialdemokratischen, nationalistischen oder syndikalistischen Ursprungs qualitativ überlegen wäre.

In einer bemerkenswerten Stellungnahme, die mehr mit Metaphysik als mit Marxismus gemein hat, behauptete sie, daß "die Vierte Internationale lebt, aber sie lebt durch die Existenz ihren verschiedenen, organisatorisch getrennten Fraktionen". Anders herum: Trotz der Fehler, die die LT aufzeigt, betrachten diese braven Revolutionäre Mandel, Lambert und den Rest der größeren Organisationen als "Vierte Internationale", die bloß der "politischen Regeneration" bedarf.

Wenngleich dieser zentristische Unsinn Unterstützern der LT im und außerhalb des VS gefallen mag, so trägt er nichts dazu bei, die programmatischen Fragen, die im Zentrum der Wiedergründung einer revolutionär-kommunistischen Internationale stehen, zu klären - ebensowenig wie dadurch der zentristische Bankrott all der Organisationen, die von sich behaupten, die Vierte Internationale zu verkörpern, aufgezeigt wird. Es ist vielmehr ein Rezept für zentristische Verwirrung, ein Fahneneid auf eine zentristische Tradition, die seit über vierzig Jahren besteht.

An einem Wendepunkt

Der Mangel an Selbstvertrauen, mit dem das VS in die Zukunft blickt, wird nirgendwo deutlicher als an seinem langsamen organisatorischen Zusammenbruch. Am 13. Weltkongreß mußten die europäischen Sektionen einen dramatischen Mitgliederschwund von 25% registrieren. Ein halbes Dutzend Sektionen hatte sich allein in der zweiten Hälfte der 80er Jahre im Namen der letzten Kursänderung aufgelöst. Andere hatten sich gespalten. Die schweizer Sektion fand es nicht einmal der Mühe wert, am Kongreß teilzunehmen.

Sowohl an der Basis als auch in der Führung gab und gibt es eine weitverbreitete Demoralisierung. Während der 80er Jahre etablierte sich unter den VS-Leitungen zunehmend eine "Hände weg von ..."-Politik. Das sechsmonatig geplante IEK tagte zwischen 1982 und 1984 fast zwei Jahre lang nicht und hat seither gerade einen jährlichen Rhythmus eingehalten, während die monatlichen Sekretariatssitzungen nur noch vierteljährlich stattfanden.

Der Gehalt der von den einzelnen Gremien und Komitees produzierten Dokumente wird stetig geringer. Sie basieren meist auf mündlichen Berichten oder Artikeln mit außergewöhnlich geringem programmatischen Gehalt. Und der 13. Kongreß ergötzte sich auch noch an dem losen förderalen Charakter des VS:

"Jede nationale Organisation hat ihr eigenes politisches Profil, ihre eigenen Einheitsfronten, ihre eigene Verantwortung und Entscheidungskompetenz".

Kein Wunder, daß sich die internationale Führung so selten trifft und so wenig interveniert! Was würde das auch schon ausmachen, hat doch jede Sektion die oberste Einscheidungsgewalt über ihre Linie?

Das VS bereitet seinen eigenen Zerfall entlang nationaler Linien vor. Das Verschwinden so vieler Sektionen in reformistischen, nationalistischen oder rechtszentristischen Organisationen ist nur die erste Etappe des organisatorischen Zusammenbruchs, den aufzuhalten weder die Führung noch die Mitgliedschaft geneigt zu sein scheinen.

Es gibt kein Zeichen dafür, daß sich eine genuin kritische und revolutionäre Opposition entwickeln wird, um diesen Degenerationsprozeß zu stoppen. Selbst wenn die Führung einen neuen zentristischen Kurswechsel durchführen würde und damit den Laden in letzter Minute retten, so wäre dies nur eine zeitweilige Atempause. Nur ein vollständiger Bruch mit der über 40 Jahre alten zentristischen Methode des VS kann die Basis dazu befähigen, eine Programm und eine Organisation zu finden, die den Weg zur politischen Revolution im Osten und zur sozialen Revolution im Westen weisen kann.

Obwohl das VS behauptet, die Vierte Internationale Trotzkis zu sein, wird es vom Selbstzweifel an seiner historischen Rolle geplagt. Und das zurecht. 1938 schloß Trotzki das Übergangsprogramm, das Gründungsdokument der Vierten Internationale, mit dem krönenden Aufruf: "Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder, sammelt euch um das Banner der Vierten Internationale! Es ist das Banner eures kommenden Sieges!" 1991 war das VS gerade dazu fähig, festzustellen: "Wir sind davon überzeugt, daß unser Programm und unsere Analyse verdienen, gekannt zu werden". Dieser Unterschied sagt alles.

 

 

 

Vor dem 14. Weltkongreß:

Der letzte Walzer des Vereinigten Sekretariats?

Vor über fünf Jahren fiel die Berliner Mauer. Der darauf folgende tiefgreifende Wandel der internationalen Situation und der Weltarbeiterbewegung eröffnete Revolutionären große Möglichkeiten. Das Verschwinden der stalinistischen Diktatur und die Anerkennung des arbeiterfeindlichen Charakters dieser Regime hat die Richtigkeit des Kampfes Trotzkis und der Trotzkisten gezeigt.

Auch wenn die folgende Schwächung der stalinistischen Parteien auf der ganzen Welt eine gewisse Schwäche in der Arbeiterbewegung erzeugt hat, so hat sie auch stärker den Blick für die Schaffung neuer Organisationen, die Radikalisierung neuer Gruppierungen, frei vom Geschwür des Stalinismus, geöffnet.

Aber für das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS) und seine Sektionen bedeutet der Zusammenbruch des Stalinismus - weit entfernt davon, den Blick auf die Erneuerung der wirklichen leninistisch-trotzkistischen Tradition zu lenken - "das Ende des von der Oktoberrevolution eingeleiteten historischen Zyklus. Der öffentliche Mißerfolg des Stalinismus prallt auf das sozialistische Projekt selbst zurück und wirft Zweifel an dessen Lebensfähigkeit auf."

Für das VS stellt das praktische Verschwinden des Stalinismus die ganze Linie des Trotzkismus, einschließlich des Unterschiedes zwischen revolutionärer und reformistischer Politik, in Frage: "Gewisse historische Bezüge zu den komplexen Scheidelinien und Spaltungen im Schoße der kommunistischen Bewegung der 30er Jahre werden relativ werden, überlassen einer Neubewertung der klassischen und grundlegenden Trennung zwischen Revolutionären und Reformisten den Platz."

In einer instabilen Situation also, in der nach den Worten eines Ernest Mandel das, was heute weltweit auf dem Spiel steht, dramatisch ist, in der "es sich buchstäblich um das physische Überleben der Menschheit handelt", schlägt uns das VS ganz einfach vor, ein Programm zu entwickeln, das - selbst wenn es abstrakt den Namen des Sozialismus beansprucht - vor allem anderen damit rechnet, keine Unterschiede mehr zwischen Reform und Revolution zu ziehen!

Der Grund für diesen Pessimismus und diese Passivität liegt darin, daß die Führer des VS glauben, "daß ein soziales und ideologisches Kräftegleichgewicht existiert, das im Moment jede qualitative Transformation im Aufbau einer revolutionären Vorhut auf weltweiter Stufenleiter blockiert." Diese defätistische - und, anders als sie uns glauben machen möchten, unrealistische - Position ist ganz anders als die Trotzkis.

Indem er die fürchterlichen Auswirkungen des schlimmen Verrats des Stalinismus in Rußland, China, Deutschland, Frankreich und Spanien unterstrich, erkannte er doch an: "Das heißt natürlich nicht, daß sich die Mitglieder dieser Organisationen auf einen Schlag der IV. Internationale zuwenden werden. Die ältere Generation, die schreckliche Niederlagen erleiden mußte, wird zum großen Teil den Kampf aufgeben. (...) Wenn sich ein Programm oder eine Organisation verbraucht hat, verbraucht sich auch die Generation, die sie auf ihren Schultern trug. Die Erneuerung der Bewegung vollzieht sich durch die Jugend, die frei ist von aller Verantwortung für die Vergangenheit."

Aber wie schwungvoll haben das die Führer des VS ausgedrückt: "Wir haben den zu anderen Zeiten entstandenen Anspruch, die Weltpartei der proletarischen Revolution zu sein, zugunsten einer nüchterneren Selbsteinschätzung, ein minoritärer, aber besonderer und essentieller Tributpflichtiger der revolutionären Weltbewegung zu sein, zurückgewiesen."

Die Konsequenzen für den Aufbau der Internationale

Mit einer solchen Sichtweise seiner eigenen Rolle und der Periode ist es nicht eben erstaunlich, daß das VS buchstäblich seine Daseinsberechtigung zu verlieren beginnt. Warum soll man sich ohne programmatische Differenzierung auf organisatorischer Ebene von den reformistischen Kräften abgrenzen? Daher hat das VS seit seinem 1985 abgehaltenen 12. Weltkongreß seine Sektionen ermuntert, mit aus anderen Richtungen stammenden Strömungen zu fusionieren. Unter der Vorstellung, daß "heute sicher in mehreren Ländern Sandinisten von morgen existieren", entwickelte das VS die Idee, daß seine Sektionen und "die Sandinisten von morgen" fusionieren sollten. Im folgenden wandte sich eine ganze Reihe der Sektionen - in Deutschland, Kolumbien, Italien und Bolivien - der Fusion mit solchen "Sandinisten" mal hier, mal da zu.

Als 1992 der 13. Weltkongreß des VS stattfand, hatte sich die Welt radikal geändert. Für das VS hatte der Zusammenbruch des Stalinismus jede Hoffnung auf eine schnelle Neugruppierung der Weltarbeiterbewegung gründlich weggefegt: "Die Sackgasse reformistischer Politik in den kapitalistischen Ländern und der Konkurs des bürokratischen Systems münden darin, das ganze sozialistische Projekt in Zweifel zu ziehen. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust verhindert keine sozialen Explosionen, Widerstandskämpfe und große Mobilisierungen für wirtschaftliche Forderungen, aber er bremst die Kristallisation dieser gesellschaftlichen Energie um ein neues revolutionäres Transformationsprojekt herum und lastet schwer auf der Entstehung von Klassenbewußtsein."

Mit diesen neuverteilten Karten konfrontiert, hat das VS sehr pessimistische Schlußfolgerungen gezogen. In einem ersten Dokument für den nächsten Weltkongreß mit dem Titel "Aufbau der Internationale heute" predigt das VS die Verallgemeinerung dieser Auflösungspolitik der Sektionen in größere Organisationen: "Der Einsatz besteht darin, einen Wandel in der Vierten Internationale durchzusetzen. Wir wollen den Vorteil, den uns unsere nichtsektiererische Herangehensweise seit einigen Jahren immer mehr gestattet hat, bekräftigen und vertiefen: nicht mehr einfach als trotzkistische Gruppierung unter anderen angesehen zu sein, sondern als eine Komponente der weltrevolutionären Bewegung, die internationale Solidarität und den Kampf gegen die Unterdrücker über jedes fraktionelle oder ideologische Kalkül stellt....Eine wirkliche, wenn auch moderate Ausdehnung unserer Bewegung ist überall möglich, in den Ländern, wo die Internationale in der Vergangenheit nicht arbeiten konnte, und in jenen, wo unsere Sektionen einen Vertrauensvorschuß und einen Einfluß in der Avantgarde der Massenbewegung trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten, Mitglieder zu rekrutieren, gewinnen konnten. In diesem Zusammenhang kann es sich als notwendig erweisen, sich mit anderen revolutionären Kräften auf der Basis einer Annäherung in den Kämpfen umzugruppieren, indem man sich gleichzeitig politisch und programmatisch näherkommt oder sich den ideologisch instabilen Kräften des Klassenkampfes anzuschließen, die Masseneinfluß haben und immer gewisse Formen an Radikalisierung generieren können. Verschiedene Erfahrungen, in die die Sektionen der Vierten Internationale schon verwickelt sind, veranschaulichen diese zwei Möglichkeiten: Brasilien, Italien, der spanische Staat, Senegal, Deutschland. (...) In beiden Fällen werden wir uns - im Unterschied zu einer rein entristischen Intervention in den reformistischen Massenparteien - in den langfristigen Aufbau einer gemeinsamen Organisation auf der Grundlage einer wirklichen Kampferfahrung einschalten."

Diese Politik des Aufgehens der Sektionen in einer Reihe von oft mit prinzipiell elektoralistischen Zielen und Programmen ausgestatteten Kräften, die sich immer mehr von revolutionärer Politik entfernen, ist tatsächlich ins Werk gesetzt worden:

• In der Schweiz lancierte die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP)/Parti Socialiste Ouvrier (PSO) im April 1993 einen Aufruf zum Widerstand gegen die verschiedenen Ausprägungen der neokonservativen Offensive und zum Kampf für eine neue politische, soziale und ökonomische Bürgerbewegung. Seitdem nimmt die von der SAP/PSO initiierte Front SolidaritätS (Schweiz!) an einer anderen Front, der Linksallianz/Alliance de Gauche, teil, die bei einer Kantonalwahl im Oktober 1993 19% der Stimmen und 21 Sitze (davon 5 für SolidaritätS) erhalten hat.

• In Spanien, dem Modell der Auflösungspolitik, hat die spanische LCR seit ihrer Fusion mit einer ex-maoistischen Organisation, der Kommunistischen Bewegung, die Ende 1991 über die Bühne ging, einen heftigen Reinfall erlitten. Seit 18 Monaten hat die LCR erkannt, daß die Fusion eine relative Paralyse hervorgebracht hat, die divergierenden organisatorischen Konzeptionen und Uneinigkeiten über die politische Intervention geschuldet ist. Im Gefolge hat die LCR an der Izquierda Alternativa (IA - Linke Alternative), die mehr einer militanten Koordination, denn einer wirklichen Organisation entspricht, teilgenommen. Die IA selbst hat sich wiederum an der Izquierda Unida (IU - Linkseinheit) beteiligt, einer Art Wahlblock, der sich in Richtung einer Alternativen Linken, die zur gegenwärtigen Gesellschaft in radikaler Opposition steht, zu entwickeln wünscht.

• In Uruguay beteiligt sich die PST mit den Tupamaros und anderen an der MPP (Bewegung für Volksbeteiligung), einer reformistischen Organisation, die selbst mit linken Reformisten am Wahlbündnis "Frente Amplio" teilnimmt.

• In Dänemark hat sich die SAP, die Sektion des VS, seit 1989 zusammen mit der dänischen KP, den Linkssozialisten und der KAP, einer ex-maoistischen Organisation, an der Rot-Grünen Allianz beteiligt. Das Bündnis hat ein Programm sehr detaillierter parlamentarischer Reformen angenommen, das eine Politik sozialen Wandels mit einer zur Lösung der großen Umweltprobleme kombiniert.

• In Portugal steht die PSR auf der Liste "Für Lissabon", die 1993 in der Stadt Lissabon 60% der Stimmen erhielt (3 gewählte PSRler). Für die PSR muß man sich zu organisieren beginnen, um soziale Prioritäten wie den öffentlichen Nahverkehr zum Laufen zu bringen, ihn gründlich neu zu organisieren, damit die Stadt für alle zugänglich bleibt.

• In Italien hatte sich die LCR 1988 in die linksreformistische Democrazia Proletaria (DP) hinein vollständig aufgelöst - drei Jahre, nachdem sie den Vorschlag einer programmatischen Fusion, der aus der DP kam, zurückgewiesen hatte. In der Folge hat sich die DP in die PRC verkrümelt, den linken Flügel der ehemaligen KP, der so reformistisch wie seine Vorfahrin ist.

• In der Türkei hat sich die kleine Sektion Yeni Yol (Neuer Kurs) im März 1994 mit drei anderen Organisationen zur BSP (Vereinigte Sozialistische Partei) vereinigt, einem in Wirklichkeit über jede ernste Frage durch ihr Konsensprinzip blockierten gemeinsamen Kader. Anläßlich der Kommunalwahlen im Frühling 1994 erhielt die BSP 0,3% der Stimmen...

• In Deutschland, wo die GIM schon vor bald 10 Jahren mit einer maoistischen Organisation fusioniert hat, um die VSP zu bilden, kokettiert die VSP ernsthaft mit der PDS. Während die Mehrheit der noch verbliebenen Mitglieder des VS in Deutschland das VSP-Debakel geschwächt beendet hat, sind einige bekannte Mitglieder derselben Internationale für die PDS ins Parlament oder in den Parteivorstand gezogen.

Und da, wo sich die Kämpfer dieser politischen Richtung widersetzt haben, wie in Deutschland oder Südafrika, war das Ergebnis eine Abspaltung, sei es durch die, die eine unabhängige Organisation schaffen wollen (wie der deutsche RSB, der Sektion werden möchte) oder durch die, die sich an Massenorganisationen anpassen wollen (wie in Südafrika).

Belgien und Frankreich

Diese Politik lief nicht überall, und wie es oft der Fall ist, sind die Reinfälle so erhellend wie die Erfolge. Nach dem Generalstreik im Herbst 1993 sagte die Parti Ouvrier Socialiste (Sozialistische Arbeiterpartei), VS-Sektion in Belgien, "daß die soziale Bewegung durch den Kampf die politischen Apparate zerbrechen und durch die Perspektive einer 'sozialen Regierung' eine breite politische Umgruppierung der Linken erzwingen könnte."

Also wurden in Wallonien die Vereinigten Linken (Gauches Unies - GU) kreiert, eine Bewegung aus Individuen, "in den sozialen Bewegungen aktiven Frauen und Männern, Mitglieder politischer Parteien und Unorganisierte, die ihre Anstrengungen vereinen wollen, um auf politischem Feld ein Gewicht darzustellen, eine wirkliche Wahl zu präsentieren und wirkliche Debatten zu eröffnen" ("Breites Programm")

Was ist laut GU diese "wirkliche Wahl"? "Die Arbeit ändern, um das Leben zu ändern... Für internationale Solidarität... Eignen wir uns die Demokratie wieder an. Geben wir der Politik ihren wahrhaftigen Sinn zurück: indem wir die paritätische Demokratie (zwischen Männern und Frauen; Anm d. Red.) verwirklichen."

Es ist sicher kein Zufall, daß das Wort Klasse aus dem Appell der GU gänzlich ausgeschlossen ist. Trotz dieser blutleeren Wahl ist das Echo auf die Initiative aufwühlend genug gewesen - gemäß den Worten eines leitenden Mitglieds der POS. Nur, daß im Moment des fälligen Wahltermins die einzigen, die aufgewühlt waren, die Militanten der GU selber waren! Unter der Auswirkung von Durchhalteparolen und Selbsttäuschung glaubten einige sicher, die GU würde anläßlich der Europawahlen 1994 5% der Stimmen erhalten. Die Wahrheit war eine ganz andere: 35.580 Stimmen bedeuteten 1,6% - ein normales Ergebnis für eine extreme Linke, die keine ist.

Trotz des offenkundigen Mißerfolgs und dem Eingeständnis, die GU habe nicht vermocht, sich um klare programmatische Punkte herum zu profilieren, bestand die POS, die nichts gelernt und nichts vergessen hat, weiter darauf und unterschrieb, für sie habe die GU eine Chance, eine Schlüsselrolle in der Neuzusammensetzung der Linken zu spielen, komme, was wolle...

In Frankreich sucht die LCR seit 10 Jahren verzweifelt eine Kraft, mit der sie fusionieren könnte. Ihre Politik und ihre Aktien sinken von Tag zu Tag. Aus Mangel an Partnern oder an Moral?

Zwischen 1985 und 1986 suchte die LCR Partner in der Alternativbewegung (gewerkschaftliche und Umweltschutzaktivisten usw.). Dann versuchte sie, mit der Bewegung um Juquin zu verschmelzen. Juquin, ein Stalinist, nutzte die Aktivisten der Ligue als Plakatklebekolonne, dann ließ er sie im Stich. In den 1990er Jahren hat diese Stoßrichtung die LCR hinter diversen PCF-Strömungen hinterherlaufen lassen, ja sogar hinter der nationalistischen Bürgerbewegung Chevènements. Der letzte Schwenk: das lächerliche Anbiedern an Dominique Voynet. Voynet fröstelt schon mehr als Juquin und sie will nicht einmal Plakatkleber, die - wenn auch lauwarm - für die Revolution Reklame machen. Sie hat jedes Bündnis mit der LCR abgeschlagen.

Noch einmal: die LCR findet sich mit einer Politik als Waisenkind allein gelassen, die die Bildung einer "nicht-umgrenzten" Partei strategisch predigt, aber ohne mögliche Partner bleibt. Wenn die LCR mit ihrer augenblicklichen Politik fortfährt, wird sie nicht mehr als zwei Möglichkeiten haben: dieser Strategie bis zu Ende zu folgen und mangels Partnern auf eine langsame Auflösung zuzugehen oder Matti und seinen Genossen zu folgen. Letztere wandten die gleiche Methode wie das VS an und haben sich entschieden, die LCR aufzugeben und die Parti Socialiste aufzubauen, eine strategisch unbegrenzte Partei - wenn sie denn eine ist!

Und die Erfolge?

Offensichtlich wollen die Militanten des VS uns als Sektierer behandeln und ihre Erfolge unterstreichen, besonders ihre Abgeordneten in Europa, Winfried Wolf in Deutschland und Soeren Soendergaard in Dänemark. Nochmals, sicher folgt ihre Politik der des VS, das zunächst versucht, sich wie neu gewendete Linksreformisten darzustellen. So hat Wolf auf Basis seiner Unabhängigkeit von der Linie der PDS (Ex-SED) "in Baden-Württemberg, dem von Daimler-Benz beherrschten Land, eine Kampagne geführt, die sich um eine Opposition gegen diese Monostruktur Baden-Württembergs und die Denunziation des übermäßigen Automobilverkehrs rankte... Das Sinnbild unserer Kampagne war ein zerbrochener Mercedes-Benz-Stern."

Sehr gut, Genossen! Für unseren Teil stimmen wir mit der Kommunistischen Internationale überein, für die das Wesen der ganzen Wahlkampagne darin bestand, das kapitalistische System zu attackieren (und nicht den übermäßigen individuellen Autoverkehr...) und das Parlament als Tribüne für die Mobilisierung der Massen gegen den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie und für die Macht der Arbeiter zu nutzen. Aber auch das ist ohne Zweifel ein Anspruch, der in anderen Zeiten entstanden ist...

Das gleiche geht in Dänemark vor sich, wo Soendergaard damit rechnet, seine neue Position dafür nutzen zu können, "um ein Gesetz für die Arbeitslosenunterstützung vorzuschlagen, Parlamentsentscheidungen öffentlich zu machen und den Kontakt mit den oppositionellen Anti-Maastricht Gruppen zu festigen." Man kann solche Arbeit den Reformisten überlassen... es sei denn, man will ihren Platz einnehmen.

Eine ernüchternde Bilanz

Generell ist die Bilanz des Aufbaus des VS alles andere als rosig - selbst in den Ländern, wo es eine starke und einflußreiche Sektion gegeben hat:

• In den USA gibt es zwei Sektionen, aber weder die eine noch die andere ist im Begriff zu wachsen.

• In Großbritannien ist die Sektion auf ihrem tiefsten Niveau seit 25 Jahren mit weniger als 100 Mitgliedern, die sich im Schoß einer Labour Party verstecken, und die immer rechter wird.

• In Deutschland existiert die Sektion seit 10 Jahren nicht mehr und einzelne Kader werden bald in den Eingeweiden der PDS verschwunden sein.

• In Frankreich verliert die LCR täglich einige Kämpfer und Hoffnungen mehr.

• In Mexiko scheint die PRT real nicht mehr zu existieren. Das Schweigen in den Publikationen des VS über die Aktivität der Sektion, besonders während des Aufstands von Chiapas, ist niederschmetternd.

Und dennoch, wie steht es in einem Vorbereitungsdokument für den nächsten Weltkongreß: "Wir können nicht sagen, daß die Internationale heute ohne bedeutende Präsenz in den wichtigsten Industrieländern existiert."

Aber das ist die Wirklichkeit. Und daran ist nichts Unvermeidliches. Die aktuelle Verwirrung des VS ist das Ergebnis einer doppelten politischen Wahl. Das VS hat sich in der Vergangenheit an alle politischen Kräfte angepaßt, die sich entwickelten - wer sich bewegt, ist rot! - und besonders an die, die sich dem Stalinismus annäherten bzw. von dorther stammten. Heute sind dieselben Kräfte vollständig niedergeschlagen und haben jeden politischen und geschichtlichen Bezugspunkt verloren. Und wieder einmal folgt ihnen das VS.

Nur daß dieses Mal die Kombination aus politischen und organisatorischen Anpassungen gemeinsam mit dem Verlust von Aktivisten das VS schlicht und einfach in die Auflösung treiben könnte, einschließlich all der Verwirrung, die das für manche von ihnen mit sich brächte, die wirklich eine revolutionäre Partei und Internationale aufzubauen wünschen.

So muß es nicht kommen. Das Problem ist nicht allein, daß die Sektionen des VS sich aufzulösen versuchen, selbst wenn das eine wichtige Frage ist. Es ist zunächst eine Frage des Programms, der Grundlage für den Aufbau einer solchen Partei.

Und diesbezüglich irrt das VS schon seit langem umher. Sein aktueller Pessimismus und seine innere Unordnung sind das Resultat eines programmatischen Bankrotts, der auf 1948 zurückgeht, als die Internationale angesichts Titos und der jugoslawischen KP, den Sandinisten dieser Epoche, die Kompaßnadel verlor.

Es ist dieselbe zentristische Methode politischer, programmatischer und organisatorischer Anpassung, die alle die Organisationen auszeichnet, die für sich in Anspruch nehmen, seit mehr als 40 Jahren die Vierte Internationale zu verkörpern. Das VS unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht; es ist nur einem komplexeren Verlauf gefolgt.

Einige Genossen werden unsere Kritik teilen, aber sagen, daß man inmitten der Internationale bleiben muß, weil es keine andere Option gibt. Es handelt sich um einen tiefgreifenden Irrtum. Wie die Genossen der schwedischen Sektion gezeigt haben, gibt es gut und gerne ein Leben außerhalb des VS, ein Leben und ein Programm, die viel mehr wert sind als der Titel Vierte Internationale, dessen sich das VS rühmt, ein Leben als Mitkämpfer in unserer Organisation, der LRKI.

 

 

 

Vor dem 14. Weltkongreß:

Abwege des Pessimismus

Eine Kritik des programmatischen Manifests des VS

Der historische Wandel der Weltsituation seit 1989 hat die Illusionen, die die Politik der wichtigsten opportunistischen Formationen in der internationalen Linken charakterisiert haben, brutal bloßgestellt. Der Kollaps des Stalinismus, der Niedergang und Mangel an Dynamik der Sozialdemokratie, die Niederlagen kleinbürgerlicher und bürgerlicher nationaler Befreiungsbewegungen: all diese Phänomene kamen als schrecklicher Schock auf politische Tendenzen hernieder, die ihre gesamte Strategie auf Anpassung an diese Kräfte begründet hatten oder auf Schemata, die die ununterbrochene Entwicklung von deren immanentem sozialistischen Potential einschlossen.

Wenige haben die Geschichte so erbarmungslos gefunden wie das "Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale" (VS). Seit ihrer Gründung 1963 hat diese Strömung ihre Politik und ihr Programm systematisch an immer wieder wechselnde nationale politische Formationen angepaßt, die zufällig an der Spitze der im Kampf befindlichen Massen standen. Sie hat dabei eine objektivistische politische Methode angewandt, die ständig die Aufgaben, die bewußten revolutionären Arbeitern zufallen, einem sich automatisch entfaltenden revolutionären Geschichtsprozeß unterschmuggelte.

Das "Programmatische Manifest", angenommen vom VS 1992, behält diese, für das VS charakteristische Methode bei. Aber die Schwächung und Diskreditierung der Kräfte, an die es sich anzupassen so versessen war, hat einen Unterton tiefer Ernüchterung, von Pessimismus und Verzweiflung in seine Analyse hineingetragen.

Sicher waren die 80er Jahre ein Jahrzehnt ernster Niederlagen für die Arbeiterklasse in weltweitem Maßstab. Diese ereigneten sich vorrangig, weil aus den massiven Klassenschlachten der vorangegangenen zwei Jahrzehnte keine revolutionären Massenparteien und keine Internationale als Alternative zu den verschiedenen reformistischen und bürgerlichen Führungen der Arbeiterklasse aufgebaut wurden. Aber diese grundlegende Ursache des Versagens der Arbeiterbewegung, objektive Gelegenheiten in wirklich revolutionären Fortschritt umzusetzen, erfährt kaum eine Erwähnung im Programm des VS. Noch gibt es irgendeine Untersuchung der geschichtlichen Erfahrungen des Klassenkampfs seit dem Krieg oder der wirklichen, praktischen Gründe für konkrete Rückschläge im Kampf. Die strategischen und taktischen Lektionen dieser Niederlagen sind nicht untersucht.

Kleinbürgerlicher Pessimismus

Statt dessen werden den Ursachen für die Niederlagen rein objektive Faktoren zugeschoben. Es gab keine Siege, weil Siege nicht möglich waren. Jeder, der dies als Fehlinterpretation der Ansicht des VS betrachtet, sollte das Programmatische Manifest lesen. Was sonst kann unter der platten Feststellung verstanden werden, daß "es im vergangenen Jahrzehnt keine allgemeinen Massenkämpfe mit antikapitalistischer Stoßrichtung" gab?

Dies leugnet nicht nur die Möglichkeit, daß sich viele der Massenkämpfe der 80er Jahre in Herausforderungen für den kapitalistischen Staat oder die stalinistische Bürokratie entwickeln und eine neue Führung im Kampf geschmiedet hätte werden können, sondern selbst, daß ein solches Potential in jenen Kämpfen enthalten war. Soviel zum antikapitalistischen Potential der Kämpfe der südafrikanischen Arbeiterbewegung oder selbst des einjährigen britischen Bergarbeiterstreiks.

Die rumänischen Arbeiter werden nicht nur überrascht sein zu lesen, daß es "seit Solidarnosc in Polen (1980/81) keinen allgemeinen Aufstand im Osten gegen die bürokratische Diktatur" gegeben, sondern daß es "seit Nicaragua (1979)... keine siegreiche Revolution" gab. Sicher wurde die Revolution, die Ceaucescu gestürzt hat, nicht durch die Errichtung der Rätemacht in eine permanente verwandelt... aber so auch im Gegensatz zu den Illusionen des VS die nicaraguanische Revolution nicht. Dies heißt nicht, diese hätten auf ihrem Weg nichts erreicht oder sie seien keine Revolutionen gewesen. Wenn man nach einer siegreichen sozialistischen Revolution Ausschau hält, so gab es keine seit 1917.

Das VS vertraute darauf, daß die existierenden Führungen der 60er und 70er Jahre eine linke Orientierung angaben, welche wiederum linke Flügel schaffe, die der Aufgabe sozialistischen Übergangs grob angemessen wären. Das Scheitern dieser Kräfte, die Erwartungen des VS zu erfüllen, wird nun nicht der falschen Perspektive des VS zugeschrieben, sondern ungünstigen objektiven Umständen. Darüber hinaus wird der Niedergang sozialdemokratischer, stalinistischer und kleinbürgerlich-nationalistischer Parteien einzig in einem negativen Licht betrachtet.

Natürlich erkennen Marxisten an, daß der relative Niedergang existierender Arbeitermassenparteien in vielen Ländern, wenn sich keine Alternativen der Arbeiterklassen entwickeln, bestimmte Rückfälle im Klassenbewußtsein umfaßt, da Parteien gänzlich ohne Verbindungen zur Arbeiterbewegung aus dem politischen Vakuum Vorteile ziehen. Aber gleichzeitig begründet die Schwächung des Zugriffs der reformistischen Parteien auf die Arbeiterklasse ein teilweises Entfernen der politischen Stoßdämpfer, auf die sich der Nachkriegskapitalismus verließ, um ernsthaften Aufruhr einzudämmen.

Das VS ist gegenüber der internationalen Situation blind. Es redet von einer "Epoche der wachsenden Massenbewegung der Arbeiterschaft", die nun aus strukturellen Gründen am Ende sei. Es hebt den Verlust jener Elemente sozialdemokratischer und stalinistischer Massenorganisationen (die sie irreführend als "Gegenkultur der Arbeiterklasse" definieren) wie Jugendorganisationen, Gewerkschaften, Sport- und Kulturorganisationen usw. hervor, ohne zu erkennen, daß, um was es hier geht, nicht nur einfach eine teilweise Schwächung der in gewissen Ländern bestehenden Klassenorganisationen ist, sondern auch eine Aushöhlung konterrevolutionärer Apparate, die die Bewegung der Arbeiterklasse in Schach gehalten haben, die der Hauptgrund für die Niederlage der Arbeiterkämpfe gewesen sind, die Generationen der besten Kämpfer international fehlerzogen und Schande und Mißkredit über das sozialistische Ziel gebracht haben.

Das VS sieht im Absinken sozialdemokratischer und stalinistischer Parteien weltweit "vom Standpunkt rascher Umgruppierung starker revolutionärer Organisationen" lediglich "einen großen Verlust" wie auch einen "Verlust für die ganze Klasse", weil "in den letzten Jahren zehn-, wenn nicht hunderttausende aktive und vorbildliche Militante - Kader und Führende von Arbeiter, Feministinnen, antimilitaristischen Kämpfen und Drittwelt-Solidaritätsbewegungen - mit den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien gebrochen haben. Doch unter den gegenwärtigen Umständen beurteilen die meisten die Chance skeptisch, etwas besseres zu schaffen."

Wie heftig kontrastiert dieser einseitige Pessimismus mit Trotzkis aggressiver Antwort auf die Desillusionierung der Militanten über die Massenorganisationen in den 30er Jahren. Im Übergangsprogramm von 1938 kombiniert er Realismus, was die unmittelbaren Resultate der Niederlagen angeht, mit einem vom Willen zur Revolution untrennbaren Optimismus:

"Die Niederlage der spanischen Revolution, für die ihre 'Führer' verantwortlich sind, der schändliche Bankrott der Volksfront in Frankreich und das Anslichttreten der Verfälschungen der Moskauer Prozesse: diese drei Tatsachen zusammen versetzen der Komintern einen Schlag, von dem sie sich nicht wieder erholen wird, und bringen dabei ihren Verbündeten, den Sozialdemokraten und Anarcho-Syndikalisten, tiefe Wunden bei. Das heißt natürlich nicht, daß sich die Mitglieder dieser Organisationen auf einen Schlag der Vierten Internationale zuwenden werden. Die ältere Generation, die schreckliche Niederlagen durchgemacht hat, wird zum großen Teil den Kampf aufgeben. (...)

Wenn sich ein Programm oder eine Organisation verbraucht hat, verbraucht sich auch die Generation, die sie auf ihren Schultern trug. Die Erneuerung der Bewegung vollzieht sich durch die Jugend, die frei ist von aller Verantwortung für die Vergangenheit." (Übergangsprogramm, S. 41)

Die einzigen Kräfte, von denen sich das VS vorstellen kann, den Platz der diskreditierten reformistischen Parteien einzunehmen, sind die der Rechten. Es zeigt auf, daß "reaktionäre und rückwärtsgewandte ideologische Tendenzen in das so geschaffene Vakuum eindringen" und listet diese Kräfte gebührend lang auf. Aber die Chance für revolutionäre Sozialisten, diese Krise zu nutzen, um der Arbeiterklasse ein unbeflecktes Banner vor die Augen zu halten, fehlt in seiner Analyse. Und dies verwundert kaum, wenn man in Betracht zieht, daß die ganze Strategie des VS darauf gegründet gewesen ist, exakt die Notwendigkeit organisatorischer, politischer und programmatischer Unabhängigkeit der Revolutionäre zu umgehen, genau die Notwendigkeit, der Vorhut der Arbeiterklasse eine klare trotzkistische Alternative zu präsentieren, zu vermeiden, sondern statt dessen die Fahnen mit dem linken Flügel des Stalinismus, der Sozialdemokratie, des Ökologentums, des Pazifismus und des kleinbürgerlichen Nationalismus zu vereinigen. Das VS - die größte Organisation auf der Welt, die die Fahne von Trotzkis Vierter Internationale für sich beansprucht - hat ausgesprochen versagt, politische Parteien aufzubauen, die in das vom Niedergang der Todfeinde des Trotzkismus innerhalb der Arbeiterbewegung geschaffene politische Vakuum hineinstoßen können. Es ist in einem solchen Ausmaß gescheitert, daß es sogar unfähig ist, die durch den Zusammenbruch des Stalinismus präsentierte Gelegenheit wahrzunehmen.

Sollte jemand an der pessimistischen Natur der VS-Prognosen und seinem Mangel an Glauben an die Möglichkeit für revolutionäre Kräfte, in die vom Stalinismus und linkem Reformismus hinterlassene Leere vorzupreschen, zweifeln, so enthält das Programmatischen Manifests selbst eine vollständige Preisgabe. Nachdem auf die Schwierigkeiten hingewiesen wird, die die imperialistischen Demokratien unter den veränderten Bedingungen der Neuen Weltordnung erleiden werden, bekräftigt die Stelle, daß wir eine Stärkung der Staatsmacht sehen werden und die Entwicklung zu einer "rassistisch-präfaschistischen Kultur.

Angesichts dieser Realität ist Ignoranz unzulässig. Eine Weigerung, die drohenden Gefahren - auch wer und was für sie verantwortlich ist - klar zu erkennen, ist heute genau so verantwortungslos und feige wie vor Auschwitz und Hiroshima."

Nun wäre die LRKI die letzte Tendenz, die die vom Aufstieg faschistischer Parteien in Europa wirklich aufgeworfenen Gefahren herunterspielen würde. Unser Programm enthält eine kämpferische und praktische Antwort auf den Aufstieg faschistischer Banden mit dem Aufruf zur Bildung von Verteidigungstrupps, nach Verweigerung von Rede- und Versammlungsrecht von Faschisten ("Keine Plattform!") und für die Arbeitereinheitsfront. Trotz seiner Ausfälle gegen die unverzeihliche Blindheit enthält das VS-Programm kein Wort, keine praktische Forderung, wie die Arbeiterbewegung das Anwachsen der Faschisten verhindern soll.

Aber es verbreitet das Gefühl, wir lebten unter einer vorfaschistischen Kultur. Dies hat nichts mit revolutionärem Realismus, Weitsichtigkeit oder Verantwortung gemein. Es ist eine entmutigende Vorhersage über den wahrscheinlichen Ausgang der gegenwärtigen Krise. Für den Fall, daß jemand unsere Antwort als selbstgefällig betrachten sollte, folgt hier der Kommentar Leo Trotzkis, der nicht für seine Unterschätzung der faschistischen Gefahr bekannt war, zum Gebrauch genau dieser Redewendungen durch die trotzkistische Jugend in Frankreich im Dezember 1935, als die Gefahr des Faschismus weit größer als heute war:

"Corvin kennzeichnet die Regierung Laval als 'vorfaschistische Regierung'. Dies ist das zweite Mal, daß dieser ernste Fehler wiederholt wird. Der Leser wird daraus schlußfolgern, daß Laval dem Faschismus weichen wird. Unglücklicherweise ist das möglich; aber glücklicherweise ist es überhaupt nicht sicher. Laval mag seinen Posten an Daladier aushändigen und Daladier den seinigen an das Proletariat... Unter allen Umständen müssen wir vermeiden, einen pessimistischen Fatalismus zu verbreiten, indem wir die gegenwärtige Regierung als präfaschistisch charakterisieren." (Krise der französischen Sektion, S. 111)

Das VS geht über den Gedanken, daß nur die Rechte von der aktuellen Krise der offiziellen Arbeiterbewegung profitieren wird, hinaus zur Idee über, daß nur die Rechte daraus Nutzen ziehen kann. Das Programmatische Manifest spielt mit der Feststellung, daß der Niedergang von Sozialdemokratie und Stalinismus nicht Ergebnis ihres Verrats und ihrer Schlappen sei, sondern ein Charakterzug eines irgendwie objektiv begründeten Rückgangs der eigentlichen Bedingungen für kollektive Organisierung. Das ist kaum mehr als die zögerliche Akzeptanz der Argumente von Neoliberalen, versehen mit dem nostalgischen Beigeschmack der guten alten Tage eines staatlich gesponsorten Wohlfahrtssystems bzw. der bürokratischen Planung:

"Individueller Verbrauch wird anstelle des kollektiven (soziale Dienste) gefördert. Die Qualität wird systematisch vermindert, um schnellen Ersatz zu erzwingen. Künstliche 'Bedürfnisse' werden stimuliert. Wilder Überkonsum 'neuer Produkte' wird durch Werbung und Marketing gefördert und schafft den Mythos der 'Konsumentenfreiheit'. Der Spätkapitalismus produziert eine Atmosphäre permanent unbefriedigter Bedürfnisse, die ständig zu allgemeiner Frustration führen.

Die Privatisierung in der Konsumsphäre beraubt die Menschen ihrer Fähigkeit, menschliche Beziehungen zueinander zu unterhalten. Die Norm des kruden Egoismus, nach der 'jeder sich selbst der nächste', die Ursache von Instabilität, Krise und wachsender Irrationalität im Bereich von Produktion, bei Einkommen und in der Arbeit ist, erfaßt nun auch Konsum und Freizeit.

Diese Privatisierung drängt die Menschen in immer größere Einsamkeit, in Zynismus und psychische Depression und verhindert damit ihre Fähigkeit zur gegenseitigen Kommunikation, Leidenschaft und gegenseitiger Sympathie - was alles möglich wäre, wenn das Leben sich in einer größeren oder kleineren Gemeinschaft abspielt. Dadurch werden neue und ernsthafte Hindernisse für die Bildung eines sozialistischen Bewußtseins, für das Engagement im Kampf für eine wirklich überlegene Gesellschaftsordnung geschaffen. Diese Hindernisse sind nicht unüberwindbar, aber sie sind real. Konkrete Strategien zu ihrer Überwindung müssen entwickelt werden."

Die Bedeutung dieser Worte, seien sie auch noch so sehr in die Kuschelsprache bürgerlicher Soziologie eingehüllt, ist äußerst reaktionär. Es soll suggeriert werden, daß nicht der politische Bankrott und Betrug dieser Führungen, die Organisationen der Arbeiterklasse unterminiert hätten (davon kaum eine Erwähnung im Programmatischen Manifest), sondern die Entwicklung des Kapitalismus selbst, die die Kapazität der Arbeiterklasse zur Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialistischen oder kollektivistischen Bestrebens reduziert habe.

Dieser pessimistische Kitsch erlaubt dem VS nicht nur, jede politische Rechenschaft über das Versagen der Kräfte zu vermeiden, in die es während der ganzen 60er und 70er Jahre tiefsitzende Illusionen hegte. Er trägt auch die wirkliche Gefahr in sich, reaktionäre utopische Lösungen, basierend auf dem Wunsch, der Ausweitung der entfremdenden Effekte der modernen spätkapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegenzusetzen, ins Leben zu rufen. Marx begrüßte die Entwicklung des Kapitalismus über vorhergehende Produktionsweisen hinaus und hinweg nicht, weil sie in ihrem Gefolge die Entfremdung vertiefte, sondern weil sie dem modernen Proletariat zum Aufstieg verhalf, einer revolutionären Klasse, deren Interessen in der Errichtung einer neuen vergemeinschaftlichten Ordnung lagen.

Aber wenn die moderne Gesellschaft das Stadium erreicht hat, wo sie kollektivistische Bestrebungen eher untergräbt, anstatt sie zu fördern, nicht als zeitweiliges Resultat politisch falscher Führung, sondern als grundlegendes Merkmal des modernen Kapitalismus, warum soll man sich dann nicht der kapitalistischen Entwicklung überhaupt entgegenstellen? Unglaublicherweise findet das VS-Programm sogar Raum für eine Verbeugung in Richtung reaktionären Schäferspiels, für eine Unterstützung vorkapitalistischer Kultur gegen die Übergriffe bürgerlicher Entwicklung:

"In Ländern der Dritten Welt hat der Zusammenhalt (!) der Dorfgemeinschaft, auch wo sie wie in Indien durch das Kastensystem (sie beruht auf ihm!; Anm. GAM) oder durch zunehmende soziale Differenzierung (d.h. die Entwicklung der Klassen und des Klassenkampfs; Anm. GAM) unterhöhlt ist, ein wichtiges Gegengewicht geschaffen, das die totale Herrschaft der sich ausbreitenden bürgerlichen Ideologie und ihrer Werte verhinderte."

Die hungernden, landlosen ländlichen Werktätigen der halbkolonialen Welt sollten Mut fassen: ihre Gemeinden, ohne ausreichende Gesundheitseinrichtungen, Kanalisation und Bewässerung, im Westen schon lange ausgerotteten Krankheiten, Analphabetismus und Kindersterblichkeit unterworfen, sind wenigstens Barrieren gegen das Fortschreiten bürgerlicher Kultur, die in ihrem "Gefolge Einsamkeit, Zynismus und psychische Depression" trägt, was die Führer in den wirklich entfremdeten Vororten von Amsterdam, Brüssel und Paris so unduldbar finden. Wie grausam ist doch der Gang der Geschichte!

Keine Vielzahl billiger Phrasen kann die tiefe Verzweiflung, die von diesen kleinbürgerlichen Utopisten beim Zusammenbruch ihrer eigenen Illusionen und Schemata gefühlt wird, verschleiern. Abschnitt 20 des Programms ist mit "Für die Wiedererringung der Hoffnung" überschrieben. Jeder Leser, der soweit gelangt ist, wird wissen wollen, ob diese Worte für die Arbeiterklasse gedacht sind oder einfach ein Projekt für die eigene psychologische Rehabilitierung der Autoren darstellen.

Programmatische Flexibilität

Die revolutionäre Vierte Internationale unter Trotzki schloß ihr Programm von 1938 mit folgenden Worten:

"Die fortgeschrittenen Arbeiter, die in der Vierten Internationale vereinigt sind, zeigen ihrer Klasse den Ausweg aus dieser Krise. Sie legen ein Programm vor, das auf die internationale Erfahrung des Befreiungskampfes des Proletariats und aller Unterdrückten der Welt gründet. Sie bieten ihr ein unbeschmutztes Banner." (Übergangsprogamm, S. 43)

Für die revolutionäre Vierte Internationale war das Programm dazu erdacht, die Lehren aus dem internationalen Klassenkampf zu ziehen, konzentriert und zugespitzt, um über einen Ausweg aus der Krise zu verfügen. Anders als die allgemeinen Programme der stalinistischen Komintern und der Sozialdemokratie beschränkten sie sich nicht auf abstrakte Weisheiten über die sozialistische Zukunft und die Notwendigkeit von Solidarität und Kampf, sondern die Vierte Internationale beantwortete in Form konkreter programmatischer Kampfforderungen die Frage: was ist als nächstes zu tun? Sie stellte eine Methode und ein System von Forderungen bereit, das angewandt und zugespitzt werden konnte, um Aktionsprogramme für die Arbeiterklasse in besonderen konkreten Konjunkturen zu produzieren. Wie Trotzki es in seiner Kritik des Programmentwurfs der Komintern formulierte: "Die Arbeitervorhut braucht keinen Katalog an Allgemeinplätzen, sondern eine Gebrauchsanweisung für die Aktion."

Das VS liefert kein solches Programm. Es beansprucht nicht einmal, es zu tun. Es bestreitet ausdrücklich die Notwendigkeit einer solchen Herangehensweise. In seinen Kommentaren zur Entfremdung der Arbeit unterm Kapitalismus stellt es fest:

"Die Aufhebung der Entfremdung der Arbeit ist weder frommer Wunsch noch Phantasie. Sie ist das Ziel der wirklichen Bewegung von Opposition gegen alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung, die sich gerade im Herzen der existierenden Gesellschaft entwickelt, selbst wenn in bruchstückhafter Manier.

Revolutionäre Sozialisten treten dieser realen Bewegung nicht mit vorgefertigten Kriterien entgegen. Wir beurteilen sie nicht danach, ob sie von der etablierten Ordnung kooptiert werden kann oder nicht, ob sie gradualistisch oder nichtgradualistisch ist. Angesichts ihres vorhandenen emanzipatorischen Charakters besitzt sie die Fähigkeit, dem wirklichen Inneren der bürgerlichen Gesellschaft Schläge zu versetzen (aktive Streiks). Die Aufgabe revolutionärer Sozialisten besteht darin, dieses Potential zu verwirklichen und es durch unsere Unterstützung und praktisch-politische und theoretische Initiativen zu stimulieren. Vor allem versuchen wir, diese Bewegung fortschrittlich zu vereinen, bis sie die bürgerliche Unordnung in ihrer Gesamtheit attackiert."

Das Programmatische Manifest sagt, daß sich Widerstand gegen "alle Formen" der Unterdrückung im Herzen der Gesellschaft entwickelt, sozusagen automatisch. Wenn damit das Nurgewerkschaftertum gemeint ist, dann ist es schlicht falsch zu argumentieren, es mache den Widerstand gegen "alle Formen" von Unterdrückung und Ausbeutung aus.

Die einzige Bewegung, die allen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung Widerstand leistet, ist der revolutionäre Kommunismus. Aber der Kommunismus erwuchs absolut nicht "im Herzen" dieser Gesellschaft, automatisch inmitten des Produktionsprozesses, sondern durch die Entwicklung der modernen Wissenschaft. Somit entstand der Marxismus nicht direkt aus dem gewerkschaftlichen Kampf, sondern per wissenschaftlicher Analyse des Funktionierens der kapitalistischen Produktionsweise.

Wenn revolutionärer Kommunismus automatisch aufkäme, wäre es nicht nötig, dafür zu kämpfen, ihn zu nutzen, um zu unabhängigen Schlüssen über die Schritte zu gelangen, die Arbeiter im Klassenkampf in jedem gegebenen Moment tätigen müssen. Und genau das schlußfolgert das VS-Programm. Der wirklichen, existierenden Bewegung der Arbeiter sollten sich Revolutionäre nicht mit "vorgefertigten Kriterien" annähern.

Man würde lachen, wenn es nicht so fatal wäre. Revolutionäre Krisen sind von reformistischen Führungen stalinistischen und sozialdemokratischen Typs von Südafrika bis Portugal, Chile, Iran und Nicaragua vertan und betrogen worden. Die Lehre, die die Vierte Internationale daraus zieht, ist, daß eine Arbeiterbewegung nicht gemäß ihrer Politik verurteilt werden soll, ob sie "gradualistisch" (d.h. reformistisch) ist, oder selbst ob sie von der herrschenden Ordnung kooptiert wurde oder nicht (d.h. in eine Agentur zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus und zur polizeilichen Kontrolle der Arbeiterklasse zum Nutzen des Systems umgewandelt wurde). Was immer auch ihr politischer Charakter ist, es wird uns versichert, daß sie das Potential besitzen, das "Herz" des Kapitalismus zu erschüttern!

Aber damit die Arbeiterklasse ihre revolutionären Potenzen verwirklichen kann, muß sie präzise lernen, ihre "gradualistischen" Führer mittels revolutionärer "Kriterien" zu "beurteilen" und auf ihre existierenden Führungen zu verzichten, gegen sie zu kämpfen, alles Vertrauen in sie aufzugeben, eine neue Partei für jenen Kampf aufzubauen, eine neue, entschieden "ungradualistische", d.h. revolutionär-kommunistische Führung zu etablieren. Das ist die Sorte "Unterstützung", welche die Arbeiterbewegung braucht. Darauf sollten die "praktisch-politischen und theoretischen Initiativen" der Trotzkisten gerichtet sein, da es notwendig ist, die Massen von den verräterischen Führern und von allen, die diese in Praxis oder durch die literarische, ausweichende Manöver des Programmatischen Manifests schützen, zu trennen, um die arbeitende Klasse im Kampf "fortschrittlich zu vereinen".

Dies bedeutet keine Weigerung, an Gewerkschaften und realen Klassenkämpfen teilzunehmen, oder sonstige Formen von Sektierertum; aber das verlangt einen kompromißlosen Kampf gegen die zwei großen reformistischen Apparate innerhalb der Bewegung der Arbeiterschaft und die Verpflichtung, sich einer revolutionären Politik insgesamt zu widmen, die von jenen Kräften unabhängig ist. Den Arbeitern zu raten, ihre Führer nicht zu beurteilen oder keine Konzepte und Kategorien zu entwickeln, mittels derer man die Politik, Vorstellungen und Propaganda ihrer Führungen einordnet, bedeutet, sie gegenüber Stalinismus und Sozialdemokratie zu entwaffnen, die Umsetzung des revolutionären Potentials der werktätigen Klasse zu behindern.

Wann ist ein Programm kein Programm?

Nachdem es die bloße Notwendigkeit für ein Programm auf den einleitenden Seiten abgestritten hat, ist das Programmatische Manifest von der Aufgabe entbunden, praktische, konkrete Übergangsforderungen für die verschiedenen Schauplätze des Klassenkampfs, die es darauffolgend in Betracht zieht, aufzubereiten oder neue Übergangsforderungen für die vom Kampf der jüngst vergangenen Jahrzehnte aufgeworfenen Aufgaben zu entwickeln. Weit entfernt davon, in der Landfrage die Nationalisierung großer Güter, Kollektivierung, die Entwicklung staatlich finanzierter Bewässerungs- und Elektrifizierungsprogramme zu befürworten, stellt das VS simpel fest, daß es "eine wachsende Bewegung von Landbesetzungen" gegeben hat und verlangt nach "Agrarreform".

In Ländern, wo die Bewegung der Arbeiterschaft keine von bürgerlichen, nationalistischen wie liberalen Parteien getrennte politische Organisation hervorgebracht hat, beobachtet das VS, daß "der Kampf, um diese politische Unabhängigkeit zu erobern, eine erstrangige Aufgabe bleibt", scheitert aber daran, dies in irgendeine aktive Parole zu übersetzen wie den Aufbau einer Arbeiterpartei durch die Gewerkschaften und den Kampf dafür, daß jene ein revolutionäres Programm annehmen soll.

Abgesehen von andauernden generellen Verweisen auf die Notwendigkeit von Demokratie enthält das Programm keine zugespitzte Serie demokratischer Forderungen, keine Entwicklung der Forderung nach einer konstituierenden (= verfassunggebenden) Versammlung, keine Andeutung, wann solch eine Forderung anwendbar sein könnte.

Es gibt keine Aufstellung von Forderungen, die sich darauf konzentrieren, Rechenschaft und Demokratie in den Gewerkschaften zu erlangen, ihre Bürokratisierung zu verhindern, sie in Organe des Klassenkampfs zu transformieren. Es gibt nichts zu Fabrikkomitees oder zur Überwindung von Problemen der Organisierung am Arbeitsplatz. Beim Punkt Kampf gegen die Frauenunterdrückung kommt die Neigung des VS, einfach existierende Bewegungen zu unterstützen, ohne eine unabhängige Analyse oder Programm zu entwickeln, eindrucksvoll zum Ausdruck. Forderungen nach "angemessener wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Unterstützung bei der Geburt und Erziehung von Kindern" und nach "Beendigung der häuslichen Dienstbarkeit" sind extrem vage und scheuen davor zurück, die praktischen Schritte in Richtung Sozialisierung der Hausarbeit detailliert zu erläutern wie Kinderbetreuung rund um die Uhr und die kollektive Bereitstellung öffentlicher Wäschereien und Kantinen.

Überflüssig zu sagen, daß das VS versagt, den Klassencharakter verschiedener existierender Frauenorganisationen und -bewegungen festzumachen oder gegen die Organisation klassenübergreifender Bewegungen zu opponieren, die Frauen der Arbeiterklasse an bürgerliche Feministinnen binden. Anstelle des Aufrufs für eine Frauenbewegung in der Arbeiterklasse stellt das VS die Frage passiv: die Rolle von Kommunisten ist nicht, für die Annahme ihrer eigenen Forderungen zu kämpfen, sondern "uneingeschränkt... den Kampf und die Selbstorganisation der Frauen für die Beendigung ihrer Unterordnung" zu unterstützen. Anstelle konkreter Forderungen für die Organisation von Frauen, die Diskriminierung innerhalb der Arbeiterbewegung zu bekämpfen, hören wir den radikal klingenden, aber hohlen Ruf nach der "Feminisierung" der Gewerkschaften, der politischen Parteien und schließlich "aller gesellschaftsverwaltenden Einrichtungen".

Lesben und Schwule erhalten eine noch definitivere Behandlung. Die einzig konkrete in diesem "Programm" vorgetragene Forderung ist die, "die Teilnahme an den Kämpfen der Lesben und Schwulen, in denen heutige kulturelle Haltungen und Auffassungen angezweifelt werden, die auf verzerrten Sexualvorstellungen beruhen, und den vollen gesetzlichen Schutz gegen jede Diskriminierung sexueller Ausrichtung" zu fördern. Keine Erwähnung der Bedeutung gegenwärtiger Kämpfe für Lesben- und Schwulenbefreiung, der Lehren aus den verschiedenen Strategien, die eingeschlagen wurden, davon, wie der Kampf um die Befreiung mit dem Kampf für Arbeitermacht durch Überwindung der Grenzen der bürgerlichen Familie verknüpft werden könnte.

In jedem Abschnitt des Programms strapazieren die Autoren die Grenzen der Grammatik, um die Aufgaben von Revolutionären auf passive, empfängliche Weise zu stellen, nur als Angelegenheit, existierenden Bewegungen Beistand zu leihen und das Vorantreiben von Forderungen und Organisationsformen zu vermeiden, die die Kommunisten innerhalb der Arbeiterbewegung oder nationalen Befreiungsbewegungen von anderen Tendenzen klar unterscheiden könnten. Die größte Verschwommenheit von lebenswichtigen politischen Unterscheidungen liegt in einer Frage auf Leben und Tod für die Bewegung der arbeitenden Klasse: dem Staat und der Notwendigkeit der Revolution.

Hier vermeidet das VS-Programm sogar vollständig die Kernpunkte, die revolutionäre Sozialisten von Reformisten unterscheiden. Nach Jahren der Anpassung an linksreformistische Strömungen in einer Reihe von Ländern wie Britannien und Brasilien ist es kein Zufall, daß das VS nicht die Notwendigkeit erwähnt, den repressiven Staatsapparat der Bourgeoisie zu zerschlagen, ihre Polizei und bewaffneten Abteilungen aufzulösen und abzuschaffen und die Institutionen des kapitalistischen Staats durch einen proletarischen Halbstaat zu ersetzen, der auf der bewaffneten Bevölkerung und Arbeiterräten (Sowjets) beruht. Die ganze Vorstellung, daß zwischen Kapitalismus und Sozialismus eine Übergangsphase steht - die Diktatur des Proletariats - wird aufgegeben. Die Unterscheidung zwischen proletarischer Demokratie (dem Sowjetsystem) und bürgerlicher Demokratie (dem parlamentarischen System) wird durch die wiederholte Forderung nach "breitester sozialistischer Demokratie" mit "Wahl und Ersetzung von Regierungen", "basierend auf allgemeinem Wahlrecht", absichtlich vernebelt.

Trotz der Beteuerung "Wir sind Revolutionäre!" am Beginn von Abschnitt 21 meidet das VS die Erklärung der elementaren Aufgaben der sozialistischen Revolution. In der Tat ist die einzige Definition von Revolution im Pamphlet schlicht falsch, ein Zugeständnis an den Reformismus:

"Ein wahrer und demokratischer Sozialismus kann nur durch den Bruch mit Kapitalismus und bürokratischer Diktatur und ihren Sturz durch Massenmobilisierung entstehen - mit einem Wort, durch eine Revolution."

Aber die sozialistische Revolution bedeutet nicht mal eben nur den Umsturz eines Regimes durch "Massenmobilisierung". Sie bedeutet die Zerschlagung des bürgerlichen Staats und die Errichtung eines Halbstaats an seiner Stelle. Jeder beliebige Linksreformist, Stalinist oder kleinbürgerliche Nationalist kann mit jener Konzeption von Revolution leben, weil sie keine konkrete Verpflichtung beinhaltet, über die Formen und Strukturen des kapitalistischen Staats hinauszugehen, sie aufzubrechen; und sie enthält keine Erklärung, was an ihre Stelle treten soll.

Wenn das VS so schon eine Revolution definiert, kann man sich vorstellen, daß sich ihre Definition eines Revolutionärs auf weitem Feld bewegt. Es hat die Fusion und Umgruppierung solch "revolutionärer" Kräfte das ganze letzte Jahrzehnt über gefördert und ins Werk gesetzt, indem sie mit Maoisten in Deutschland fusionierte, ihre schwedische Sektion zu einer breiten sozialdemokratischen Partei hinentwickelte und die Notwendigkeit irgendeiner von der stalinistischen Partei auf Kuba und den bürgerlich-nationalistischen Sandinisten in Nicaragua getrennten und unabhängigen Organisation abstritt.

Jedoch bleibt die Selbstverpflichtung, die "Vierte Internationale aufzubauen", im Programm trotz der Aufgabe von so Manchem aus dem Programm der Vierten Internationale bestehen und obwohl es das VS von sich weist, in den Klassenkampf um eine "vorgefertigte" Liste von Ideen herum zu intervenieren.

"Der Aufbau einer Internationale ist eine wesentliche Aufgabe, die nicht auf morgen verschoben werden kann. Die Vierte Internationale heute ist ein unersetzliches Instrument, das einzige, über das wir für diese verfügen" - jedenfalls solange wir "unsere revolutionären Genossen und Partner" sonstwo nicht auf von Aufbau einer Masseninternationale (auf welcher politischen Grundlage?) überzeugt sind.

Die Internationale ist ein Instrument für das Vorrücken in Richtung des Aufbaus... einer Internationale (aber natürlich gemächlich). Was soll das bedeuten? Tatsächlich wird schnell klar, daß hier wie anderswo die verhüllte Sprache dem Zweck dient, eine gründlich rechte Position hinter linken Phrasen zu maskieren. Die "Unersetzlichkeit der Vierten Internationale" klingt orthodox und unnachgiebig, besonders für eine Tendenz, die die Notwendigkeit für Trotzkisten, sich auf Kuba und in Nicaragua zu organisieren, ablehnt. Aber in Wahrheit wird die Vierte Internationale nur als unersetzbar betrachtet, einige maßvolle Schritte auf einen anderen Typ von Internationale hin zu setzen: eine breite Kirche, vereinigt eher auf vagen Wahrheiten denn auf echter programmatischer Übereinstimmung, eher auf frommen Erklärungen als auf gemeinsamen Zielen im Kampf, eher auf Diplomatie zwischen förderierten nationalen Gruppen denn auf demokratischem Zentralismus und einem klaren revolutionären Programm von Übergangsforderungen.

Das gesamte Programmatische Manifest des VS vermeidet Klarheit und Präzision bezüglich konkreter revolutionärer Aufgaben, gerade um solch ein Projekt zu bewahren und ein Aufgebot an Sektionen zusammenzuhalten, von denen sich jede an die sehr verschiedenen Programme anpaßt, die von anderen Kräften auf ihren jeweiligen nationalen Terrains vorgelegt werden. Als Anleitung zum Handeln für kämpferische Arbeiter ist es gänzlich nutzlos.

Die LRKI wird dem VS auf diesem traurigen Pfad nicht folgen. Unser Programm, das Trotzkistische Manifest, behandelt die Themen, die das VS zu vermeiden gezwungen ist. Wir appellieren an alle ehrlichen Kämpfer innerhalb des VS, unser Programm gegen die Magerkost ihrer internationalen Führung unter die Lupe zu nehmen.

 

 

 

Socialist Action (US):

Der Mythos vom linken Flügel des Vereinigten Sekretariats

Es geht ein Gerücht um in Dissidentenkreisen innerhalb des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VS). Es besagt, daß es dort einen neuen linken Flügel mit der Gruppe Socialist Action in den USA an der Spitze gäbe. Die Hoffnung, die mit diesem Gerücht einhergeht, lautet, daß eben nun Socialist Action in der Lage sein könnte, die Linke für einen Kampf auf dem bevorstehenden 14. Weltkongreß zusammenzutrommeln. Aber wie einst Mark Twain sagte, ist ein Gerücht um die halbe Welt herum, bevor ihm die Wahrheit die Schnürsenkel ineinander verknotet.

Das VS befindet sich im fortgeschrittenen Stadium der Zersetzung. Es verliert Sektionen und Mitglieder. Es ist vom Pessimismus über die Aussichten für den Weltsozialismus ergriffen und plant seine eigene Auflösung in etwas als die breitere "sozialistische Weltbewegung" Bezeichnetes.

In den USA ist dieser Prozeß schon weit fortgeschritten. Zwischen 1982 und 1984 brach die historische Partei des US-Trotzkismus, die Socialist Workers Party (SWP), offen mit der Internationale, die sie zu gründen half. Mit allem Zeitgefühl eines blinden Baseballrückschlägers lief diese in den späten 80er Jahren zum Stalinismus über. Heute klammert sie sich an Castro als ihre letzte Hoffnung.

Der Abfall der SWP führte zur Schaffung neuer Gruppen in Solidarität mit dem VS. Socialist Action war eine dieser Gruppen. 1983 von aus der SWP ausgeschlossenen Genossen gebildet, stellt sie sich auf die von jener Organisation in den 60er und 70er Jahren entfaltete Politik, als die SWP-Führung aus der "alten Garde" wie Joseph Hansen und Farrell Dobbs bestand. Hansen und Dobbs beanspruchten, die wahren Schüler Trotzkis und des US-trotzkistischen Veteranen James P. Cannon zu sein.

Sie schuldeten sicher Cannon eine Menge, aber nicht dem Revolutionär der 20er und 30er Jahre; viel mehr dem desorientierten Zentristen der späten 40er und 50er Jahre. Und während Socialist Action beansprucht, auf den "grundlegenden Prinzipien, die die Vierte Internationale angeleitet haben, seit sie 1938 gegründet worden ist", zu stehen, wäre es akkurater zu sagen, sie trampelt sie nieder.

Socialist Action ist nicht die einzige US-Gruppe, die Treue zum VS beansprucht. Sie teilt diese Ehre mit Organisationen, zu denen sie in scharfer Konkurrenz steht. Die VS-Führung, die sich an ihre eigenen Jahre fraktionellen Streits mit Hansen erinnert, erkennt die Existenz von Socialist Action selten an. Im offiziellen englischsprachigen VS-Journal International Viewpoint stammen die Artikel über die USA alle von einem der Rivalen von Socialist Action: dem Fourth International Caucus (früher die Fourth International Tendency), der selbst innerhalb der breiten linken Organisation, Solidarity, existiert.

Als wäre dies nicht verwirrend genug, applaudiert ein anderes Journal, Links, das führende VS-Mitglieder in seiner Redaktion hat, eifrig der Schaffung einer neuen Organisation, den Committees of Correspondence (COC). Diese hatten im Juli 1994 eine Gründungskonferenz und verkündeten, sie suchten, die "Einsichten nichtmarxistischer Philosophien" hinzuzuziehen, um ihr Durchkommen zu schaffen.

Solche Hilfe war dicht bei der Hand. Die Gründungskonferenz weigerte sich, sich selbst zu verpflichten, gegen die bürgerliche Demokratische Partei Opposition zu zeigen, weil die meisten ihrer Mitglieder in Wirklichkeit Unterstützer der Partei Bill Clintons sind. Links informiert uns, daß die Fürredner eines Antrags auf Opposition gegen die Demokraten den Vorschlag zurückzogen, als sie sahen, wie wenig Unterstützung sie auf der Konferenz erhalten würden.

Und das Bäumchen-Wechsle-Dich-Spiel dreht sich immer schneller. Eine Gruppe von VS-Unterstützern löst sich in Solidarity auf (von deren Führern einige die Imperialisten aufforderten, Serbien zu bombardieren!), während andere den Aufbau der COC als linke "pressure group" (Interessengruppe) bei den Demokraten sponsorn. Kein Wunder, daß Socialist Action, die wenigstens formal zum Aufbau einer revolutionären Partei in den USA aufruft und vom VS die kalte Schulter gezeigt bekommt, erfrischend prinzipienfest erscheint.

Eine Partei ...

Socialist Action argumentiert, daß die revolutionäre Partei zentral ist. Hier finden wir einen Widerhall der Polemik Joseph Hansens in den 70ern, als er den Versuchen der VS-Leitung entgegentrat, die lateinamerikanischen Sektionen in Guerillabewegungen hinein aufzulösen.

Nat Weinstein, Socialist Action-Führer der 90er, geht weiter und fordert, daß eine solche Partei "auf einem klaren, zusammenhängenden Programm fußen muß". Auf der nationalen Konferenz im August 1994 hieb er auf die Mehrheit der VS-Führung ein:

"Weinstein thematisierte die Notwendigkeit, Sektionen der Vierten Internationale, der Weltpartei der sozialistischen Revolution, in jedem Land aufzubauen (Socialist Action steht in brüderlicher Solidarität zur Vierten Internationale)."

Für die Linken im VS, die die Angewohnheit der Führer satt bekommen haben, ihre eigenen Sektionen zu liquidieren - wie in den 80er Jahren z.B. in Deutschland geschehen -, ist diese Art Orthodoxie ein erleichtertes Aufatmen. Sie scheint ihre eigenen Anstrengungen zu stützen, unabhängige Sektionen aufzubauen, und sie scheint in harter Opposition zur Mehrheitsführerschaft zu stehen.

Aber sie ist irreführend. Der Grund dafür ist, daß sie die ganz wichtige Frage offenläßt - welche Sorte Sektionen?

Schließlich könnte das VS leicht das "orthodoxe" Bekenntnis zu einer revolutionären Partei einquartieren (wie es das jahrelang unter der Führerschaft von Pablo und später Mandel und Hansen getan hat), während es seine liquidatorische Praxis fortführt. Eine Sektion der Vierten Internationale kann in jedem Land aufgebaut werden, aber in jenen Ländern, wo andere Kräfte vorherrschen - die Kräfte der sogenannten breiten "revolutionären Weltbewegung" -, könnte diese Sektion sich leicht politisch jenen Kräften unterordnen. Es wäre eine Sektion, aber keine auf einem revolutionären Programm basierende, keine für die Führung der Arbeiterklasse gegen nationalistische, stalinistische oder (wie in Brasilien) sozialdemokratische Organisationen kämpfende.

Der Schlüssel zur Bestimmung, ob Socialist Action eine genuin revolutionäre Alternative zu Ernest Mandel und den VS-Führern ist oder nicht, liegt nicht in ihren rituellen Aufrufen für Sektionen in jedem Land. Er liegt in ihrer Politik. Und diese Politik ist in jedem Stück so liquidatorisch wie die der Mehrheit.

... aber welche?

Die revolutionäre Partei sollte eine Partei der Arbeiterklasse sein, eine Partei von Arbeitern und für Arbeiter. Dies schließt Mitglieder aus anderen Klassen nicht aus. Aber es läßt jene Mitglieder einem Programm der Arbeiterklasse zustimmen. Das Programm setzt sich für die Anliegen der Arbeiter und Unterdrückten ein, liefert aber revolutionäre Arbeiterantworten für die Unterdrückten. Es äfft nicht einfach die falschen Ideologien und Programme nach, die spontan innerhalb der Unterdrückten wie Frauen oder Schwarzen entstehen.

Die Partei ist keine Koalition, sie ist eine kämpfende Einheit; sie hat ein Programm und keine Auswahl von Programmen, aus denen man sich beliebige aussuchen und miteinander verquirlen kann, die dafür entworfen sind, verschiedene Geschmäcker anzusprechen.

Socialist Action teilt diese leninistische Konzeption nicht. Ihre Vorstellung von einer Partei in den Vereinigten Staaten riecht nach Liquidatorentum. Gegenwärtig wirbt sie für sich selbst als Partei aus Koalitionen. In ihrer regelmäßigen Spalte "Wer wir sind" erklärt sie:

"Wir sind eine multirassische Partei aus Arbeitern, Studenten, Jugendlichen, Feministinnen und Menschenrechtsaktivisten, die sich den Interessen der Arbeiterklasse verpflichten."

Dies ist eine gute Beschreibung von Socialist Action, aber nicht von einer revolutionären Partei.

Feminismus ist eine spontane Ideologie, die unter denen emporkommt, die gegen Frauenunterdrückung unterm Kapitalismus kämpfen. Wie all solche Widerstandsideologien enthält sie fortschrittliche Elemente, gemessen an jenen, die diese Unterdrückung ausführen. Aber ihre Einsichten sind einseitig und ihre Vorschläge für gesellschaftliche Veränderungen utopisch und manchmal reaktionär. Von vornherein betrachtet sie sich als klassenlose Ideologie. Bestenfalls erkennen sozialistische Feministinnen die Klassenfrage als getrennt von der Frauenfrage an. Sie tendieren dazu, eine politisch autonome Frauenbewegung aller Klassen als eine Verbündete der Arbeiterklasse anzusehen, nicht als ihren integralen Bestandteil. Die revolutionäre Komintern bestand darauf, daß Feminismus nicht mit Marxismus durcheinandergebracht werden solle und niemals Frauen von ihrer Unterdrückung befreien könne. Der moderne Marxismus - Trotzkismus - entnimmt alles Positive aus dem Feminismus und überwindet seine Schwächen.

Und warum erfahren Menschenrechtsaktivisten eine besondere Erwähnung? Wie Feministinnen gibt es alle Arten von Menschenrechtsaktivisten. Viele sind gute, gefällige Leute. Marxisten werden sich oft Schulter an Schulter mit aufrichtigen und mutigen Demokraten im Kampf wiederfinden. Aber das macht diese nicht zu Revolutionären. Tatsächlich sind viele von ihnen bürgerliche oder kleinbürgerliche Liberale. Wieder ist nichts inhärent Revolutionäres dabei, ein Menschenrechtsaktivist zu sein, wie es einem jedes Mitglied von Amnesty International erzählen wird.

In der Realität versucht Socialist Action, das Element zu verschleiern, das eine revolutionäre Partei von allen anderen unterscheidet - ihr revolutionäres Arbeiterprogramm -, um den Regenbogenkoalitionismus nicht zu verletzen, der linke US-Politik infiziert. Statt dessen ist ihre "Partei" eine Koalition von Aktivisten, aus verschiedenen guten Beweggründen zusammengekommen, von denen die meisten wenig mit der Arbeiterklasse zu tun haben.

Dieses Kerndefizit bei Socialist Action erscheint in ihrer Haltung zum Kampf der Schwarzen in den Vereinigten Staaten wieder. Anstatt eine integrierte revolutionäre Partei als das zentrale Instrument schwarzer Befreiung in den USA darzustellen, wiederholt Socialist Action die Irrtümer der SWP unter Hansen (und George Breitman, der der Parteiexperte in der Schwarzenfrage war). Sie stellt die Notwendigkeit einer separaten schwarzen Partei an der Seite der revolutionären Partei auf. Wenn schließlich die revolutionäre Partei intern eine Koalition ist, ist es möglich, daß eine Koalition von Parteien die Revolution zum Wohl der verschiedenen sozialen Kräfte innerhalb dieser Koalition herbeiführen kann.

"Deshalb muß ein Programm zum Nutzen der Afroamerikaner antikapitalistisch und prosozialistisch sein zusätzlich zur Verkörperung der kulturellen Interessen und nationaler Selbstbestimmung der Massen. Eine schwarze politische Partei mit einem Programm, das die Interessen der afroamerikanischen Massen repräsentiert, - politisch klug genug, Bündnisse mit anderen unterdrückten Gruppen lokal, national und international einzugehen - ist der Typus einer Organisation, die gebraucht wird. Wenn jedoch die Arbeiterklasse eine antikapitalistische Partei organisiert, die die afroamerikanische Selbstbestimmung unterstützt, mag das die Notwendigkeit einer separaten schwarzen Partei bestreiten."

Das ist schiere Spitzfindigkeit. Die schwarze Partei muß "pro-sozialistisch" sein. Was heißt das? Verschiedene schwarze nationalistische Parteien sind "pro-sozialistisch" gewesen, wie die Panther, aber nicht revolutionär-sozialistisch. Verlangt Socialist Action diesen Typ von Partei? Und was ist mit der Tatsache, daß die Mehrheit der Afroamerikaner Integration anstreben? Letztlich, aber nicht am unwichtigsten, warum existiert die Notwendigkeit einer separaten schwarzen Partei, wenn die Arbeiterklasse einschließlich der Millionen schwarzer Arbeiter eine revolutionäre Partei formt?

Dies ist nicht nur verworrenes Denken auf Seiten von Socialist Action. Es ist eine Form von Liquidatorentum. Es ist ein bewußtes Zugeständnis an Separatismus und schwarzen Nationalismus, an eine nicht-arbeiterklassenmäßige "Lösung" für die Schwarzenbefreiung.

Darum weigert sich Socialist Action, während sie die Nation of Islam wegen des Antisemitismus einiger ihrer Führer richtig kritisiert, schwarze Arbeiter aufzufordern, der Nation of Islam ihre Unterstützung vorzuenthalten und ihr eine revolutionäre Arbeiterpartei entgegenzusetzen. Tatsächlich: Socialist Action "weist die Aufforderung an die schwarze Gemeinschaft und ihre Organisationen zurück, sich von der Nation of Islam loszusagen."

Welche Sorte von Sozialist in der Schwarzengemeinde würde davor zurückweichen, einen ausdrücklichen Bruch mit der reaktionären Nation of Islam zu propagieren (bei gleichzeitiger Verteidigung von ihr und ihrer Gefolgschaft vor rassistischen Attacken), wenn sie antisemitische Botschaften verbreitet? Wie kann die Einheit zwischen schwarzen und jüdischen Arbeitern erreicht werden, wenn revolutionäre Sozialisten sich nicht weigern, der Nation of Islam Legitimität zu verleihen?

Die Tatsache, daß Socialist Action nicht zu solchem Bruch aufrufen will, entwaffnet ihre schwarzen Militanten beim Kampf um eine sozialistische Führung - gegen die Nation of Islam - in der schwarzen Gemeinschaft. Dies ist wieder eine Form von Liquidatorentum. Es liquidiert den Kampf für eine revolutionäre Partei in der Schwarzengemeinde - für eine integrierte Partei, die den US-Kapitalismus bekämpfen und die US-Arbeiterklasse einigen kann - und hilft, die Stellung solcher Erzreaktionäre wie Farrakhan zu bewahren.

Diese Methode pflanzt sich in die Frauenbewegung fort. Socialist Action ruft nicht für eine Frauenpartei auf (obwohl das sogar methodisch inkonsistent mit ihrem Aufruf für eine Partei der Schwarzen ist), sondern tut das Nächstliegende. Sie vernebelt die Notwendigkeit für eine Lösung der Frauenfrage im Sinne der Arbeiterklasse, indem sie die bürgerlich geführte National Organisation of Women (NOW) fördert. Hier erwacht die Konzession an den Feminismus zum Leben, die in der Kolumne "Wer wir sind" eingekapselt ist.

NOW ist nicht das, was die Arbeiterklasse braucht. Dies ist eine ausgesprochen klassenübergreifende Bewegung, ist es immer gewesen und wird es immer bleiben. Dieser Multi-Klassencharakter manifestiert sich in ihrer Strategie - wahlfixiert, darauf gezielt, "gute" Demokraten zu wählen -, das heißt diejenigen, die noch keine Chance gehabt haben, ihre Glaubwürdigkeit im Amt zu verschleißen.

US-Frauen, die fundamentalistischen christlichen Todesschwadronen gegenüberstehen, welche Abtreibungskliniken terrorisieren; auf Sozialhilfe angewiesene Frauen in ihrem Kampf, Kinder allein zu erziehen; auf der Arbeit routinemäßig von männlichen Bossen belästigte Frauen; Frauen in niedrig entlohnten, rechtlosen Teilzeitjobs - sie alle brauchen eine Arbeiterbewegung, um sie zusammenzubringen, damit sie in ihrer Verteidigung vereint werden können.

Arbeiterfrauen brauchen nicht die bevormundende Führerschaft der sich machtvoll gebärdenden Demokratenfrauen, die in den Kongreß zu gelangen versuchen. Diese Damen unterdrücken ihre illegalen Einwandererdienstbotinnen, bis sie von Steuerbehörden aufgespürt werden und scheren sich dann einen Dreck darum, wenn jene nach Mexiko zurückverfrachtet werden. NOW-Führerinnen sind ganz darauf vorbereitet, für Haushaltsausgleichskürzungen bei den Bundes- oder Staatenausgaben zu stimmen, selbst wenn das Arbeiterfrauen hart trifft. Sie sind keine Verbündeten der Arbeiterfrauen.

Natürlich lehnt Socialist Action solche Führerinnen ab, aber nicht die Organisation, die sie hervorbrachte. Sie betrachtet NOW als "Einheitsfront", die nur eine neue Führung braucht. Sie argumentiert:

"Was (in NOW) fehlt sind Führerinnen, die anzuleiten fähig sind. Aber die Organisationen sind zur Stelle - und warten auf eine den Bedürfnissen von Millionen gerecht werdende Führerinnenschar."

Falsch. Die Frauen, die NOW leiten, sind darin sehr gut - und sie ist maßgeschneidert, sie dazu zu befähigen, weil es keine Organisation der Arbeiterklasse ist.

Wenn es zum Kampf gegen soziale Unterdrückung - von Schwarzen und Frauen - kommt, beweist Socialist Action in der Praxis, daß ihr Ruf nach einer revolutionären Partei hohl ist. Ihre "Sektion" ist schon richtig aufgebaut. Aber sie ist auf der Grundlage aufgebaut, dem Separatismus zu helfen und ihn zu ermutigen. Um Liquidator zu sein, muß man nicht dem Aufbau von "Sektionen der Vierten Internationale" entgegentreten. Man kann für ihren Aufbau als Organisationen sein mit dem Vorbehalt, daß sie das Recht, die Führung des Kampfs der Frauen und Schwarzen herauszufordern, von sich weisen; daß sie effektiv Unterstützergruppen für den Kampf von jemand anderem werden. Das ist der Inhalt der Politik von Socialist Action.

Von der PRT zu den Zapatisten

Bei dieser Gelegenheit enthüllt eine genaue Untersuchung, daß selbst der Anspruch von Orthodoxie im Parteiaufbau ein fadenscheiniger ist. Sie mögen behaupten, sie wünschten in jedem Land Sektionen aufzubauen, aber in der Praxis sind sie nicht immer dafür, dies zu tun - nicht wenn das Land Kuba oder Mexiko heißt. Im ganzen letzten Jahr hat Socialist Action den Krisen in beiden Ländern flächendeckend Raum gewidmet. Nicht einmal gab es dabei ein Herausarbeiten der Notwendigkeit, der Aufgaben und Probleme beim Aufbau einer revolutionären Partei oder Sektion der Vierten Internationale.

Nach der Rebellion von Chiapas begannen die Dinge prächtig. Die mexikanische Sektion des VS wurde von Socialist Action dafür gepriesen, die Solidarität mit den Rebellen von Chiapas zu organisieren. Die Ausgabe im Februar 1994 nahm stolz Bezug auf die "Schwesterpartei" in Mexiko, die Revolutionäre Arbeiterpartei (PRT).

Dann optierte die PRT dafür, die Herausforderung der PRI-Regierung bei der Wahl in Gestalt der bürgerlichen Opposition Cardenas zu unterstützen. Innerhalb eines Monats wurde aus der "Schwesterpartei" die "sehr kleine PRT", die "trotz ihrer Absichten der falschen Idee Glauben schenkt, kapitalistische Politik biete eine Lösung für die immer tiefer werdende Krise der mexikanischen Gesellschaft". Socialist Action schlußfolgert wehmütig, dies werde den Aufbau einer Sektion schwierig gestalten. Danach erfährt die PRT keine einzige Erwähnung in Socialist Action mehr (trotz der Wahlen im August). Die "Schwesterpartei" verschwindet einfach!

Dies wäre nicht so schlimm, zöge Socialist Action aus dieser traurigen Episode einen naheliegenden Schluß. Nämlich, daß die VS-Sektion - ohne daß die VS-Leitung handelte, sie zu stoppen - die mexikanischen Massen mit ihrer Unterstützung für Cardenas verraten hatte und eine neue revolutionäre Partei nötig geworden war. Aber nein. Socialist Action bewahrt diplomatisches Stillschweigen über die PRT. Sie setzt sich statt dessen energisch für die EZLN (Zapatistas) ein.

Diese Bewegung ist in einen legitimen und couragierten Kampf gegen das mexikanische Regime verwickelt. Socialist Action steht fern jeden Vorwurfs dafür, ihr bei ihrem Gefecht Solidarität anzubieten. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied, sich mit ihrem Kampf zu solidarisieren oder aber mit ihrer kleinbürgerlichen Politik und Führerschaft.

Socialist Action weigert sich zu sagen, daß eine alternative Führung erforderlich ist, wenn die PRI gestürzt oder auch nur gezwungen werden soll, bedeutende politische und vor allem soziale (Land) Reformen zu gewähren. Schlimmer noch, Socialist Action glaubt, daß die EZLN sich einfach in eine revolutionäre Partei umwandeln und jedermann den Ärger ersparen wird, eine aufzubauen.

Der Zusammenbruch des Stalinismus bedeutet, daß die Zapatistas "ein wenig freiere Hand gehabt haben, ihren Weg in Richtung wahrhaft revolutionäre Partei zu finden." Dies ist klassischer VS-Stoff: Ernest Mandel fände sich darin wieder. Die EZLN ist das "stumpfe Instrument", das unter dem Druck der Massen (und mit dem Bonus des geschwächten Stalinismus) einfach seinen Weg zum revolutionären Marxismus finden wird, mit ein wenig freundschaftlichem Rat von nördlich des Rio Grande.

Es scheint sich bis zu Socialist Action noch nicht herumgesprochen zu haben, daß, während der Stalinismus als Modell diskreditiert sein mag, der verführerische Reiz der liberalen bürgerlichen Opposition zur PRI existiert, der die EZLN-Mitglieder desorientiert. Und während die EZLN nicht gerade von ganzem Herzen Cardenas in den letztjährigen Wahlen den Rücken stärkte, teilte sie mit ihm eine abstrakte, "klassenneutrale" Haltung zur demokratischen und politischen Reform. Die EZLN "verleiht" nichts weniger als die PRT "der falschen Idee Glaubwürdigkeit, kapitalistische Politik biete irgendeine Lösung der sich stetig vertiefenden Krise der mexikanischen Gesellschaft an." Mehr Autonomie für Chiapas (einschließlich einer Säuberung der PRI-Partei- und Staatsmaschinerie) und weitreichende Landreform - das Programm der EZLN - überschreiten nicht an sich kapitalistische Politik.

Aber wenn, in Abwesenheit des Stalinismus, Leute ihren Weg zu einer revolutionären Strategie leicht finden können, dann sind revolutionäre Parteien überhaupt unnötig. Socialist Action zieht diesen Schluß nicht. In Mexiko aber mag sie dies gleichwohl tun. Denn das bedeutet ihre Position in der Praxis. Soviel zur Orthodoxie in der Parteifrage.

Bei Kuba gibt es absolut keine Erwähnung der Erfordernis einer Sektion der Vierten Internationale. Der Grund dafür ist, daß Castro laut Socialist Action ein Revolutionär ist, kein stalinistischer Bürokrat. Seine gegenwärtigen Zugeständnisse an den Kapitalismus seien nur dazu da, Krisenmaßnahmen gegen Versorgungslücken zu treffen - ähnlich denen Lenins in der Sowjetrepublik 1923.

Der Bericht über die Konferenz Socialist Actions notiert:

"...einige wenige Delegierte unterstützten die Position, Kuba sei stalinistisch geworden. Die Delegiertenmehrheit bekräftigte jedoch wieder Socialist Actions Position, eine verhärtete, privilegierte Bürokratie habe nicht Kontrolle über die kubanische Kommunistische Partei und Regierung erlangt. Dies ist in jüngsten Jahren durch den einzigartigen Widerstand der Castro-Führung gegen die Restauration des Kapitalismus bestätigt worden.

Socialist Action weist jedoch darauf hin, daß wirkliche Arbeiterdemokratie auf Kuba noch institutionalisiert werden muß - und das es passieren muß, damit man die Errungenschaften der Revolution verteidigen kann."

Castros "taktischer Rückzug"

Castro ist nicht im taktischen Rückzug Richtung Markt begriffen. Zumindest spielt er die Rolle, die Gorbatschow in der UdSSR zwischen 1985 und 1991 spielte; nämlich die Regelungsmechanismen der Planwirtschaft zu lockern und mehr und mehr finanzielle und Handelsmaßnahmen einzuführen, die die kubanischen Massen dem Marktdiktat unterwerfen. Auslandsinvestitionen in Touristenenklaven, Dollaranpassung der Ökonomie, Befürwortung privater Landwirtschaft Ð all diese bereiten die kapitalistische Restauration vor.

Wie woanders auch werden sie die Koordination der Wirtschaft fatal untergraben, das Aufbrechen der kubanischen Gesellschaft in konkurrierende Schichten beschleunigen. Ob Castro diesen Prozeß weitgehend überwacht oder wie Gorbatschow ihm auf dem Weg vor seiner Vollendung zum Opfer fällt, ist das alleinige Thema. Bei Abwesenheit einer revolutionären, sozialistischen und demokratischen (Arbeiterräte) Alternative - nur möglich über den Sturz Castros und seiner Kaste - werden Verknappung, wachsende Ungleichheit und privat angehäufter Reichtum zunehmen. Nicht in der heftigst vom Fieber beeinflußten Vorstellung kann man das Übergang zum Sozialismus nennen.

Castro und seine Clique halten ihren festen bürokratischen Griff an den Zügeln der Macht aufrecht. Arbeiterdemokratie hat auf Kuba nie existiert, weil sie die Existenz wie die Privilegien dieser Clique direkt bedrohen würde. Und je länger diese Situation anhält, um so wahrscheinlicher wird die kapitalistische Restauration Schritt für Schritt auf Kuba vorankommen.

Der einzige Weg, sie zu stoppen, ist genau nicht der, sich auf den "einzigartigen" Fidel zu verlassen, sondern ihn mit den Mitteln einer politischen Revolution zu stürzen, die von einer revolutionären Partei geführt wird, die die von Castro verfolgte Zerstörung der kubanischen trotzkistischen Bewegung rächt. Die Tatsache, daß Socialist Action vom dem allen nichts haben will, ist noch ein weiterer Denkzettel, daß ihre Orthodoxie nicht die einer revolutionären Tendenz oder selbst eines konsequenten linken Flügels innerhalb des VS ist. Sie ist einfach eine aus der Mode gekommene Spezies des Zentrismus, der in jener vom Fraktionalismus geplagten und niedergehenden Organisation blüht.

Socialist Actions Glaubwürdigkeit als linker Flügel im VS ist äußerst trügerisch. An der einheimischen Front demonstriert ihre Gewerkschaftspolitik, daß sie, wenn überhaupt, rechts gegenüber anderen in der US-Linken dasteht. Die US-Arbeiterklasse hat schreckliche 15 Jahre durchgemacht. Die Reallöhne fielen von 1977 bis 1989 um 10,5%. In der selben Periode ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad auf nur 15,8% der Beschäftigten gefallen, im privaten Sektor auf nur 12%. Im letzten Mai beobachtete Business Week:

"Über die letzten 12 Jahre hat die US-Industrie tatsächlich einen der jemals erfolgreichsten Anti-Gewerkschafts-Kriege geführt."

Heute mag sich die Situation gerade zu wenden beginnen. Es gab eine Reihe Streiks, besonders in den Fabriken des Mittelwestens, aber auch in San Francisco (Zeitungen), quer durch die Fluglinien und andere Transportsektoren und seitens der strategisch bedeutenden International Brotherhood of Teamsters. Die Aussichten für eine anhaltende Wiederbelebung scheinen gut. Neue kämpferische Schichten entstehen. Die Arbeiteravantgarde findet neue Basisführer in Kämpfen vor, die im Moment hauptsächlich defensiv sind, aber in die Offensive gehen könnten und die Jahre an Konzessionen und Zurückstecken wieder wettmachen könnten.

In der Teamstergewerkschaft ist die korrupte Führerschaft der "alten Garde" - mit ihren fetten Gehältern, bestechlichen Praktiken und Verbindungen mit dem Gangstertum - unerbittlich geschwächt worden. Jahre des Kampfs seitens der Teamsters for a Democratic Union (TDU) haben Veränderungen herbeigeführt (obwohl der Sieg durch direkte Intervention der Bundesregierung getrübt ist, die jetzt in Gewerkschaftsangelegenheiten etwas mitzureden hat).

Ein neuer Führer, Ron Carey, rief letztes Jahr einen Streik bei United Parcel Services unter Mißachtung einer gerichtlichen Anordnung aus. Er rief zu einem anderen größeren Streik gegen die Versuche der Unternehmer auf, Löhne zu kürzen und Arbeiter durch Teilzeitkräfte in großen Bereichen der Branche zu ersetzen. Der 24tägige Streik bei Trucking Management Inc. (TMI) könnte sich noch als Wasserscheide erweisen. Er wehrte die "Teilzeitoffensive" der Bosse und ihr Bestreben, Rückzahlungen (Lohnkürzungen) zu erzielen, ab, wurde jedoch von der Carey-Führung vor Erreichen seiner vollen Ziele ausverkauft. Carey ließ sich zu einem Abkommen herab, das Gelegenheitsarbeitern gestattet, zu einem niedrigeren Tarif als die Vollbeschäftigten angestellt zu werden, und akzeptierte eine Klausel, daß während des Prozesses der Auseinandersetzung um Gewerkschaftsforderungen nicht gestreikt werden darf.

... und der Ron Careys

Man muß Carey und die TDU nicht als Regierungsspitzel einschätzen (wie es die Spartacists tun), um zu merken, daß hier ein klassischer Gewerkschaftsbürokrat am Werk war. Carey hat eine Auseinandersetzung abgebrochen und ausverkauft, die eine Menge weitere Zugeständnisse hätte gewinnen können. Aber Socialist Action ist an der Gewerkschaftsfront nicht weniger unrevolutionär als an der kubanischen. Socialist Action gründet seine Gewerkschaftspolitik auf die Notwendigkeit, einen "klassenkämpferischen linken Flügel" zu schaffen. Dies klingt gut und als Phrase links. Aber es vermeidet das zentrale Problem der Gewerkschaften - die Trennung zwischen Massenbasis und der privilegierten Schicht bürokratischer Funktionäre, die aktuell die Gewerkschaften am Laufen haben. Diese Trennung ist eine materielle. Sie ist eine Interessenkollision.

Auf Höhepunkten des Klassenkampfs manifestiert sie sich in einem Zusammenstoß von Bedürfnissen - der Erfordernis für die Basis, sich zu verteidigen, und der der Bürokraten, Kompromisse zu schließen, um ihre privilegierte Stellung an der Spitze der Gewerkschaften zu sichern. Sie manifestiert sich politisch im Zusammenprall zwischen der kämpferischen Tendenz unter der Basis, die kapitalistische Ordnung in Frage zu stellen und der Neigung der Bürokratie, diese Kampfkraft zwecks Verteidigung einer Ordnung in Schranken zu halten, von der sie selbst abhängt, einer Ordnung, in der sie zwischen der Arbeiterklasse und den Unternehmern als Schiedsrichterin fungieren kann.

Die organische Tendenz der Bürokratie geht in Richtung Reformismus. Und während die einfache Mitgliedschaft nicht spontan revolutionär ist, macht ihre spontane Wut und Aktion sie auf direktem Weg für revolutionäres Bewußtsein empfänglich, vorausgesetzt, Revolutionäre intervenieren mit einem revolutionären Aktionsprogramm an ihrer Seite.

All dies erfordert von Revolutionären, die Basis zu organisieren, eine organisatorisch und politisch von der Bürokratie unabhängige Basisbewegung aufzubauen. Wenn es "klassenkämpferische" und "linke" Bürokraten gibt, nun gut - sie haben nichts zu verlieren, wenn sie sich unter die Kontrolle der Basis stellen.

Die Strategie des "klassenkämpferischen linken Flügels" von Socialist Action verdunkelt das, und in der Praxis stößt sie Socialist Action in Richtung Verlassen auf linke Bürokraten.

Geradeso wie sie das "stumpfe Instrument" der Revolution in Nicaragua und auf Kuba sucht, sucht sie das stumpfe Werkzeug für Militanz in den Gewerkschaften. Bei den Teamstern nimmt das die Form an, als Leiterin des organisierten Beifalls für Carey zu agieren. Bevor die LRKI des Sektierertums bezichtigt wird, laßt uns absolut klarstellen, daß wir im Kampf gegen die "alte Garde" Carey kritisch unterstützen würden - obwohl wir gleichfalls kategorisch die Beendigung der Eingriffe der Bundesregierung in die Gewerkschaft verlangen würden. Im Streik bei UPS hatte Carey recht, die richterliche Anordnung zu mißachten und mit dem Streik weiterzumachen. Wir verschließen nicht die Augen vor der Möglichkeit, daß ein linker Bürokrat Kämpfe anführt und wir würden solche Bürokraten kritisch unterstützen, wenn und falls sie Kämpfe leiten.

Das Schlüsselwort ist "kritisch". Denn wir verlieren unser Ziel nicht aus den Augen, das da heißt: unabhängige Organisation der Basis und dadurch Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse (in den USA würde dies das Ringen um den Aufbau einer unabhängigen, auf den Gewerkschaften beruhenden Arbeiterpartei einschließen).

Für Socialist Action ist das strategische Ziel bei den Teamsters erreicht. Carey ist der klassenkämpferische linke Flügel. Im Streik bei TMI argumentierte Socialist Action, daß die Carey-Führung "mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft streikte." Das ist nicht wahr. Die Spartacists wiesen zurecht darauf hin, daß Carey sich weigerte, die örtlichen Master Freight-Gewerkschafter herauszurufen und damit 40000 potentiell Streikende an der Arbeit hielt. Socialist Action argumentierte nach dem Streik:

"Insgesamt wurde Carey nicht überlistet und verschenkte nichts. Was verlorenging, spiegelte das ungünstige Kräfteverhältnis wider, das die alte Garde während mehrerer vergangener Jahrzehnte schaffen half."

Die alte Garde versuchte nicht, den Streik zu gewinnen. Aber es war Carey, nicht sie, der die spalterischen Lohntarife zwischen Gelegenheitskräften und Vollzeitern aushandelte, und es war Carey, der der "Streikfreiheitsklausel" während Forderungsprozeduren zustimmte. Dies waren klassische Beispiele, wie ein Bürokrat während Verhandlungen gibt und nimmt. Revolutionäre sollten das aufweisen, nicht wie Socialist Action es tut, Entschuldigungen dafür verbreiten.

Carey hat einige administrative Maßnahmen gegen die alte Garde ergriffen, einschließlich der Abschaffung regionaler Konferenzen (die bürokratische Freudenspektakel darstellten) und des Versuchs, Geld in Streikfonds zu leiten.

Während des Streiks brachte er ein Bulletin heraus und verlangte "Netzwerke der Basis", um die Bulletins zu verteilen (die alte Garde saß auf ihnen herum). Gut - aber dies bleibt ein großes Stück Wegs unterhalb der Transformation der Gewerkschaften in eine von Grund auf demokratische Organisation.

Er hat sein Gehalt beschnitten, aber er ergreift nicht Partei für die Forderung, Bürokraten den Durchschnittslohn der Arbeiter zu zahlen, die sie vertreten. Er kämpft bei Wahlen, fordert aber nicht die Abberufbarkeit von Offiziellen. Er unterstützt Streiks, solange er sie kontrolliert. Er nimmt sich nicht der Streikführung durch gewählte Streikkomitees an. Kurz, Carey ist ein linker Bürokrat.

Für Socialist Action ist das genug. In der Dezember-Ausgabe druckte sie seine Rede vor der TDU, die die Notwendigkeit einer unabhängigen Arbeiterpartei nicht erwähnt.

Fair genug. Er fordert keine solche Partei noch benutzt er die Macht der Teamsters, um eine aufzubauen. Wir können dies offen sagen und ihn dafür kritisieren. Socialist Action reagierte auf seine Rede etwas anders:

"Der erste Sprecher, Ronald Carey, ging nicht soweit [für eine Arbeiterpartei aufzurufen - zwei andere Bürokraten taten das in ihren Reden]. Aber die Logik seiner Argumente, so scheint uns, deutete in exakt dieselbe Richtung."

Seine Rede drehte sich um Teamsterangelegenheiten und das Kräftemessen gegen die alte Garde. Er behandelte die Arbeiterpartei überhaupt nicht. Wie kann man die "Logik" aus dem, was er denkt, ableiten, wenn er keine Erwähnung davon macht. Nun, wenn man denkt, er verkörpere den "klassenkämpferischen linken Flügel" in Person, dann kann man über die Logik dessen, was er sagt, Entscheidungen treffen und sie so schön ausmalen wie man möchte.

Genau das machen Zentristen mit jedem Ersatz für unabhängige revolutionäre Arbeiteraktion, die sie zu finden geschafft haben. Ein rosiges, optimistisches Bild, das sehr zufriedenstellt, kann man malen, aber als Anleitung zum Handeln ist es völlig nutzlos.

Und vielleicht sehen viele Leute Socialist Action darum als linke Alternative. Sie ist nicht so "pessimistisch" wie die Mehrheitsführung des VS.

Sie haben den Glauben an ihre revolutionären Substitute noch nicht verloren. Aber ihre Methode hat nichts angeboren Linkes (in VS-Begriffen) in sich. Sie führt sie zur Preisgabe des revolutionären Programmes in jeder Kampflinie.

Nur in diesem Sinne ist Socialist Action orthodox. Ihre Führer sind orthodoxe Gefolgsleute der SWP von 1963.

Das einzige Problem ist, daß die SWP wenigstens ein Jahrzehnt früher aufgehört hatte, eine revolutionäre Partei zu sein. Das ist nicht die Orthodoxie, die wirklich linke Kritiker des VS auf ihrem bevorstehenden Weltkongreß brauchen werden.

 

 

 

Brief an die RSB-Ortsgruppen München und Paderborn

Liebe Genossinnen und Genossen,

im folgenden wollen wir einige Differenzen zwischen Euren und unseren Positionen, d.h. denen der Gruppe Arbeitermacht / Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, behandeln. Unter Euch und Euren Positionen verstehen wir jene RSB-Genossen in München und Paderborn, mit denen wir in Diskussion standen. Neben Argumentationslinien, die Ihr in Gesprächen verwendet habt, stützen wir uns auch auf die von Andreas, Max und Nick gezeichneten Artikel in Avanti, die Ihr uns zugeschickt habt. Da diese Artikel für sich genommen keine systematische politische Konzeption beinhalten und eine solche in schriftlicher Form auch nicht vorliegt, so sind wir gezwungen, mitunter Argumente und Zusammenhänge zwischen Euren Positionen wie auch daraus folgende Konsequenzen zu konstruieren, da wir trotz des Nichtvorliegens eines solchen Dokuments meinen, daß es eine systematische methodische Querverbindung zwischen Euren Positionen, sagen wir zu Kuba, zur PKK, zu Jugoslawien und zur Einschätzung der restlichen Linken in Deutschland gibt.

Das Schreiben soll dazu dienen, die Diskussion zwischen uns inhaltlich zuzuspitzen und, da wir bisher nur wenig Gelegenheit zu direkten Treffen hatten, wenigstens schriftlich voranzutreiben. Wir werden uns daher in diesem Brief auf einige wesentliche inhaltliche Differenzen konzentrieren und nicht auf die ohne Zweifel auch vorhandenen Gemeinsamkeiten. Da wir für ein nächstes Treffen zumindest vorläufig die Themen "Rolle des deutschen Imperialismus", "Imperialismustheorie" und "Krieg im ehemaligen Jugoslawien" bestimmt haben, wollen wir auf diese Fragen näher eingehen, uns aber auch mit Eurer Position zu Kuba und zum kurdischen Befreiungskampf ausführlicher beschäftigen. Andere Differenzen, die durchaus mit oben genannten zusammenhängen (z.B. Reformismustheorie, kommunistische Wahltaktik und die Einschätzung der SPD), lassen wir hier weg, da der Brief ansonsten noch länger würde.

Imperialismustheorie und die Rolle des deutschen Imperialismus

In etlichen Telefonaten und Gesprächen mit Genossen habt Ihr die Wichtigkeit der Frage der Imperialismustheorie und der (angestrebten) Rolle des deutschen Imperialismus immer wieder betont. Insbesondere habt ihr Euch gegen alle Tendenzen zum Wiederaufleben der kautskyischen Theorie des Ultraimperialismus verwehrt. Soweit wir schriftliche Arbeiten von Euch kennen, setzen sich damit zwei Artikel von Max Brym auseinander - zum einen "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" aus Avanti Nr. 21 (September 1992) und "Krieg als Krisenlösungsstrategie" (Avanti Nr. 38, März 1994).

Was den ersten Artikel betrifft, so stimmen wir der Einschätzung zu, daß es der Friedensbewegung an einem Klassenstandpunkt, genauer: an einem proletarischen Klassenstandpunkt, mangelte. Der ganze pazifistische Standpunkt, der vorherrschte und sich z.B. in der anti-marxistischen Losung der beidseitigen, bedingungslosen Abrüstung in Ost und West niederschlug, ist in Wirklichkeit eine kleinbürgerliche Ideologie. Er war die Klammer, hinter der sich in den meisten Ländern eine volksfrontartige Allianz aus reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführern, kleinbürgerlichen Grünen, "linken" Bürgerlichen bis hin zu Teilen des Klerus verbarg.

Trotzkisten mußten hier zwar in die Bewegung intervenieren, hätten jedoch gegen den Strom des Pazifismus schwimmen müssen. Sie hätten versuchen müssen, eine Scheidelinie zwischen die Arbeiter und Angestellten, bei denen der Pazifismus einen ideologischen und verwirrten Ausdruck der Sorge um ihr Leben, ihre Wohnungen, Arbeitsplätze usw. darstellt, und einem General Bastian, einer Antje Vollmer, diversen Pastoren und sozialdemokratischen und stalinistischen Lobrednern der Friedensbewegung zu ziehen, die hinter ihrem Pazifismus nur die Unterstützung des bürgerlichen Staats und "ihres" Imperialismus verbergen.

Die Friedensbewegung war nicht "objektiv antikapitalistisch", wie Ernest Mandel damals sagte. Zentrale Losungen wie die nach "(beidseitiger) Abrüstung" waren utopisch und reaktionär. Reaktionär, da sie der Verteidigung der degenerierten Arbeiterstaaten oder der Halbkolonien in einem Krieg gegen den Imperialismus widersprechen. Utopisch, da die Losung der Abrüstung und die ganze damit verbundene Appelliererei an die angebliche Friedfertigkeit und imaginierte klassenübergreifende Vernunft der herrschenden Klasse impliziert, daß sich das imperialistische Finanzkapital auf friedlichem, parlamentarischem Weg seine Nukleararsenale nehmen ließe.

Es ist kein Wunder, daß die Friedensbewegung ihre Ziele, wo sie unterstützenswert waren, nicht erreichte und mit ihren Methoden auch gar nicht erreichen konnte. Wir stimmen auch darin mit dem Artikel überein, daß die Friedensbewegung oder die Kräfte, die sich in ihr zusammenfanden, kein Garant gegen ein weiteres Aufblühen des deutschen Nationalismus und Chauvinismus sind.

Wichtiger ist freilich der Teil, der sich mit theoretischen Vorstellungen des gegenwärtigen Imperialismus beschäftigt. Wir stimmen mit Euch darin überein, daß der Imperialismus auf internationaler Ebene nach wie vor durch den Widerspruch zwischen zunehmender Internationalisierung der Produktion und nationalstaatlicher Verwurzelung der konkurrierenden Kapitale und Mächte gekennzeichnet ist.

In der gegenwärtigen Periode werden sich die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten weiter verschärfen. Der entscheidende Grund dafür liegt darin, daß dem Kapitalismus die ökonomischen und politischen Voraussetzungen nicht nur für eine Periode ähnlich des Booms in den 50er und 60er Jahren, sondern selbst für eine Periode der Expansion wie von Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg fehlen. Schon letztere wäre nur durch massive Niederlagen der Arbeiterklassen in den imperialistischen Kernländern (unterstützt von einer erfolgreichen Rekapitalisierung Rußlands und Chinas) und eine damit einhergehende Umwälzung der technologischen Basis der Produktion zu haben. In letzter Instanz wäre auch eine solche Periode ein Vorspiel zu einer politischen und militärischen Konfrontation zwischen den imperialistischen Hauptmächten zur Neuaufteilung der Welt (in welcher genauen Kombination ist heute schwer abzusehen), da es ihr an einer unbestrittenen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Hegemonialmacht fehlen würde.

Selbst solch ein "optimistisches" Szenario für das imperialistische Weltsystem wäre jedenfalls nur auf der Basis historischer und strategischer Niederlagen der Weltarbeiterklasse und ihrer Verbündeten zu haben und würde keineswegs die grundlegenden Widersprüche lösen, sondern "bestenfalls" für eine bestimmte Periode nicht die Form militärischer Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Mächten annehmen lassen, um dann um so heftiger zur Austragung zu kommen.

Heute sind wir davon noch weit entfernt. Trotz der ideologischen und politischen Triumphe, die der Imperialismus in den frühen 1990er Jahren machen konnte (Südafrika, Palästina, Irak, Osteuropa, ehemalige Sowjetunion), hat er damit kein neues Lebenselexier wie Ende der 1940er Jahre finden können.

Damit hängt die Intensivierung der inner-imperialistischen Rivalitäten zusammen. Sie äußern sich gegenwärtig vor allem auf ökonomischer (GATT-Verhandlungen, wirtschaftliche Blockbildungen wie NAFTA, EU, Maastricht), aber auch politischer Ebene.

Diese "neue Weltunordung" bedeutet auch, daß sich die imperialistischen Bourgeoisien neu orientieren müssen. Die USA ist trotz ihrer militärischen und politischen Stärke nicht mehr die unumstrittene wirtschaftliche Führungsmacht, sondern eher der primus inter pares. Sie ist zwar (potentiell) in der Lage, den Formierungsprozeß ihrer Rivalen, d.h. vor allem Japans und Deutschlands, aber auch anderer europäischer imperialistischer Mächte, zu behindern, doch trifft das immer mehr auf, zuerst ökonomische Grenzen der US-Wirtschaft selbst. Es ist daher kein Wunder, daß die neue Weltordnung Bushs nicht die Lösung der Strategie der USA, sondern vielmehr der Deckmantel für einen Kampf innerhalb der herrschenden Klasse über die zukünftige, einzuschlagende Strategie des US-Imperialismus in der internationalen Arena ist.

Das imperialistische Europa ist in gewisser Weise der fragilste unter den sich abzeichnenden imperialistischen Blöcken. Obwohl er der wirtschaftlich Größte ist, ist er erstens durch starke Antagonismen zwischen imperialistischen Mächten gekennzeichnet. Zweitens ist die Arbeiterbewegung in diesen Ländern stärker, ihre ökonomischen und politischen Rechte sind größer als in den USA und Japan.

Für die deutsche Bourgeoisie und den BRD-Imperialismus bedeutet das mehrere, miteinander verbundene Aufgaben:

a) Erhöhung der Profitrate durch Drücken des Lohns, des Soziallohns usw. sowie durch Intensivierung der Arbeit, Reduktion der Abzüge vom Profit durch Abbau des Sozialstaats usw.

b) Einschränkung der demokratischen Rechte der Arbeiterklasse und Zerschlagung des bundesdeutschen Systems der Klassenkollaboration (nationale Tarifvereinbarungen, Mitbestimmung) inklusive der mehr oder weniger institutionalisierten Macht der Arbeiterbürokratie, die unter schärferen Konkurrenzbedingungen für das Kapital zu teuer wird.

c) Herstellen der vollen Bewegungsfreiheit der deutschen Bourgeoisie auf politischer und militärischer Ebene.

d) Schaffung eines vom deutschen Kapital dominierten ökonomischen (und auf dieser Basis politischen und militärischen) Blocks in Europa (Kerneuropa; die zerfallenden degenerierten Arbeiterstaaten Osteuropas zu Halbkolonien machen, die vom BRD-Imperialismus dominiert werden).

So wie die US-Bourgeoisie über ihre zukünftige Rolle gespalten ist, so muß auch das deutsche Finanzkapital eine Führung zur Lösung dieser Aufgaben erst herausbilden, eine klare Strategie nach innen wie nach außen finden, diese den anderen Teilen der Klasse aufzwingen und gegenüber dem Proletariat durchsetzen. Das zeigt unserer Einschätzung nach auch der Tarifkonflikt in der Metallbranche, in dem die Unternehmer ihre wesentlichen Ziele nicht durchsetzen konnten.

Wir haben die Skizzierung der internationalen Lage, die dem deutschen Kapitalismus seine Rahmenbedingungen auferlegt, an den Beginn gestellt, da wir meinen, daß diese den Ausgangspunkt für eine Beurteilung der strategischen Probleme und Zielvorstellungen des deutschen Imperialismus, der kommenden Angriffslinien auf politischer und ökonomischer Ebene bilden muß. Zweitens, um zu bestimmen, wie weit die deutsche Kapitalistenklasse auf diesem Weg ist. Wir wissen nicht, ob und in welchem Ausmaß ihr unsere obige Skizze bzw. Texte, die wir zu diesem Thema verfaßt haben, teilt.

Wir teilen jedoch bestimmte Einschätzungen Eurer Artikel nicht. Manche sind wohl bloß konjunktureller Art und sekundär. Zwei davon sind jedoch wesentlich. Wir halten es für falsch, zu behaupten, daß Deutschland bereits das Rennen um wichtige Länder Osteuropas gewonnen hätte. So schreibt Max Brym:

"Die nördlichste Baltenrepublik befindet sich bereits in der Hand des 'Ostausschusses der deutschen Treuhand'. Tschechien ist in Wirklichkeit heute eine Sonderwirtschaftszone Deutschlands." Erstens halten wir den Prozeß der kapitalistischen Restauration in diesen Länder noch nicht für abgeschlossen. Zweitens - damit zusammenhängend - bedeutet die Tatsache, daß in bestimmten Ländern ein Großteil des bisherigen Auslandskapitals aus Deutschland kommt nicht, daß sie schon "Sonderwirtschaftszonen" der BRD geworden wären. Freilich stimmt es gerade für Tschechien, daß es mit größter Wahrscheinlichkeit die Zukunft einer Halbkolonie, die vom deutschen Kapital dominiert wird, vor Augen hat. Bei anderen wie Ungarn, Rußland und mit Einschränkungen Polen ist weitaus weniger klar, welche imperialistische Macht einen dort restaurierten halbkolonialen Kapitalismus dominieren wird. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht mit der polit-ökonomischen Seite des Restaurationsprozesses aufhalten. Was diese betrifft, verweisen wir Euch auf einen in Kürze im "Revolutionären Marxismus" Nr. 14 erscheinenden Artikel zu dieser Frage.

Krieg in Bosnien

Hier, denken wir, kommt der vorschnelle Charakter Eurer Analyse am deutlichsten zum Ausdruck:

"Meine These lautet also: Der Balkan zeigt die verschärften zwischenimperialistischen Gegensätze. Krieg wird bereits geführt, allerdings von Stellvertreterarmeen. Gäbe es einen kollektiv handelnden Imperialismus, wäre der Krieg schon zu Ende." (Krieg als Krisenlösungsstrategie, S. 20)

Nun ist es sicher richtig, daß der Krieg die verschärften zwischenimperialistischen Gegensätze zeigt. Wahrscheinlich wäre eine reaktionäre, pro-imperialistische Lösung bei einer einheitlich handelnden imperialistischen Front schon durchgesetzt.

Doch es ist falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß es sich heute um einen bloßen Stellvertreterkrieg in Bosnien handeln würde.

Der Krieg entsprang selbst dem Zusammenbruch des jugoslawischen degenerierten Arbeiterstaats und dem kapitalistischen Transformationsprozeß, den die zu Restaurationisten gewandelten Bürokraten in Belgrad, Zager, Laibach oder Sarajevo voranzutreiben versuchten. Schon nach Titos Tod war der Nationalismus in Serbien (und in dessen Gefolge in Kroatien und Slowenien) rasant angestiegen. Der Aufstieg Milosevics und seiner Clique, die de facto Okkupation des Kosovo und der Vojvodina zeigten den anderen Republiken, was sie unter einem von Belgrad geführten Gesamtjugoslawien zu erwarten hätten.

Es war die serbische Bürokratie, die mit ihrem gescheiterten Versuch, die Lostrennung Sloweniens und Kroatiens gewaltsam zu verhindern, der Föderation vollends das Grab schaufelte. Natürlich waren auch damals schon imperialistische Interessen gegensätzlicher Art im Spiel. V.a. die BRD preschte mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vor und konnte diesen Kurs den anderen imperialistischen Staaten aufzwingen, die noch immer auf den Erhalt der Föderation und eine Restauration des Kapitalismus unter Aufsicht der besonders IWF-freundlichen gesamtjugoslawischen Regierung von Ante Markovic setzten.

Um das Aufwallen der nationalistischen Stimmungen auf allen Seiten beim Zerfall Jugoslawiens zu verstehen, reicht die Einflußnahme des Imperialismus auf diesen Prozeß nicht aus. Der Nationalismus war schon lange davor die Antwort der jeweiligen Republiksbürokratien auf einen drohenden Machtverlust. Er diente dazu, "ihre" Arbeiter und Arbeiterinnen bei der Stange zu halten und vor den Karren ihrer reaktionären Ziele zu spannen. Er war vor allem ein ideologischer Kitt für das Ziel der jeweils herrschenden Nationalisten - egal ob als umbenannter Bund der Kommunisten wie in Serbien oder als offen bürgerliche Parteien wie in Kroatien und Slowenien -, einen möglichst starken bürgerlichen Nationalstaat aus den ihnen zufallenden ehemaligen Republiken und Teilen des "Restes" von Jugoslawien zu formen.

Bosnien mußte daher wohl oder übel in den Krieg hineingezogen werden. Die bosnische Regierung tat mit der vom Imperialismus ermutigten Unabhängigkeitserklärung ihr übriges, diesen Prozeß zu beschleunigen. In dieser ersten Phase hatte der Krieg auch den Charakter eines reaktionären Krieges auf beiden Seiten - Serben auf der einen, Kroaten und die mit ihnen verbündete Bosnische Regierung auf der anderen.

Dies änderte sich jedoch, als der Imperialismus im Sommer 1992 seine eigene Strategie änderte und von der Unterstützung der bosnischen Regierung zur de facto-Akzeptanz einer Teilung Bosniens zwischen Serbien und Kroatien (mit oder ohne einem verbleibenden Restbosnien) abrückte und die kroatisch-bosnische Allianz zerbrach. Natürlich waren nicht alle imperialistischen Mächte darüber glücklich, doch zeigten sich gerade hier die Grenzen des deutschen Imperialismus. Seither geht es im Grunde um die Aufteilung der Beute zwischen Belgrad/Pale und Zagreb und eine die imperialistischen Mächte und Rußland halbwegs zufriedenstellende Formel zur Befriedung des ehemaligen Jugoslawiens.

Die bosnischen Moslems (und die noch vorhandenen multi-ethnischen Städte des Landes) kamen in die Rolle ausgemachter Verlierer. Auch wenn Politik und Ziele von Izetbegovic und der Regierung in Sarajevo ihren utopischen und reaktionären Charakter nicht verloren, so wandelte sich der Kampf der bosnischen Moslems objektiv in einen gerechtfertigten Kampf gegen ethnische Unterdrückung, Vertreibung und drohende Auslöschung. Daran ändern die servile Anbiederung der Regierung an den Imperialismus und der Ruf nach Unterstützung durch reaktionäre islamische Regime nichts. Schließlich bestimmen für Marxisten und Marxistinnen nicht die Ziele und Phrasen dieser oder jener Führung den Charakter eines Krieges, sondern die Stellung der kämpfenden Parteien zueinander.

Gerade das Waffenembargo gegen Bosnien hat dazu beigetragen, diese Situation zu befestigen. Es ist ein Element der vorherrschenden imperialistischen Strategie, die eben nicht von Bonn, sondern von London, Paris und Clinton (gegen die Republikaner) bestimmt wird, den Konflikt einer "Lösung" auf Kosten der Moslems zuzuführen. Nebenbei bemerkt ist auch die deutsche Außenpolitik nicht pro-bosnisch, sondern pro-kroatisch.

Natürlich liegt die Lösung des Konflikts in Bosnien nur in der Schaffung eines multi-nationalen Arbeiterstaats als Teil einer sozialistischen Föderation des Balkans. Doch um die Arbeiter in Bosnien, die Bauern und Bäuerinnen, die heute Izetbegovic unterstützen zu gewinnen, ist es nicht nur notwendig, den Aufbau multi-nationaler, unabhängiger Verteidigungs- und Kampforgane (Milizen, Räte auf regionaler und lokaler Ebene,...) in Bosnien voranzutreiben. Revolutionäre müssen auch die moslemischen und multi-nationalen Gemeinden trotz ihrer Führung gegen ethnische Säuberungen der serbischen (und kroatischen) Seite verteidigen. Nur so wird es möglich sein, die Arbeiter und Bauern von den nationalistischen Führern in Sarajevo wegzubrechen, wenn wir den Kampf gegen die drohende Auslöschung ihres Volkes unterstützen.

Das heißt in keiner Weise, daß wir irgendwo oder irgendwann auf die Kritik an Izetbegovic verzichten würden. Revolutionäre in Bosnien müssen bei gleichzeitiger gemeinsamer militärischer Front mit der bosnischen Armee den Nationalismus der Regierung, ihre Packelei mit der UNO und dem Imperialismus kritisieren, aufzeigen, daß ihre Strategie letztlich nur in die Sackgasse führen kann und die notwendige Verbrüderung mit den serbischen und kroatischen Arbeitern und Arbeiterinnen be-, wenn nicht verhindert, indem sie beispielsweise nicht gegen das Embargo gegen Serbien und Montenegro auftritt usw.

Nur eine solche Konzeption wäre gleichzeitig in der Lage, den Kampf gegen nationale Unterdrückung zu führen und den revolutionären Sturz der Izetbegovic-Clique vorzubereiten. Doch um sich zu verteidigen braucht man Waffen. Die bosnischen Moslems (in Wahrheit eine Allianz von ethnischen Bosniern, d.h. der Nachkommen christlicher Sekten, die im 15. und 16. Jahrhundert zum Islam konvertierten, und gemischten Gemeinden) sind allen Unkenrufen zum Trotz nach wie vor militärisch am schwächsten. Das imperialistische Embargo hindert sie daran, sich selbst zu verteidigen. Diese Tatsache wird auch dann nicht falsch, wenn sie von Kinkel, Thatcher, Gingrich oder Dole ausgesprochen wird.

Natürlich kann sich das ändern. Es kann sein, daß eine imperialistische Allianz gegen die serbische Seite mit einem massiven Angriff vorgeht, es kann sein, daß imperialistische Mächte und Rußland auf verschiedenen Seiten in einen offenen Krieg um die Vorherrschaft am Balkan gezogen werden. Auch wenn diese Varianten sehr unwahrscheinlich sind, so bestehen diese Möglichkeiten natürlich. In diesem Fall müßten Revolutionäre ihre Kriegstaktik ändern. Sie müßten im Falle eines Krieges gegen Serbien unter US-Führung (denn nur so ist es überhaupt realistisch) auf Seiten Serbiens gegen den Imperialismus auftreten! Sie müßten im Falle des Kampfes zweier imperialistischer Allianzen gegeneinander, wo Serbien und Kroatien respektive Bosnien nur Handlanger und Aufmarschgebiete dieser sind, eine defätistische Position auf beiden Seiten einnehmen.

Doch das ist heute nicht der Fall, Genossinnen und Genossen. Revolutionäre müssen vom aktuellen Charakter des Krieges ausgehen und eine Strategie vorlegen, wie dieser in einen Klassenkrieg umgewandelt werden kann. Im übrigen würde uns an dieser Stelle interessieren, wie Eure Position zum Krieg in eine Strategie der permanenten Revolution in Bosnien einfließt, welche Haltung bosnische Arbeiter vor Ort Eurer Meinung nach einnehmen müßten.

Euer zentraler Fehler besteht darin, daß Ihr aus dem Einfluß widerstreitender imperialistischer Interessen am Balkan den Schluß zieht, daß diese den Charakter des Krieges gegen die bosnischen Moslems dominieren würden. Doch es werden sich nur wenige Kriege in der nicht-imperialistischen Welt finden lassen, wo nicht an beiden Seiten imperialistische Mächte mitmischten. Das trifft vor allem auf jene Phasen zu, als das imperialistische Lager nicht von einer Macht dominiert wurde.

Wir möchten hier nur an den Befreiungskampf in China gegen den japanischen Imperialismus vor und während des Zweiten Weltkriegs erinnern. Zweifellos handelte es sich im Befreiungskampf Chinas um einen gerechtfertigten Krieg - obwohl er von Chiang Kai Chek geführt und China zu einem zentralen Konfliktpunkt im Zweiten Weltkrieg wurde. Anhand Eurer Position wäre eine defensistische Position auf Seiten Chinas jedoch spätestens mit dem Kriegseintritt der USA unmöglich gewesen. Es wäre dann allemal ein Stellvertreterkrieg zweier imperialistischer Mächte gewesen!

Castro, Kuba und eine Analyse, die weder Fisch noch Fleisch

Wir wollen vorausschicken, daß wir keine Differenz damit haben, daß die kubanische Revolution soziale und demokratische (Befreiung aus dem Status einer Halbkolonie der USA) Errungenschaften mit sich brachte, die von der Arbeiterbewegung verteidigt werden müssen (wie in allen wie auch immer charakterisierten Arbeiterstaaten). Eure Analyse in Avanti Nr. 36 ist zwar "parteiisch", wirft jedoch mehr theoretische und programmatische Fragen auf, als sie löst. Doch der Reihe nach.

1.) Ihr schreibt: "1960 ist der Kapitalismus auf Kuba abgeschafft worden und die nationale Bourgeoisie entmachtet worden."

Was daran stimmt ist, daß die castroistische Regierung Ende 1960 - entgegen ihren ursprünglichen Absichten - entschiedene Maßnahmen gegen das kapitalistische Privateigentum durchführten. Rund 80% der Industrie wurden verstaatlicht und die Landreform beschleunigt. Die US-Blockade zeigte Ende 1960 ihre vollen Auswirkungen, so daß nur die Unterordnung unter die USA oder die Anlehnung an die SU einen Ausweg bringen konnte. Castro ging den zweiten Weg. Guevara führte Ende 1960 eine Handelsdelegation in die SU an und der Aufkauf der gesamten Zuckerernte des Jahres 1961 wurde mit der SU vereinbart. Zugleich kamen die ersten Berater aus dem Ostblock (zuerst aus der CSSR) nach Kuba und die staatlichen Verwaltungsinstitutionen wurden in Planungsinstrumente transformiert, so daß für 1962 der erste Plan erstellt werden konnte. Für uns ist Kuba damit, nicht mit der Enteignung zum degenerierten Arbeiterstaat geworden, während die castroistische Regierung von Mitte 1960 bis Anfang 1962 eine bürokratische antikapitalistische Arbeiterregierung war.

Der Grund dafür ist, daß wir im Gegensatz zu Euch keinen qualitativen Unterschied zwischen der Regierung Castros und zahlreichen stalinistischen Regierungen in Osteuropa vor der Entstehung der degenerierten Arbeiterstaaten sehen und daher die Entstehung eines degenerierten Arbeiterstaats nicht mit der Machtübernahme der Stalinisten oder der Enteignung des Großkapitals und Großgrundbesitzes, sondern mit der Einführung ökonomischer Lenkungsmechanismen, die das Wertgesetz effektiv unterordnen - Planung, Außenhandelsmonopol zusätzlich zum Staatseigentum - ansetzen. Wie notwendig diese Unterscheidung ist, zeigt sich auch darin, daß in manchen Ländern (oder Teilen von Ländern) die Stalinisten nach dem Zweiten Weltkrieg den bewaffneten Apparat des Staats praktisch übernehmen konnten und gleichzeitig der Großteil der (industriellen) Produktionsmittel verstaatlicht war, ohne daß je degenerierte Arbeiterstaaten entstanden (z.B. Ostösterreich).

2.) wäre der 1960 entstandene Arbeiterstaat nicht mit der "klassischen" Begrifflichkeit "sozialistische Demokratie" oder "bürokratisch degenerierter Arbeiterstaat" zu fassen. Bevor wir uns mit den von Euch behaupteten Ausformungen dieses Unterschiedes befassen, wollen wir auf Eure Erklärung dafür eingehen.

Ihr schreibt richtig, daß die Bewegung des 26. Juli keine revolutionär-kommunistische, sondern eine Ideologie des bürgerlichen Nationalismus - allerdings keines reformerischen, legalistischen, sondern eines revolutionären - vertrat.

"Erst", so schreibt ihr, "'die Entschlossenheit, die radikal-demokratischen Veränderungen in dem revolutionären Prozeß ohne Konzessionen bis zum Ende durchzuführen', bewirkte die ideologische Metamorphose der 'Bewegung des 26. Juli' zum Marxismus. (...)

Durch diese selbständige Entwicklung ist es zu erklären, daß in der kubanischen Revolution mit einer Vielzahl stalinistischer Dogmen gebrochen wurde und sich der kubanische Arbeiterstaat in grundlegenden Elementen von den klassischen bürokratisch degenerierten Arbeiterstaaten des Ostblocks unterscheidet."

Diese Erklärung schlägt freilich Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ins Gesicht. Bei der ganzen Betonung der "selbständigen Entwicklung" der Revolution als Beleg für den nicht in "klassische Kategorien" passenden Charakters des kubanischen Arbeiterstaats (wozu auch das Herabspielen des Einflusses des Stalinismus bei seiner wirklichen Entstehung gehört; dazu weiter unten) behauptet ihr nichts andere als daß eine Bewegung "in der Tradition des national-demokratischen Revolutionärs JosŽ Mart’", also eine (klein)bürgerlich nationalistische Kraft aufgrund des Drucks des objektiven Prozesses nicht nur einen proletarischen Staat, sondern sogar einen "nicht-degenerierten" schaffen könnte!

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ist damit jedenfalls nicht vereinbar: "Wie verschieden die ersten episodenhaften Etappen der Revolution in den einzelnen Ländern auch sein mögen, die Verwirklichung des revolutionären Bündnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft ist nur denkbar unter der politischen Führung der proletarischen Avantgarde, die in der Kommunistischen Partei organisiert ist."

Zwar wurden die Trotzkisten nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Entstehung von Arbeiterstaaten unter Führung der Stalinisten konfrontiert. Diese waren jedoch von Beginn an bürokratisch degeneriert. Bei Euch - und ihr seid hier nicht die ersten, sondern steht in der schlechten Tradition von Pablo, Mandel, Hansen usw. - haben sich nicht-proletarische Kräfte als fähig erwiesen, einen im Kern gesunden Arbeiterstaat oder zumindest einen, in dem es keiner politischen Revolution gegen die Bürokratie bedarf, zu schaffen. Demzufolge kann eine erfolgreiche, genuine soziale Revolution auch durch eine Bewegung mit "jakobinischer Ideologie", die "eine Menge Erfahrung" sammelt, angeführt werden.

Doch wenn das in Kuba geht, warum nicht auch in Nikaragua, in Algerien oder sonstwo, wo tatkräftige Jakobiner am Werk waren oder sind, und noch eine "Menge Erfahrungen" machen können? Die kommunistische Avantgardepartei wird dann zum vielleicht wünschenswerten, keinesfalls aber notwendigen Instrument der erfolgreichen proletarischen Machtergreifung, zum Aufbau eines revolutionären Arbeiterstaats und zur Internationalisierung der Revolution. Wir lehnen diese grundlegende Revision des Trotzkismus - um genau die handelt es sich hier, Genossen! - ab - und zwar nicht, weil am Trotzkismus nicht gerüttelt werden darf, sondern weil er in Wirklichkeit durch die Geschichte der Bewegung des 26. Juli, die Entstehung des kubanischen Arbeiterstaates und seine Entwicklung bestätigt wird.

In seiner 1953 nach dem Angriff auf die Moncada-Kaserne gehaltenen Verteidigungsrede sprach sich Castro für die Wiedereinführung der Verfassung von 1940, die von Batista in einer kurzen Phase der Koalition mit der KP erlassen wurde, für eine auf große Ländereien begrenzte Landreform und für die Verstaatlichung der US-amerikanischen Elektrizitäts- und Telefongesellschaften aus.

Die Bewegung des 26. Juli selbst hatte nie ein klares Programm, nie eine Konferenz oder gewählte Führung. Sie war im wesentlichen ein militärischer Apparat zum Sturz Batistas. Und sie war eine Art Mini-Volksfront. Auf der Linken standen Raoul Castro und Guevara, die vom Stalinismus beeinflußt waren und insgeheim gegen den Sturz des Kapitalismus nichts einzuwenden hatten. Auf der Rechten standen Leute wie Hubert Matos und Faustino Perez, städtische Industrielle, die für finanziellen und Waffennachschub sorgten. Castro spielte schon damals den bonapartistischen Regenten über beide Flügel.

Alle Flügel der Bewegung des 26. Juli waren der stalinistischen PSP (Sozialistische Volkspartei) feindlich gesinnt, hatte diese doch wiederholt mit Batista paktiert und ihrerseits den Kurs Castros als "Abenteurertum" abgelehnt. Doch im Frühjahr 1958 kam es zu einer Richtungsänderung der PSP und im März 1958 zu einem Pakt zwischen Castro und der PSP. Die Bewegung des 26. Juli war eine Koalition zwischen bürgerlichen (Perez, Pais...) und proletarischen, wenn auch stalinistischen Kräften (PSP, Raoul Castro...).

Nachdem Batistas Offensive im Sommer 1958 fehlschlug, brach des Regime zusammen und ein Generalstreik führte zur kompletten Desintegration. Die Revolution brachte im Frühjahr 1959 eine Situation der Doppelmacht hervor.

Auf der Linken standen Raoul Castro, Guevara oder der PSP nahestehende Einheiten der Rebellenarmee, die, wo sie Kontrolle ausübten, daran gingen, unmittelbare Forderungen der Arbeiter (in erster Linie Landaufteilung) zu erfüllen. Wo die Bürgerlichen oder übergelaufene Offiziere (z.B. der Oberkommandierende der Luftwaffe Diaz Lanz in Camaguey) das Sagen hatten, wurde die Landreform gestoppt.

Diese Doppelmachtsituation war für die Bourgeoisie äußerst ungünstig, da sie militärisch schwächer war und ihre Hauptstütze eigentlich in der klassenkollaborationistischen Politik Castros lag. Castro schlug sich in diese Phase auf die Seite der Bourgeoisie. Die PSP wurde scharf attackiert. So demolierte die von Perez geführte "Bürgerwehr" Havannas die Büro der PSP-Zeitung "Hoy". Vor allem wurde der PSP vorgeworfen, Streiks für höhere Löhne zu ermutigen und in die Landbesetzung in San Louis involviert zu sein.

Die Jakobiner Castros hatten also zuerst gegen die, wenn auch reformistisch dominierte Arbeiterbewegung und für die Bürgerlichen zugeschlagen. Doch der Druck der Massen und die Feindschaft der Bourgeoisie und der USA erlaubten diesen Balanceakt nicht lange.

Zur Schlüsselfrage wird die Landreform respektive die Höhe der Entschädigung für Enteignungen. Eine Reihe von Ultimaten der USA zwingt Castro, schrittweise gegen offen bürgerliche Minister und Militärs vorzugehen, was zum Wirtschaftsembargo durch die USA im Oktober 1959 führt. Die Volksfront endet hier ebenso wie die Doppelmacht. Raoul Castro wird Verteidigungsminister, Guevara Chef der Bank von Kuba, was den Verbleib des Bürgerlichen Fresquet als Finanzminister mehr oder weniger bedeutungslos machte.

Das erforderte eine Wiederannäherung an die PSP. Die daraus entstehende Regierung war nach wie vor keine antikapitalistische, sondern vielmehr eine bürgerliche Arbeiter- und Bauernregierung. Aber sie war eine Arbeiter- und Bauernregierung unter recht außergewöhnlichen Umständen. Erstens hatte die Bourgeoisie die Macht über den bewaffneten Staatsapparat verloren und konnte sie somit nur über die bewaffnete Konterrevolution oder die offene Kapitulation wieder erringen. Zweitens bereitete die Bourgeoisie gemeinsam mit dem CIA den Bürgerkrieg vor. Drittens waren die Arbeiter und Bauern bewaffnet und damit ein Wall gegen jede offene Kapitulation und die Konterrevolution, auch wenn sie über keine alternative Führung zur PSP und zur Bewegung des 26. Juli verfügten.

Nun erst, im Sommer 1960, ging Castro gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse vor. Die Regierung war aber auch nun keineswegs eine revolutionäre Arbeiterregierung, sondern eine bürokratische antikapitalistische Regierung, die jedoch stärker unter dem Druck der Massen als die osteuropäischen KPen nach 1945 (wenn auch mit der Ausnahme Jugoslawiens) standen.

Wir sehen also, daß die "Jakobiner" der Bewegung des 26. Juli nicht einfach durch den Druck der Geschichte einen "Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen" schufen, sondern selbst zu einer stalinistische Kraft - über die Annäherung und schließliche Verschmelzung mit der PSP Ð werden mußten, die erst fähig war, gegen die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, wenn auch auf bürokratische Art und Weise vorzugehen.

Die Fusion zwischen der Bewegung des 26. Juli und der kubanischen PSP zuerst zur "Integrierten Revolutionären Organisation" (Juli 61-Oktober 65) und dann zur KP Kubas hatte selbst einen ausgesprochen bürokratischen Charakter. Das ganze Gezeter Castros gegen das Sektierertum und den Bürokratismus der PSP-Leute hatte nur den Zweck, die Mehrheit der Bewegung des 26. Juli in der Führung der neuen KP zu sichern. Unter den ersten 100 Mitgliedern des Zentralkomitees hatten 72 militärische Titel, d.h. sie waren über die Führung von Castros Armee in ihre Funktion gekommen und treue Gefolgsleute des lider maximo. Diese "Dichte" von Offizieren in der politischen Führung der einzigen Partei des Landes zeigt, wie weit es mit der Arbeiterdemokratie in dieser Partei her war. Den ersten Parteitag hatte dieser Hort der Debatte, in der angeblich die "verschiedensten Positionen frei und heftig diskutiert" werden, in dem "das stalinistische Prinzip des Abtötens politischer Diskussion nicht existiert", überhaupt erst 1975!

Auch um die der Rede- und Organisationsfreiheit des Proletariats war es in Kuba nach der Revolution alles andere als rosig bestellt. Die Gewerkschaften wurden zu Organisationen zur Überwachung der Arbeitsnormen. Guevara selbst erklärte 1962, daß die Nachlässigkeit einiger Gewerkschaftsführer, neue Arbeitsnormen durchzusetzen, "nicht toleriert werden" würde. 1965 wurden dann auch Strafgesetze gegen den Bruch der Arbeitsdisziplin eingeführt.

Aber nicht nur gewerkschaftliches Aufbegehren und abweichende Stalinisten aus der PSP wurden in Kuba unterdrückt oder ins tschechische bzw. sowjetische Exil gezwungen. Selbst Eure eigene Sektion der Vierten Internationale, die "Vox Proletaria", und ihre Zeitung wurden 1961 verboten wie auch der Druck von Trotzkis "Permanenter Revolution", die die scheinbar zu Marxisten gewandelten Jakobiner unter dem Druck der Ereignisse angeblich gerade lernten. Die Anhänger Eurer Strömungen diskutieren ihre Meinung ab dann übrigens nicht "frei und heftig" in der Öffentlichkeit, sondern, wenn überhaupt, als "Konterrevolutionäre" gebrandmarkt im Gefängnis oder im Exil. Neben dem Verweis auf die Mandel-Guevara-Bettelheim-Diskussion vergeßt Ihr das ebenso wie die Tatsache, daß selbst Guevaras Bücher bis vor kurzem in Kuba nicht erhältlich waren.

Doch das tut dem nach Eurer Auffassung keinen Abbruch.

"Die Entwaffnung des Volkes und die Ersetzung der Arbeitermilizen durch bürokratisierte Militärapparate ist ein Grundelement der stalinistischen Bürokratie. Das gibt es nicht auf Kuba."

Dabei wird allerdings vergessen, daß die Miliz nach dem Invasionsversuch in der Schweinebucht bis 1964 abgebaut wurde. Die Kubanische Armee ist ebenso wie der Geheimdienst alles anders als nicht von der Bürokratie kontrolliert. Sie machen den Kern der bürokratischen Staatsmaschinerie auf Kuba aus - nicht imaginierte Arbeiter- und Bauernmilizen. Natürlich sind auch heute noch weite Teile der Bevölkerung Mitglieder der "Komitees zur Verteidigung der Revolution" (die ihre Waffen übrigens über und durch die Armee erhalten), doch die bloße Ausgabe von Waffen an relativ große Bevölkerungsteile sichert noch keineswegs eine Kontrolle durch die Werktätigen. Das zeigen selbst bürgerliche Staaten wie die Schweiz oder andere degenerierte Arbeiterstaaten wie Jugoslawien, wo ebenfalls ein Großteil der Bevölkerung bewaffnet war (und diese Waffen heute auch einsetzt).

Wenn der Waffenbesitz als solches die Bürokratie wirklich in Zaum halten würde - wie ist es dann zu erklären, daß die kubanischen Massen das Verbot gewerkschaftlicher Organisierung und jeder ökonomischen Forderung in joint ventures und in der Tourismusbranche hinnehmen oder jedenfalls hinzunehmen gezwungen sind, dort für Löhne unter dem Niveau Mexikos (!) arbeiten zu müssen? Wie kommt es, daß dieses Volk nicht gegen die zahlreichen reaktionären Gesetze in der Tourismusbranche, durch die die Kubaner und Kubanerinnen von den schönsten Plätzen und Stränden ihres Landes ausgesperrt werden, aufbegehrt? Der bloße Besitz von Waffen garantiert durch ein von jeder unabhängigen Organisierung ausgeschlossenes Volk eben keine Kontrolle über die Bürokratie.

Aber, so fragt ihr weiter, wie ist es zu erklären, daß "nie aufgehört worden ist, die Ausweitung der Revolution in einzelne Länder zu unterstützen"? Gegenfrage: Wo wurde sie verfolgt?

Das einzige Beispiel, das sich hier noch am ehesten anführen läßt, ist der Aufbau castroistischer bzw. guevaristischer Guerrillas Mitte bis Ende der 60er Jahre in Lateinamerika. Doch die Guerillastrategie selbst ist keine Strategie des revolutionären Proletariats, sondern des Kleinbürgertums.

Im übrigen war selbst das nur eine Episode der kubanischen Außenpolitik. Die angebliche internationalistische Pflicht, die Kuba in Angola, Äthiopien und sonstwo verfolgte, war im wesentlichen eine Politik im Interesse und Auftrag der sowjetischen Bürokratie. Nebenbei bemerkt, haben hier die DDR und andere "ganz degenerierte Arbeiterstaaten" nicht viel weniger geleistet. Die Unterstützung Nordkoreas oder Vietnams durch die SU unterschied sich in keiner Weise vom kubanischen Internationalismus. Die Unterstützung solcher Regime oder Befreiungsbewegungen im Kampf gegen den Imperialismus oder von ihm unterstützte reaktionäre Kräfte war immer den strategischen Bedürfnissen der sowjetischen Bürokratie untergeordnet, die dafür Sorge trug, daß sie nicht aus ihrer Kontrolle gerieten.

An dieser Stelle dürfen Trotzkisten nie vergessen, daß die kubanischen Armee-Einheiten in Angola auch gegen linke "Abweichler" der MPLA und in den von ihr kontrollierten Gewerkschaften vorgingen. Worin bestand der Internationalismus der kubanischen Truppen, als sie mit der äthiopischen Regierung gegen die sich ebenfalls marxistisch-leninistisch nennende Befreiungsbewegung in Eritrea vorgingen?

Worin bestand der Internationalismus Castros, als er den Einmarsch der sowjetischen Truppen in der CSSR 1968 unterstützte und das Massaker in Peking 1989? War die Unterstützung, nicht der permanenten Revolution und der Diktatur des Proletariats, sondern der Volksfront in Chile ein Zeichen dafür, daß "nie aufgehört worden ist, die Ausweitung der Revolution in einzelnen Ländern zu unterstützen"? Wo war seine Perspektive der proletarischen Revolution in Nikaragua?

Nein, Genossen und Genossinnen, Castro hat keinen Bruch mit der stalinistischen Konzeption des Aufbaus des Sozialismus in einem Land vollzogen, er hat keinen Bruch damit vollzogen, auf internationaler Ebene auf eine Politik der "friedlichen Koexistenz" zu setzen.

Die Bürokratie wurde nicht erst seit Mitte der 70er Jahre ein Problem, sondern war es von Beginn der kubanischen Revolution an. Daher mußten Trotzkisten von Beginn an ein Programm der politischen Revolution verfechten und den Aufbau einer eigenen revolutionären Partei vorantreiben. Für Euch und für das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale war das offenkundig nicht notwendig.

Eure aktuelle Position scheint uns freilich ganz unklar.

"Seitdem (Mitte der 70er Jahre) stellt die Bürokratie eine zusätzliche Gefahr für das Überleben der kubanischen Revolution dar.... Heute vertritt sie die Politik einer wirtschaftlichen und politischen Annäherung an den Kapitalismus."

In letzterem Punkt unterscheidet Ihr Euch von Hans Jürgen Schulz, der auch noch diesen Ausverkauf als "alternativlos" darstellt (auch wenn der Artikel von Schulz "Cuba - vor der Entscheidung" in Avanti 41, September 1994 die Realität der bürokratischen Unterdrückung weitaus ungeschminkter zum Ausdruck bringt, dafür aber im Grunde um so widersprüchlicher gerät).

Doch wenn die Bürokratie eine Gefahr für die Revolution geworden ist, was bedeutet das für Revolutionäre? Müßten sie auf eine revolutionäre Gesundung der KP hinarbeiten? Wenn ja, auf welchem Programm, einem guevaristischen oder einem trotzkistischen? Müßte dann nicht auf alle Fälle eine revolutionäre Fraktion in der KP aufgebaut werden? (Was ja, nehmt Ihr Eure eigene Auffassung über die Freiheit politischer Debatte in Kuba ernst, jedenfalls kein legales Problem sein dürfte.)

Der ganze Schleier, des qualitativen Unterschieds des kubanischen Arbeiterstaats würde sich bei jedem ernsthaften Versuch in diese Richtung lichten. Es bliebe nichts davon übrig.

Was ist die PKK?

Einen ähnlichen Fehler, den Ihr in der Einschätzung der kubanischen Revolution hinsichtlich des Castroismus begeht, macht Ihr auch bei der PKK.

Vorweg wieder: Die Frage der bedingungslosen Verteidigung der PKK gegen den bürgerlichen Staat - sei es in der BRD wie in der Türkei - steht außer Frage.

Die Frage ist vielmehr, was ist die PKK selbst?

In Euren Publikationen kommt unter dem Strich nur eine Sache raus: "eine revolutionäre Organisation".

Doch welche? Ist die PKK eine proletarisch-revolutionäre Partei? Wenn ja, dann müßte schleunigst Ihre Vereinigung mit der Vierten Internationale vorangetrieben werden. Die Veröffentlichungen in Avanti sagen dazu nichts, wie im übrigen auch gar nichts zur türkischen Sektion des VS und deren Haltung zur PKK usw. Warum wird die Arbeit dieser Sektion in den Seiten von Avanti verschwiegen?

Die Artikel in Avanti beschäftigen sich zudem nicht mit der Strategie der PKK, sondern im wesentlichen nur mit Einstellungen der deutschen Linken zum kurdischen Befreiungskampf.

Es gibt jedoch keine Kritik an der Etappentheorie, die die PKK im nationalen Befreiungskampf verficht, keine Kritik an ihrem stalinistischen Organisationsaufbau und ihrer stalinistischen Ideologie, die sich nicht zuletzt auch in einigen Mystifikationen niederschlägt.

In diesem Zusammenhang wollen wir Euch nur auf einige Elemente der PKK-Politik der letzten Jahre hinweisen. In einem Bericht über die internationale Kurdistankonferenz im Kurdistan Report vom März/April 1994 schreibt der Autor:

"Die Guerrillas der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kontrollieren inzwischen mehr als 80% der kurdischen Gebiete in der Türkei-Kurdistan. In Syrien wird sie von 90% der Bevölkerung unterstützt. In Iran und Irak sympathisiert mehr als 50% der Bevölkerung mit der PKK."

Besonders interessant daran ist die Behauptung der großen Unterstützung von 90% der syrischen Kurden und Kurdinnen. Die PKK hat einige ihrer Ausbildungslager in diesem Land. Diese freilich nicht aufgrund eigener militärischer Stärke, sondern weil sie nie offen gegen die Unterdrückung der Kurden und Kurdinnen in Syrien aufgetreten ist - obwohl sie von sich behauptet, als einzige Partei die nationale Frage für ganz Kurdistan (also auch den syrischen Teil) zu verfechten. Die Unterstützung für die PKK im irakischen und im iranischen Teil Kurdistans dürfte ebenfalls einigermaßen übertrieben sein und ist nicht zufällig mit dem Terminus "Sympathie" umschrieben.

Aber auch die Sichtweise der kurdischen Nation durch die PKK kommt vielmehr einer Mystifizierung als einer marxistischen Analyse gleich. In dem Artikel "Die nationale Frage im Allgemeinen und die nationale Befreiungsbewegung Kurdistans" schlägt sich der Autor mit dem bekannten Problem herum, warum der kurdische Befreiungskampf in diesem Jahrhundert keinen einheitlichen, über die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen hinausgehenden Charakter annahm. Der Autor führt dies auf das Problem ihrer Führungen (Großgrundbesitzer, vorkapitalistische Klassen und die Integration der Handelsbourgeoisie in ihren jeweiligen Nationalstaaten) zurück.

Das stimmt natürlich. Doch was war und ist die materielle Basis dafür, daß in einem ganzen Jahrhundert praktisch keine all-kurdische Nationalbewegung zustande kam? Worin liegt die materielle Basis, daß die feudalen, bürgerlichen, kleinbürgerlichen und stalinistischen Führungen des kurdischen Befreiungskampfes, der oft erbittert geführt wurde, ihre Perspektive nicht (oder bestenfalls episodisch) in der Entstehung eines einheitlichen kurdischen Nationalstaats, sondern vielmehr in der Errichtung eigener Staaten oder der Erringung von mehr Autonomie innerhalb schon existierender Nationalstaaten sahen? Es liegt daran, daß es die ökonomische Basis dazu nicht gab, da die koloniale und halbkoloniale Teilung Kurdistans zur partiellen Integration in die Ökonomien anderer Staaten und Reiche führte, was sich nicht zuletzt auch in unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklung, Entwicklung des Klassenverhältnisses aber auch z.B. des Alphabets niederschlug.

Für die PKK ist es jedoch eine Geschichte der Verschwörungen anderer Parteien, nicht die Widerspiegelung eines behinderten, ja verhinderten Nationswerdungsprozesses einer gesamtkurdischen Nation in der Politik dieser reaktionären Führungen.

Die PKK präsentiert sich gern als Anwalt dieser verratenen gesamtkurdischen Nation, die sie in ihren Zeitschriften auf ganz und gar nicht marxistische Weise bis hin ins Mederreich zurückverfolgt.

Es ist auch falsch, wenn die PKK meint, daraus, daß die Kurden nie ein Unterdrückervolk waren, schließen zu können, daß es nie "zum Nationalismus neigen sollte". Schließlich hat das auch verschiedene kurdische Stammesfürsten nicht daran gehindert, 1915 im Auftrag Kemal Attatürks ein Pogrom an den Armeniern anzurichten.

Diese Betonung der hehren Geschichte der kurdischen Nation und des Versagens der feudalen und bürgerlichen Klassen, ihre Befreiung zu erringen, führt dazu, daß die PKK dem nationalen Befreiungskampf eine linke, scheinbar proletarisch-revolutionäre Strategie verpaßt.

Der nationale Befreiungskampf hat für sie auch eine "soziale und Klassenperspektive", einen "fortschrittlich-revolutionären Charakter" inklusive des "Ideals einer großen Föderation der Völker des Ostens". Die PKK vertritt jedoch nicht die Perspektive eines auf Rätemacht und Arbeitermilizen basierenden kurdischen Arbeiterstaats als Teil einer Föderation von Arbeiterstaaten des Nahen Ostens. Das kommt bei aller Betonung des Kampfes gegen den Imperialismus und des proletarischen Internationalismus nicht vor. Die Losung lautet nicht von ungefähr: "Alles für ein freies und unabhängiges Kurdistan!"

Das spiegelt sich auch in dem Artikel "Die nationale Frage im Allgemeinen ..." wider:

"Das nationale Potential, auf das sich die PKK stützt, ist die Arbeiter- und Bauernschaft, sind die armen Schichten. Die Macht der Zukunft stützt sich auf die Basis dieser Schichten bzw. ihrer Ideologie. Wir sehen, daß in den letzten Jahren zunehmend Geschäftsleute und andere kleinbürgerliche Schichten und sogar die Mittelschichten von unserem Kampf beeinflußt werden oder sich ihm anschließen. (...)

Vielleicht beteiligen sich einige von ihnen nur aus nationalen Interessen am Kampf, durch die Haltung der PKK zur sozialen und zur Klassenfrage erfahren sie eine Veränderung ihrer Einstellung."

Hier zeigt sich der ganze Idealismus dieser Vorkämpfer der "sozialen Frage". Die Einstellung ganzer Klassen wird nicht mehr durch ihrer ökonomischen Interessen, sondern durch die Haltung der PKK zur sozialen und Klassenfrage bestimmt. Da wundert es auch nicht weiter, daß die sozialen Interessen von Proletariat und Bauernschaft ohnehin nur noch als ewig deckungsgleich dahermarschieren können.

Dahinter verbirgt sich, daß sich die PKK in Wirklichkeit in ihrem Kampf vielmehr auf die Bauernschaft und die ländliche Armut stützt, als auf das Proletariat. Es ist auch keine Zufall, daß der ländliche Guerillakampf das Schwergewicht ihrer Kampf- und Organisationsbemühungen ausmacht und nicht die Organisierung des kurdischen Proletariats in den türkischen Industriestädten wie Izmir, Ankara usw. Diese eigentliche Avantgarde des demokratischen und nationalen Kampfes ist für die PKK in Wirklichkeit ein Hilfstrupp für ihrer Guerillaarmee, die stellvertretend für die Arbeiterklasse die Befreiung bringen soll.

Diese ist in keiner Weise von den Massen kontrolliert, muß in keinem arbeiterdemokratischen Forum Rede und Antwort stehen. Es ist eine bürokratische, abgehobene und elitäre stalinistische Clique vergleichbar der chinesischen oder vietnamesischen KP vor der Machtergreifung oder dem Sendero Luminoso in Peru, auch wenn sie um einiges rationaler und weniger sektenhaft wirkt als letztere Gruppierung.

Das heißt natürlich auch, daß ein Verrat der PKK und ein Arrangement mit der türkischen Regierung keineswegs aufgrund des politischen Charakters der PKK auszuschließen ist. Schon im Krieg gegen den Irak hatte die PKK keine anti-imperialistische Position, sondern eine defätistische auf beiden Seiten eingenommen. Auf oben genannter Kurdistankonferenz wurde auch ein "überraschendes Lösungspaket des PKK-Generalsekretärs Abdullah Öcalan" präsentiert, in dem er "die Bereitschaft zum Dialog mit dem türkischen Staat bekundet":

"1. Wir sind offen für alle Lösungsvorschläge und mögliche Schritte, die von Regierungen und internationalen Organisation unternommen werden.

2. Wir erklären erneut unmißverständlich, daß wir nicht unbedingt für die Teilung der Türkei sind. Ich betone, daß die Propaganda, die in diese Richtung gemacht wird, nicht die Realität wiedergibt.

3. Ich möchte zum Ausdruck bringen, daß wir für einen Dialog bereitstehen, wenn in einem demokratischen Rahmen und auf Basis des Selbstbestimmungsrechtes unseres Volkes Beschlüsse gefaßt werden. Für konkrete Lösungsvorschläge sind wir immer offen gewesen und haben uns nie davor gesperrt. Deshalb sind wir bereit für die Diskussion aller Alternativen, auch der Föderation.

4. Wir werden uns nicht davor scheuen, auf einen beiderseitigen Waffenstillstand und Gespräche über Lösungsalternativen einzugehen, wenn diese unter internationaler Beobachtung stattfinden. Wir werden kein Hindernis darstellen.

5. Das wichtigste ist jedoch, daß ich jetzt schon zusichern will, daß wir alle Beschlüsse der Konferenz über Lösungsmöglichkeiten akzeptieren werden. Wenn die Grundlage für eine politische Lösung und freie politische Aktivitäten gegeben ist, werden wir ebenso Schritte zu einer Beendigung des bewaffneten Kampfes unternehmen."

Ein bemerkenswertes Angebot für den mit allen Weihen des Personenkults inthronisierte Führer einer "revolutionären Partei". Es ist natürlich möglich, das ganze wie der bayerische Verfassungsschutz als Trick eines "Terroristen" abzutun. Doch das ist Unfug. Es spiegelt vielmehr den politischen Charakter der PKK wider. Es zeigt, daß die PKK kein Garant der permanenten Revolution in Kurdistan, sondern ihr Totengräber ist.

Natürlich, sie kämpft, sie wird verfolgt. Doch der Heroismus der Kämpfer, so bewundernswert er für sich ist, bestimmt nicht den politischen Charakter einer Partei. Wenn wir dieses Kriterium anwenden würden, so wären auch die KP im spanischen Bürgerkrieg und die internationalen Brigaden usw. "revolutionäre Kräfte" gewesen. Es gibt keine "unbewußten" Revolutionäre, keine proletarisch-revolutionären Führungen wider Willen und ohne Bewußtsein davon.

Selbst die zentristische POUM, die, wir denken darauf können wir uns einigen, Trotzki und der ILO tausendmal näher stand als die PKK, wurde von Trotzki nicht als "revolutionäre Kraft", sondern als zentristisches Hindernis, ja in einer bestimmten Phase als "Haupthindernis" für die spanische Revolution bezeichnet. Natürlich hat das nichts an der Solidarität mit der POUM gegen die Faschisten wie auch gegen die Verfolgung durch die Republik, die Sozialdemokraten und Stalinisten geändert. Aber diese Solidarität darf in keinem Moment die Tatsache vergessen machen, daß eine reformistische oder zentristische politische Partei, wie bedrängt sie vom Staat auch immer sein mag, niemals ein Ersatz für die proletarische Avantgardepartei sein kann, daß Revolutionäre niemals auf die Kritik an der Halbherzigkeit, an den Schwankungen und am (drohenden) Verrat durch diese Kräfte verzichten dürfen. Alles andere heißt, diesen Kräften selbst ein revolutionäres Deckmäntelchen umzuhängen, das der Realität nicht entspricht und die Avantgarde (oder Elemente davon) nur verwirren kann.

Wir wollen es hierbei belassen.

Wir denken jedoch, daß die bisherigen Differenzen eine wichtige Gemeinsamkeit haben, nämlich die des Verhältnisses zwischen der revolutionären Partei und anderen Strömungen innerhalb der Arbeiterklasse. Das spiegelt sich unserer Meinung nach in zwei Punkten wider. Erstens darin, daß Ihr oft nicht-proletarischen Organisationen des Etikett "revolutionär" umhängt. Zweitens in einer Unterbewertung des Programms und seiner Rolle für den Aufbau einer Partei zugunsten relativ allgemeiner und abstrakter Gegenüberstellungen.

Diese beiden Themen wollen wir in einem weiteren Brief detaillierter behandeln. Wir freuen uns jedenfalls schon auf eine Antwort auf unserer Schreiben. Auch wenn der Ton mitunter recht scharf gehalten ist, so denken wir, daß es besser ist, inhaltliche Differenzen zuzuspitzen, statt sie mit allgemeinen Erwägungen über Prinzipien, unter denen sich jeder vorstellen kann, was er will, zuzudecken.

Mit kommunistischen Grüßen
Gruppe Arbeitermacht
März 1995

 

 

 

Korrospondenz zwischen den Leitungen von GAM und RSB

 

Brief der GAM an den RSB vom 7.12.1994

Im Oktober 1994 hat sich die Gruppe Revolutionär Sozialistischer Bund (RSB) konstituiert. Wir haben erfahren, daß die ehemalige Spartacus-Gruppe, die ja einer anderen politischen Tradition entstammt als die große Mehrheit des RSB, in die Organisation aufgenommen worden ist und dort sogar Fraktionsstatus genießt.

Seit kurzer Zeit hat sich unser Kontakt zu Euch wieder intensiviert. U.a. führten wir informelle Gespräche mit einem leitenden Genossen aus Hamburg, mit Genossen aus Berlin, München und Paderborn, in denen wir unsere Bereitschaft zum Beitritt bekundeten. Wir teilen die generelle Zielsetzung des RSB, Kräfte zu sammeln, um die revolutionären Herausforderungen bestehen zu können und sich auch international zu organisieren. Unserer Einschätzung nach ist gerade in Deutschland die Herausbildung einer schlagkräftigen revolutionären trotzkistischen Organisation von eminenter Bedeutung (vergl. dazu Arbeitermacht 37, "Ein Aktionsprogramm für Deutschland"). Im Rahmen eines Bundes, der für diese Ziele eintritt und auch bereit ist, neue Kräfte und Strömungen aufzunehmen, könnten wir uns eine konstruktive Mitarbeit vorstellen. Wir betrachten Eure Organisationsneugründung als Gelegenheit, sowohl über unterschiedliche Auffassungen von revolutionärer Praxis und kommunistischer Programmatik innerhalb des RSB zu diskutieren wie auch gemeinsam diese Organisation in praktischen Kampagnen aufzubauen. Wenn Ihr meint, daß ungeachtet mannigfaltiger politischer Differenzen alle sich auf den Trotzkismus berufenden Strömungen in einer Organisation zusammengefaßt werden sollen, um praktisch wirksame revolutionäre Politik umsetzen zu können, so wollen wir in freier innerorganisatorischer Konkurrenz mit anderen Strömungen unsere Meinung und Vorschläge dafür darlegen und von Euren Genossen prüfen lassen können. Es gibt unseres Erachtens keinen Grund, uns aus diesem Neuformierungs- und Klärungsprozeß herauszuhalten!

Über zwei Jahre sind nunmehr vergangen, seit sich ein großer Teil aus der Vereinigten Sozialistischen Partei herausgelöst hat und im folgenden mit anderen Einzelgruppen und Individuen zunächst eine eigenständige Organisation, die AGRS und dann die Gruppe Avanti, gegründet hat. Mitglieder der Gruppe Arbeitermacht haben sich bereits damals am Diskussionsprozeß beteiligt und auch auf Ortsebene (Bremen) der Gruppe Avanti eine konkrete enge Zusammenarbeit inkl. eines Angebots auf Eintritt angetragen, was jedoch zu diesem Zeitpunkt von Euch abgelehnt worden ist.

Natürlich wollen wir nicht verhehlen, daß wir in Bezug auf einige unserer Meinung nach Wesensfragen des Politikverständnisses und der Methode eine grundsätzlich andere Konzeption vertreten als das VS und vielleicht die Mehrheit des RSB. Differenzen bestehen unserer Erachtens in der Haltung und Einschätzung zum Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale, im Parteiaufbauverständnis sowie in Charakterisierung und Umgang mit dem Reformismus, um nur die Kardinalfragen zu nennen. Auch sehen wir Unterschiede im systematischen Herangehen an die Bewertung von Differenzen, die wir analytisch auf ihre Ursachen zurückführen wollen. Ein besonderer Punkt ist zweifellos die Geschichte der VSP. Bereits deren prinzipienlose Entstehung wurde von der Gruppe Arbeitermacht kritisiert (siehe AM Journal Nr. 8, Winter 1987/88 mit unserer Stellungnahme in der Anlage).

Trotz all dieser ungeklärten Differenzen gibt es für uns keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund, dem RSB beitreten zu können, unter der Voraussetzung, daß wir dort offen für unser Programm und unsere methodischen Vorstellungen eintreten können.

Dieses Angebot unseres Beitritts würde folgendes bedeuten:

• wir verkaufen das publikatorische Material des RSB,

• wir würden Mitglieder für den RSB zu werben versuchen,

• wir würden uns nach besten Kräften an der Interventionspraxis (Außenkampagnen) des RSB beteiligen,

• wir würden auch bei Differenzen die offiziellen Positionen des RSB nach außen vertreten,

• wir sichern absolute Loyalität bei der Durchführung von Beschlüssen des RSB zu,

• wir beharren aber darauf, stets die volle Freiheit der Kritik innerhalb des RSB zu erhalten, d.h. auch passiven und aktiven Zugang zu den internen Veröffentlichungen,

• wir wollen weiterhin Artikel im Revolutionären Marxismus veröffentlichen dürfen.

• wir wollen unsere Beziehungen zur Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, der wir bislang als deutsche Sektion angehört haben, nicht abreißen lassen.

Wir fordern alle Genossen und Genossinnen des RSB auf, unser Beitrittsgesuch zu unterstützen. Einem möglichen Einwand gegen unseren Beitritt möchten wir gleich mit dem Hinweis begegnen, daß für uns zwar Theorie- und Propagandaarbeit einen zentralen Stellenwert hat, wir in der Vergangenheit die Fähigkeit zur politischen Praxis aber schon bewiesen haben (z.B. Mitarbeit bei Jugend gegen Rassismus in Europa, Berliner Kritische Gewerkschafter u.ä., o.a. Angebote an Euch und Teilnahme an Avanti-Gründungsdiskussion, Komitees gegen Golfintervention der imperialistischen Alliierten, PDS-Entrismus).

Wir möchten vorschlagen, daß wir zur Frage unseres Eintretens in den RSB zu einer Zusammenkunft Eurer Leitung eingeladen werden. Wir hoffen auf eine rasche und positive Antwort bis zum 6.1.1995. Am 7.1.1995 haben wir nämlich eine nationale Mitgliederversammlung. Falls bis dahin Eure Leitung oder ein anderes Entscheidungsgremium noch keine Entscheidung gefällt hat, bitten wir wenigstens bis zu o.a. Termin um einen Telefonanruf, daß und wann Ihr unseren Antrag diskutieren und entscheiden wollt. Eine ausbleibende Reaktion bis dahin müßten wir als Desinteresse Eurer Führung an unseren Vorschlägen werten!

Mit solidarischen Grüßen
i.A. der Mitgliedschaft der Gruppe Arbeitermacht

 

Brief des Politischen Sekretariats des RSB vom 20.2.1995

Nachdem am 29.1. in Hamburg ein Gespräch zwischen einem Leitungsmitglied des RSB und Vertretern der GAM stattgefunden hatte, übermittelte das Politische Sekretariat des RSB seine Entscheidung.

 

Liebe Genossinnen und Genossen,

der Eintritt in eine politische Organisation ist nur sinnvoll, wenn eine weitgehende Übereinstimmung in der Programmatik, im politischen Selbstverständnis und in den aktuellen Aufgaben besteht. Zwischen uns und Euch gibt es in allen diesen Fragen so große Differenzen, daß eine getrennte Organisierung konsequent ist.

Wir verstehen den RSB als Beitrag zum Aufbau der 4. Internationale, die von Euch grundsätzlich abgelehnt wird. Ihr wollt zwar aus Eurem internationalen Zusammenhang formal ausscheiden, aber weiter in seinem Sinne durch Publikationen und Diskussionen tätig bleiben. Das wäre mit einer loyalen Mitgliedschaft im RSB nicht zu vereinbaren.

Wir schlagen Euch statt dessen eine solidarische Zusammenarbeit vor.

Mit revolutionärem Gruß
H.J.S.

 

Brief der GAM an die Leitung des RSB vom 17.3.1995

Liebe Genossinnen und Genossen,

mit Bedauern und Verwunderung haben wir den Brief Eures Politischen Sekretariats vom 20.2.1995 gelesen.

Mit Bedauern, da wir meinten und meinen, daß die Zusammenarbeit und Diskussion zwischen unserer Organisation und RSB-Ortsgruppen bisher für beide Seiten positive Resultate zeigte. Das betrifft vor allem unsere Arbeit mit der und in der Berliner Ortsgruppe des RSB, wo wir seit Herbst 1994 regelmäßig an den Diskussionen teilnehmen und z.B. gemeinsam bei der Karl und Rosa-Demo im Januar intervenierten. Aber auch mit der Münchner Ortsgruppe führten wir nicht nur interessante politische Diskussionen. So organisierte sie eine Veranstaltung mit einem Sprecher der österreichischen Gruppe ArbeiterInnenstandpunkt (ASt) zum Thema "Haider, Rechtsradikalismus und Faschismus in Österreich", wie auch die Salzburger Ortsgruppe des ASt eine Veranstaltung zum Befreiungskampf in Kurdistan mit Max Brym von der Münchner OG des RSB durchführte. Sicherlich sind das nur wenige Beispiele, doch sie zeigen, daß eine erfolgreiche gemeinsame praktische Arbeit trotz politischer Differenzen zwischen unseren Organisationen möglich ist, ja schon stattfindet.

Mit Verwunderung nehmen wir Eure Begründung zur Kenntnis, so daß wir hier doch ein Stück länger verweilen wollen - nicht zuletzt in der Absicht, Euch zum Überdenken Eurer Entscheidung aufzufordern und die Sache noch einmal zu diskutieren. Wir denken, daß es das wert ist, ist doch der RSB selbst damit angetreten, nicht bloß ein Sammelbecken von VS-Mitgliedern zu sein, sondern ein Mittel zur Umgruppierung breiterer Teile der deutschen Linken auf der Basis des revolutionären Marxismus.

Eigentlich werden in dem kurzen Antwortbrief drei Argumente verwendet, unseren Beitritt abzulehnen und statt dessen eine "solidarische Zusammenarbeit" - was immer das genau sei - anzubieten. Erstens gäbe es zur Programmatik, zum politischen Selbstverständnis und zu den aktuellen Aufgaben so "große Differenzen, daß eine getrennte Organisierung konsequent ist". Zweitens würden wir die Vierte Internationale "grundsätzlich ablehnen", während sich der RSB als Beitrag zum Aufbau eben dieser verstünde. Drittens wäre eine loyale Mitgliedschaft im RSB nicht möglich.

 

1. Zu den Differenzen bezüglich Programm, politischem Selbstverständnis und aktuellen Aufgaben.

Wir wollen keineswegs verhehlen, daß wir programmatische Differenzen zum RSB wie auch zum Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale haben. Doch sei uns die Frage erlaubt, worin das gemeinsame programmatische Verständnis des RSB heute besteht? Soweit wir sehen, hat der RSB selbst kein gemeinsames Programm. Die Bandbreite der politischen Meinung unter den Mitgliedern des RSB variiert sehr stark.

Zweitens würden wir gern eine Klärung des offenkundigen Widerspruchs hören, daß es einerseits, wie noch bei Gründung des RSB vertreten, prinzipienfest gewesen sei, mit der maoistischen KPD zur VSP zu fusionieren, während mit der GAM solche Differenzen bestünden, daß "eine getrennte Organisierung konsequent ist".

Wir denken, daß die Gründung des RSB selbst Teil einer notwendigen Umgruppierung in der deutschen Linken ist, in der die meisten entweder in die politische Anpassung an die PDS (oder eine andere reformistische Organisation) oder weg von der Arbeiterklasse wandern. Der RSB unterscheidet sich von diesem Weg in den Opportunismus und/oder das Sektierertum dadurch positiv, daß er eine Organisation in der Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung schaffen und aufbauen will.

Zurecht anerkennt Ihr, daß eine solche Organisation auf einem Programm basieren muß, das auf der Methode des Übergangsprogramms von 1938 fußt. Der RSB hat kein solches Programm. Es ist jedoch notwendig, um in den aktuellen und kommenden Klassenkämpfen konsequent zu intervenieren und im besten leninschen Sinn revolutionäres Klassenbewußtsein in das Proletariat tragen zu können. Ein solches Programm sollte kein Katalog von Prinzipien sein, sondern muß eine Verbindung zwischen den aktuellen Aufgaben, dem Bewußtsein der Arbeiterklasse und unserem strategischen Ziel, der Machtergreifung des Proletariats in Deutschland und international, weisen. Es müßte von einer Analyse der internationalen Lage, ihrer Auswirkungen auf Deutschland, den davon abzuleitenden strategischen Problemen und Zielen des deutschen Imperialismus und den für die Bourgeoisie notwendigen Angriffen auf das Proletariat ausgehen. Es müßte zeigen, wie diese Angriffe abgewehrt werden können, warum dazu die deutsche Arbeiterbewegung reorganisiert werden muß und wie das Revolutionäre machen können. Es müßte ein klares Bild von der objektiven Lage geben und gleichzeitig zeigen, mit welchen Forderungen Revolutionäre darin intervenieren müssen, um die fortgeschrittensten Arbeiter und Intellektuellen zu gewinnen.

Wir denken zu diesem notwendigen Diskussionsprozeß einen wichtigen Beitrag leisten zu können. Soweit wir wissen, plant der RSB, in den kommenden Monaten eine Programmdebatte zu führen. Warum sollten wir daher nicht konkret versuchen, ob eine solche Debatte, gemeinsam geplant und durchgeführt, nicht zu einem brauchbaren Ergebnis führen kann?

An dieser Stelle wollen wir auch die Frage des Organisationsverständnisses anschneiden. Vielleicht denken manche Genossen, daß wir zwar gern über Programme und theoretische, strategische und taktische Probleme am grünen Tisch palavern und schreiben, vor Ort aber praktische Enthaltsamkeit predigen. Wir denken, daß das nur aus einer mangelnden Kenntnis unserer bisherigen Praxis stammen kann. So haben wir beispielsweise Anfang der 1990er Jahre einen Entrismus in die PDS durchgeführt. Ihr mögt vielleicht nicht mit jedem taktischen Schritt, den wir damals unternommen haben übereinstimmen, ja überhaupt die damalige Taktik ablehnen - in jedem Fall widerspricht der Entrismus in die PDS jedoch der These von unserer "praktischen Enthaltsamkeit". Dasselbe gilt für die Aktivitäten vor allem unserer Bremer Genossen im ÖTV-Streik 1992 und die Intervention der GAM in den Aufbau der JRE in den Jahren 1993 und 1994.

Wenn wir in der Vergangenheit immer wieder behaupteten, daß sich heute Organisationen von der Größe der GAM (aber auch des RSB, wie praktisch aller Gruppen der "extremen Linken") in einem bestimmten Stadium des Parteiaufbaus, dem einer "kämpfenden Propagandagruppe" befänden, so haben wir damit nie gemeint, daß ihre alleinige und ausschließliche Aufgabe in der Propaganda bestünde. Im Gegenteil, wir haben solche Sekten wie die MG, aber auch die SpAD und ihre Abfallprodukte, für die der Klassenkampf im wesentlichen eine literarische und denunziatorische Übung ist, abgelehnt. Wir haben immer die Auffassung vertreten, daß ein Element einer solchen kämpfende Propangandagruppe in der zielgerichteten, exemplarischen Intervention in den Klassenkampf liegen muß, sei das nun in den Betrieben, in einer reformistische Massenpartei, im antifaschistischen und antirassistischen Kampf, an den Schulen und Unis, in eine (beginnende) Jugendradikalisierung oder in der Solidarität mit anti-imperialistischen Befreiungskämpfen. Wir haben "nur" darauf bestanden, daß sie auf einer festen theoretischen und programmatischen Grundlage erfolgen soll oder diese im Prozeß der Intervention entwickelt werden muß.

Mit dem Konzept der kämpfenden Propagandagruppe ist freilich auch eine weitere Überlegung verbunden. Wir gehen davon aus, daß sich kleine, von der Masse der Arbeiter relativ isolierte Gruppen im ersten Stadium ihrer Entwicklung zumeist nicht direkt an die Massen werden wenden können, sondern vor allem versuchen müssen, die Avantgarde oder Avantgardeelemente der Arbeiterbewegung und die besten Teile der Linken für ihre Perspektive und ihre Politik zu gewinnen, sie zu Kadern zu erziehen, die dieses Programm in größere Teile der Klasse tragen können.

Was die aktuellen Aufgaben betrifft, die wir anders als der RSB sehen würden, so ist diese Aussage für uns am rätselhaftesten. Beim Gespräch zwischen unseren Vertretern und Hans Jürgen Schulz schien es uns vielmehr so, daß über zentrale nächste Aufgaben - die Notwendigkeit der Jugendarbeit und des Aufbaus einer revolutionären Betriebs- und Gewerkschaftsopposition - Übereinstimmung bestehe. Hinzu kommt, daß wir uns auch darin einig waren, daß heute kein überhasteter Eintritt in die PDS im Osten gemacht werden solle.

Wir haben diesen Punkt etwas ausführlicher gestaltet, da wir denken, daß es für Genossen des RSB, die uns nicht kennen, sinnvoll ist, unserer Herangehensweise zu diesen Fragen kennenzulernen. Wir denken jedenfalls, daß unsere programmatischen Differenzen nicht so groß sind, daß sie den Eintritt in Eure Organisation verwehren - zumal ihr selbst gerade in einer Programmdebatte steckt. Vielmehr würden wir gerne wissen, welche konkreten programmatischen Fragen, welche politischen Positionen es sind, die unseren Eintritt unmöglich machen.

 

2. Die Haltung zur IV. Internationale

Die einzige Position, von der das Schreiben des Politischen Sekretariats des RSB konkret spricht, betrifft die Haltung zur IV. Internationale. Auch wenn weiter oben keine konkrete programmatische Differenz benannt wird, auch wenn es im RSB und auch im Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale zahlreiche grundlegende programmatische Debatten gibt, so bleibt als einzig konkreter Beleg, warum wir von all diesen Dingen wie durch eine Mauer getrennt sein müssen: "unsere Haltung zur IV. Internationale".

Dieser Punkt ist angesichts der Geschichte und Praxis des VS seltsam. Schließlich wurde bei der Fusion mit der KPD auch nicht auf "unsere Haltung zur IV. Internationale" gepocht. Wie wichtig ist dieser Punkt wirklich, wenn sich andere europäische Sektionen in grünen oder Anti-EU-Parteien auflösen? Wie wichtig ist das beispielsweise bei der Fusion mit der morenoistischen SLT-Strömung? Worin besteht die Gemeinsamkeit zur "Haltung zur IV. Internationale" dabei inhaltlich?

Wie wenig die Formel "eine gemeinsame Haltung zur IV. Internationale" bedeuten kann, zeigt sich nicht zuletzt in Deutschland. Nicht nur, daß einige Genossen, die die Gründung des RSB nicht mitmachten, nach wie vor im Vereinigten Sekretariat sind und alles andere als einen "Beitrag zum Aufbau des RSB" leisten wollen - sie, nicht Ihr, werden gleichzeitig von anderen Sektionen des VS als "unser Parlamentsabgeordneter", als richtungsweisende Trendsetter hochgelobt. Hand aufs Herz, unter "gemeinsamer Haltung zur IV. Internationale" kann alles und nichts verstanden werden. In Wirklichkeit dient diese Formel zum Verdecken einer nicht oder nur oberflächlich existenten programmatischen Übereinstimmung, indem statt dessen die "gemeinsame Tradition" beschworen wird.

Doch abgesehen davon, stellt der Brief des Politischen Sekretariats unsere Haltung zur IV. Internationale falsch dar. Es ist nicht der Fall, daß wir den Aufbau der IV. Internationale "grundsätzlich" ablehnen. Was wir ablehnen, ist der Aufbau der IV. Internationale auf einem nicht-revolutionären Programm.

Unserer Meinung nach repräsentiert keine der existierenden, miteinander konkurrierenden Vierten Internationalen ein grundsätzliches mehr oder weniger an revolutionärer Korrektheit. Sie erwiesen sich seit dem Ende der 40er/Anfang der 50er Jahre als unfähig, das Programm des Trotzkismus zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Sie sind zu zentristischen Strömungen geworden. Die spezifische Form des Zentrismus des Vereinigten Sekretariats bestand unserer Auffassung nach darin, sich immer wieder gerade auftauchenden "Ersatzavantgarden" anzupassen (als aktuelles Beispiele seinen die PT in Brasilien, Sandinisten in den 80er Jahren, davon Castro und Guerillastrategie, die Grünen in den 80er Jahren, die Studentenbewegung, diverse Abspaltungen/Fraktionen der KPF oder der SP in Frankreich) genannt. Diese wurden zu im wahrsten Sinne des Wortes "unbewußten" Agenten der Weltrevolution hochstilisiert, die es nur nach links zu treiben gelte, während das eigene Programm und der Aufbau einer Partei auf dieser Basis in den Hintergrund trat.

Das ist ein Grund, warum für uns die Frage der Wiedererarbeitung des Programms so zentral ist. Nur auf der Basis eines revolutionären Übergangsprogramms kann eine neue revolutionäre Internationale entstehen. Die internationale Tendenz, aus der wir kommen, beansprucht zwar mit dem "Trotzkistischen Manifest" die Grundlagen eines solchen Programms erarbeitet zu haben, nicht jedoch schon heute eine neue - egal ob nun IV., V. oder sonstwie numerierte - Internationale zu sein. Daher nennt sich die LRKI ja auch Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, nicht "revolutionär-kommunistische Internationale". Für uns dient das Programm u.a. als Mittel, die zweifellos existierenden subjektiv revolutionären Kämpfern in den verschiedenen Vierten anzusprechen, mit ihnen in einen Dialog zu treten.

Ihr werdet wahrscheinlich mit dieser Charakterisierung der Fragmente von Trotzkis Vierter Internationale, besonders des VS, nicht übereinstimmen. Doch wir fordern Euch auf, Euch zu fragen, worin Eure gemeinsame positive Auffassung des heutigen Vereinigten Sekretariats in programmatischer, strategischer und taktischer Hinsicht besteht. Worin erweist sich der revolutionäre Charakter des VS praktisch? Wie läßt sich die momentane politische und organisatorische Krise des VS erklären? Worin besteht ein politischer Ausweg aus Ihr? Oder gibt es gar keine Krise? Waren alles nur Fehler, Pech, persönliche oder organisatorische Unzulänglichkeiten? Wenn ja, warum gibt es sie so lange?

Ihr mögt diesen Fragen ausweichen, die kleine GAM verächtlich beiseite schieben. Doch die Fragen, die wir hier stellen, werden deshalb nicht verschwinden. Die Entwicklung selbst wirft sie auf. Ihr werdet sie Euch stellen müssen, wenn ihr eine revolutionäre IV. Internationale aufbauen wollt. Wie immer ein Genosse oder eine Genossin zum Vereinigten Sekretariat stehen mag, es ist unübersehbar, daß es nicht mehr so weitergehen kann. Der kommende Weltkongreß wird diese Tatsache wieder einmal deutlich vor Augen führen. Das ist keine Erfindung der GAM, sondern wird selbst von Mitgliedern des VS offen vertreten - wie z.B. Genossen aus der britischen ISG oder von der US-amerikanischen Gruppe "Socialist Action".

 

3. Ist eine loyale Zusammenarbeit im RSB mit unseren Vorstellungen vereinbar?

Im Brief stellt das Politische Sekretariat fest: "Ihr wollt zwar aus Eurem internationalen Zusammenhang formal ausscheiden, aber weiter in seinem Sinne durch Publikationen und Diskussionen tätig bleiben. Das wäre mit einer loyalen Mitgliedschaft im RSB nicht zu vereinen."

Im Brief an den RSB vom 7.12.1994 haben wir schon festgestellt, daß wir bereit sind, uns der Organisationsdisziplin des RSB unterzuordnen: "Trotz all dieser ungeklärten Differenzen gibt es für uns keinen grundsätzlichen Hinderungsgrund, dem RSB beitreten zu können, unter der Voraussetzung, daß wir dort offen für unser Programm und unsere methodischen Vorstellungen eintreten dürfen.

Dieses Angebot unseres Beitritts würde folgendes bedeuten:

• wir verkaufen das publikatorische Material des RSB

• wir würden Mitglieder für den RSB zu werben versuchen,

• wir würden uns nach besten Kräften an der Interventionspraxis (Außenkampagnen) des RSB beteiligen,

• wir würden auch bei Differenzen die offiziellen Positionen des RSB nach außen vertreten,

• wir sichern absolute Loyalität bei der Durchführung von Beschlüssen des RSB zu;

• wir beharren aber darauf, stets volle Freiheit der Kritik innerhalb des RSB zu erhalten, d.h. auch passiven und aktiven Zugang zu internen Veröffentlichungen,

• wir wollen weiterhin Artikel im RM veröffentlichen dürfen,

• wir wollen unsere Beziehungen zur Liga für eine revolutionär-kommunistische Internationale, der wir bislang als deutsche Sektion angehört haben, nicht abreißen lassen."

Diese Worte waren nicht einfach hingesagt oder hingeschrieben. Wir meinen sie auch so. Wir wären als Mitglieder des RSB bereit, uns der vollen Organisationsdisziplin unterzuordnen, die Mehrheitspositionen des RSB nach außen zu vertreten und zu verteidigen, die Publikationen zu verkaufen und Mitglieder auf der Basis dieser Positionen zu gewinnen versuchen. Die einzige Bedingung, die wir stellen, ist die, daß wir im RSB so wie jedes andere Mitglied das Recht beanspruchen, unsere Positionen intern zu vertreten, in dem Ausmaß, das anderen Mitgliedern auch zusteht, im Internen Bulletin zu veröffentlichen usw. Das heißt, wir würden das Eintreten für unsere Positionen auf das Innenleben des RSB beschränken und denken, daß alles andere einem Disziplinbruch gleichkäme. Was das Vertreiben von theoretischen Organen und internationalen Publikationen der LRKI betrifft, so würden wir das zwar gerne weiter tun, würden jedoch eine etwaige abschlägige Entscheidung des RSB akzeptieren und uns daran halten.

Ein solches Vorgehen entspricht unserem Verständnis vom demokratischen Zentralismus. Die "Schlußfolgerung" des Politischen Sekretariats, daß mit unseren Differenzen eine loyale Mitgliedschaft im RSB nicht möglich wäre, fußt vielmehr auf dem im VS und teilweise wohl auch im RSB praktizierten Umgang mit dem demokratischen Zentralismus, wo es immer wieder vorkommt, daß Minderheiten ihre Positionen auch öffentlich gegen die Organisation vertreten. Das ist nicht unsere Methode. Wir denken, daß für die, die uns näher kennen, unser recht geschlossenes Auftreten nach außen ein Beleg ist. Es folgt genau aus der Anwendung dieser Methode, nicht daraus, daß es bei uns nie interne Differenzen gäbe oder gegeben hätte.

 

4. Warum wollen wir überhaupt in den RSB eintreten?

Wir denken, daß die gegenwärtige politische und ökonomische Umbruchperiode in Deutschland eine Neugruppierung der Linken erforderlich und möglich macht. Der RSB versteht sich als aktiver Teil in diesem Prozeß und ist unserer Einschätzung nach trotz all seiner Schwächen das interessanteste Projekt, das es heute gibt. Es wäre natürlich gelogen, wenn wir sagen würden, daß wir deswegen unsere Kritik am VS international oder wenigstens in Deutschland zurückziehen würden.

Doch neue Zeiten erfordern auch neue Taten. Wir sind davon überzeugt, daß die Fragen, die uns zur Kritik am VS bringen (aber natürlich auch eine Vielzahl anderer), von Revolutionären so oder so angegangen werden müssen. Wir glauben, daß wir trotz unserer geringen Größe politisches, programmatisches und theoretisches Kapital in den RSB einbringen können - Fähigkeiten, die sich beim Aufbau einer revolutionären Organisation in Deutschland auf fester programmatischer Grundlage als notwendig erweisen werden.

Wir ersuchen Euch unser Anliegen und diesen Brief noch einmal auf Leitungsebene zu diskutieren und stehen gerne für ein, hoffentlich baldiges, weiteres Gespräch zur Verfügung.

Mit solidarischen Grüßen
Gruppe Arbeitermacht

 

Brief der GAM an die Mitglieder des RSB vom 19.4.1995

Nachdem die Führung des RSB bis heute nicht auf obigen Brief der GAM reagierte, sondern nur nach einer Leitungssitzung in Berlin mitteilen ließ, daß sie zu einem Überdenken der Entscheidung des Politischen Sekretariats keine Veranlassung sehe, wandte sich die GAM mit folgendem Brief an die Mitgliedschaft des RSB.

 

Liebe Genossinnen und Genossen!

Seit nunmehr fünf Monaten haben wir uns bemüht, Anschluß an Eure neu gegründete Organisation, den "Revolutionär Sozialistischen Bund" (RSB), zu finden. Neben einigen Briefen zwischen unserer Organisation und dem Sekretariat des RSB sowie einem Gespräch zwischen Vertretern unserer Gruppe und Hans Jürgen Schulz gab es mit den Ortsgruppen in Berlin und München exemplarische Formen der Zusammenarbeit (Veranstaltungen, zur Karl und Rosa-Demo im Januar 1995, ...).

Doch das Sekretariat des RSB lehnte nicht nur unser Ansuchen auf Aufnahme ab, sondern wich auch jeder ausführlicheren, systematischen politischen Diskussion zwischen unserer Gruppe und der Führung des RSB zu Fragen der Basis eines Eintritts aus. So spricht das Sekretariat des RSB in seiner Antwort auf unseren Brief vom 7.12. zwar von programmatischen Differenzen, ohne diese jedoch inhaltlich irgendwie auszuführen. Wir würden nach wie vor gerne wissen, worin sie - abgesehen von der Zugehörigkeit zu einer anderen internationalen Organisation - in den Augen der RSB-Führung bestehen?

Es ist vor allem die Tatsache, daß es keine argumentierte inhaltliche Antwort auf unsere Schreiben und unsere politischen Positionen, die wir in verschiedenen Publikationen ausführlich dargelegt haben, gab, die uns dazu veranlaßt hat, uns mit einem Brief an die Mitglieder des RSB zu wenden. Wir wollen dabei einige zentrale Standpunkte unserer Gruppe, darunter unseres Programmverständnisses darlegen, um den Mitgliedern des RSB zu erlauben, sich selbst ein Bild über uns zu machen.

 

1. Was heißt programmatische Übereinstimmung?

Da wir nicht wissen, wie sehr und in welcher Form unsere Positionen durch die RSB-Führung der Mitgliedschaft bekannt gemacht wurden, wollen wir hier kurz auf zentrale Punkten unseres Programmverständnisses eingehen.

Für Trotzkisten und Trotzkistinnen ist es eine Binsenweisheit, daß eine politische Partei auf der Basis eines gemeinsamen Programms aufgebaut werden muß. Nur so, auf der Grundlage einer wissenschaftlichen politischen Methode, die in die Sprache von Strategie und Taktik übertragen wird, kann ihr Zusammenhalt garantiert werden. Nur so ist überhaupt erst ein wirklicher demokratischer Zentralismus in einer leninistischen Partei möglich.

Was macht das besondere eines revolutionären Programms, eines Programms auf der Basis der Übergangsmethode aus?

Ein solches Programm muß von der objektiven Lage ausgehen. Es muß herausarbeiten, worin die grundlegenden und entscheidenden Klassenauseinandersetzungen in der kommenden Periode bestehen werden und für welches Programm, für welche Forderungen, Organisationsformen usw. das Proletariat - und das heißt zuallererst seine Avantgarde - gewonnen werden muß, um seine Klassenziele durchsetzen zu können. Ein solches Programm muß eine Antwort auf die Krise der proletarischen Führung geben. Das Programm ist für Trotzkisten und Trotzkistinnen eine Anleitung zum Handeln, kein Katalog ewiger Wahrheiten oder für ganze Epochen korrekter Prinzipien.

Es muß auf der Grundlage einer objektiven Analyse der Lage, der ökonomischen und sozialen Situation der Klassen, des ökonomischen und politischen Verhältnisses auf internationaler Ebene, des Verhältnisses zwischen den Klassen der Gesellschaft, ihren Organisationen und Führungen basieren und als eine Anleitung zum Handeln darlegen, wie eine Brücke zwischen den heutigen Kämpfen zur sozialistischen Revolution geschaffen werden kann.

Ein solches Programm hat der RSB nicht. Das sagten wir auch in unserem Brief vom 17.3.:

"Zurecht anerkennt Ihr, daß eine solche Organisation auf einem Programm basieren muß, das auf der Methode des Übergangsprogramms von 1938 fußt. Der RSB hat kein solches Programm. Es ist jedoch notwendig, um in den aktuellen und kommenden Klassenkämpfen konsequent zu intervenieren und im besten leninschen Sinn revolutionäres Klassenbewußtsein in das Proletariat tragen zu können."

Ein derartiges Programm fehlt unserer Meinung nach nicht nur dem RSB, sondern auch dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale insgesamt.

Ihr mögt nun erwidern, daß das nicht stimme. Die einen werden sagen: "Wir stehen auf dem Übergangsprogramm von 1938." Andere werden vielleicht erwidern, daß Ihr ein gemeinsames "trotzkistisches Grundverständnis" habt, die nächsten eventuell, daß z.B. das "programmatische Manifest der IV. Internationale" ein solches Programm darstellen würde. Gehen wir diese möglichen Einwände durch.

Natürlich war das Übergangsprogramm von 1938 revolutionär. Doch gerade, weil es eine Anleitung zum Handeln war, die eine Antwort auf die Aufgaben einer bestimmten Periode geben sollte und gab, erledigt sich mit dem Hinweis darauf, daß man "noch immer darauf stehe" für die Vereinheitlichung einer Kampforganisation in der Intervention in den Klassenkampf heute wenig. Auf dem Programm von 1938 stehen so unterschiedliche politische Gruppierungen wie die "Spartakist Arbeiterpartei", der "Bund Sozialistischer Arbeiter", die Lambertisten und einige Dutzend mehr, die sich in zentralen Ereignissen des Klassenkampfes der letzten Jahrzehnte auf verschiedenen Seiten der Barrikaden befanden (oder befunden hätten).

Der Grund liegt darin, daß das Programm von 1938 in den Händen dieser Gruppierungen zu einer Leerformel verkam, jedoch nicht den Bedürfnissen des Klassenkampfes angemessen weiterentwickelt wurde. Was schon für das Übergangsprogramm Trotzkis zutrifft, trifft noch vielmehr für den bloßen Bezug auf "Prinzipien" zu. Wenn wir die Geschichte der "Vierten Internationale(n)" nach dem Zweiten Weltkrieg betrachten, so waren diese ja nicht nur von zahlreichen Spaltungen, sondern auch von nicht viel weniger häufigen prinzipienlosen Fusionen geprägt. Diese waren regelmäßig mit Erklärungen über ein gemeinsames Bekenntnis zur permanenten Revolution, zur politischen Revolution, zum proletarischen Internationalismus, zum Aufbau proletarischer Avantgardeparteien und etlichen schönen Dingen mehr gespickt. Aber es mangelte erstens immer wieder an einer Bilanz der vorangegangenen politischen Entwicklung der jeweiligen Fusionspartner (insbesondere der Gründe, warum man bislang getrennte Organisationen hatte, welche politische Methode der unterschiedlichen Gruppierungen eigentlich korrekt war usw.). Zweitens wurde darauf verzichtet, die Tiefe der Vereinheitlichung daran zu überprüfen, wie sehr gemeinsame "Prinzipien" zu gemeinsamen programmatischen, strategischen und taktischen Schlußfolgerungen führten.

Was nun das "Programmatische Manifest der Vierten Internationale" betrifft, so hat dieses eben nicht den Charakter eines Programms, es ist kein System von Übergangsforderungen, das auf der Methode von Trotzkis Übergangsprogramm basiert. Es versucht, manche Schwierigkeiten beim Aufbau revolutionärer Organisationen zu erklären, und bekräftigt die Notwendigkeit einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Aber es zeigt nicht, wie die proletarische Avantgarde für den Kampf für den Sozialismus gewonnen werden kann - ganz abgesehen davon, wie diese den Rest der Klasse hinter sich scharren könnte, den Einfluß der Reformisten, Zentristen, kleinbürgerlichen und bürgerlichen Nationalisten wie aller nicht-proletarischer Ideologen und Ideologinnen in der Arbeiterklasse und unter ihren Verbündeten zerstören oder wenigstens zurückdrängen kann.

Für Eure internationale Strömung ist die Frage des Programms in Wirklichkeit zu einem zweitrangigen Problem geworden. Damit einhergehend ist auch die Frage des Kampfes um eine revolutionäre Führung der Klasse, d.h. des Aufbaus einer Partei auf einem solchen Programm, immer wieder verwässert und zugunsten von "Abschneidern" durch prinzipienlose Fusionen und des Aufgehens in allen möglichen "revolutionären Bewegungen" hintangestellt worden.

Das bringt u.a. auch der letzte Weltkongreß des VS von Februar 1991 zum Ausdruck. In der Resolution zu Lateinamerika heißt es:

"Unsere Organisationen haben in der lateinamerikanischen revolutionären Avantgarde einen Platz. Wir sind ein Teil von ihr; wir teilen viele ihrer Fehler, aber auch viele ihrer Vorzüge. Wir sind stolz darauf. Wir haben kein irgendwie geartetes Interesse an einer getrennten Existenz, einfach um eine bestimmte selbstproklamierte Vision zu bekräftigen. Wo es der Prozeß der Reorganisation der revolutionären Avantgarde möglich macht, sollte das die Priorität für unsere Aktivität und unser Wachstum sein. Die Vierte Internationale wurde für die Revolution geschaffen und alles soll diesem Ziel untergeordnet werden."

Doch worin besteht die "bestimmte selbstproklamierte Vision" für Trotzkisten? In ihrem Programm, in der Erkenntnis des Versagens der Stalinisten, Sozialdemokraten, Zentristen, Nationalisten usw., einen Ausweg für die Massen, einen Weg zur revolutionären Machtergreifung und zur Internationalisierung der Revolution zu weisen, und in der Notwendigkeit der Schaffung einer neuen revolutionären Führung. Revolutionäre Kommunisten und Kommunistinnen teilen eben nicht die Fehler der Sandinisten und sonstiger Ersatzavantgarden - oder sollten es wenigstens nicht tun. Schon gar nicht sollten sie "stolz" darauf sein. Sie müssen vielmehr mit den Fehlern dieser Kräfte brechen, ihre methodischen Ursachen aufdecken und bekämpfen. Nur so werden sie sie nicht wiederholen.

Daher besteht auch der in der Resolution dargestellte Gegensatz zwischen dem Aufbau der eigenen, auf einer bestimmten "Vision" gegründeten Partei und der sozialistischen Revolution nicht. Die Formel, daß alles der Revolution untergeordnet sei - so richtig sie für sich genommen ist -, dient nur dazu, den Verzicht auf den Aufbau der eigenen Internationale zu predigen. Natürlich haben Revolutionäre ein Interesse an einer eigenen Partei. Es ist ihr Ziel, eine solche aufzubauen, weil sie wissen, daß sie eine unerläßliche Bedingung für die siegreiche proletarische Revolution und die Schaffung eines revolutionären Arbeiterstaates ist. Für uns ist das eine Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen, nicht irgendeine "selbstproklamierte Vision".

Das heißt nicht, daß wir keine Taktiken der Zusammenarbeit mit anderen Parteien der Arbeiterklasse und der Unterdrückten suchen müssen. Das heißt nicht, daß wir nicht in solche Parteien sogar eintreten könnten, um die Massen von ihren Führern abzuspalten. Doch all das sind Taktiken, a) um die Einheit der Klasse im Kampf voranzutreiben und b) um das Proletariat und die Unterdrückten von der Unzulänglichkeit und dem Verrat ihrer jetzigen Führungen in der Praxis zu überzeugen und für die kommunistische Partei zu gewinnen.

Die Resolution des letzten Weltkongresses des VS lehnt diesen Weg nicht nur ab, sie hat auch eine sehr rosige Entwicklung der Sektionen in Lateinamerika für ihren "nicht-sektiererischen Weg" in Aussicht gestellt. Doch wie sieht diese Bilanz heute aus? Die mexikanische PRT, ehemals der Stolz des VS in Lateinamerika, ist praktisch von der Bildfläche verschwunden. Die brasilianische PT ist längst zu einer reformistischen Partei geworden (was sie im übrigen auch schon 1991 entgegen der Prognose des VS war).

Nicht nur auf den Aufbau der eigenen Partei, auch auf die Entwicklung eines eigenen Programms und dessen praktische Überprüfung wurde verzichtet. Selbst die "Prinzipien" blieben nicht unberührt. Die Strategie der Sandinisten in Nikaragua, die zu keinem Sturz des Kapitalismus führte, wurde als die einzig mögliche Strategie der Machtergreifung in einem solchen Land gefeiert. Die Strategie der permanenten Revolution wurde damit praktisch ad acta gelegt.

Eine ähnliche und nicht minder folgenschwere Anpassung an nicht-revolutionäre Strömungen und Ideologien wurde in Osteuropa und in der Sowjetunion gemacht. Leute wie Kuron und das KOR in Polen, wie Petr Uhl in der CSSR, Kargalitzky in der Sowjetunion wurden als "Revolutionäre" oder gar als Trotzkisten hofiert. Das VS ist 1981 mit der Losung "Solidarnosc an die Macht" aufgetreten, obwohl das Programm ihrer Führung auch schon damals auf die kapitalistische Restauration hinausgelaufen ist. Das heißt nicht, daß Revolutionäre nicht gegen den Putsch von Jaruzelski und die Zerschlagung von Solidarnosc auftreten hätten müssen. Sie hätten jedoch von Beginn an einen Kampf gegen die stalinistische Bürokratie und für die politische Revolution mit einem Kampf gegen die klerikalen, sozialdemokratischen und sonstigen bürgerlichen Strömungen in Solidarnosc und für den Aufbau einer eigenen trotzkistischen Arbeiterpartei verbinden müssen.

In Deutschland habt Ihr mit der VSP fusioniert und dabei grundlegende Fragen des Programms zugunsten der "Einheit der Revolutionäre" außen vorgelassen. Die Rechnung bekamt Ihr in der revolutionären Krise in der DDR und dem Sieg der Konterrevolution mit der kapitalistischen Wiedervereinigung präsentiert. Die VSP konnte darauf keine Antwort gegeben, nicht weil die KPDler zu "demoralisiert" gewesen wären, sondern weil von Beginn an überhaupt darauf verzichtet worden war, eine Position dazu zu entwickeln. Und daß die Frage der Einschätzung der DDR, des Sturzes des Bürokratie, der Wiedervereinigung usw. für die deutsche Revolution zentrale Fragen sind, war auch 1985 keine Neuigkeit. Es ist alles andere als ein Zufall, sondern das Resultat einer opportunistischen Politik der Vergangenheit, daß sich die VSP nicht als Mittel, sondern als Hindernis zur Intervention in der DDR entpuppte.

Nicht zuletzt führte diese Form "programmatischer Übereinstimmung" auch dazu, daß Mitglieder des VS in einem Land in den letzten Jahren immer wieder gegensätzliche Parteiaufbauprojekte verfolgten bzw. verfolgen. Wir denken dabei z.B. an jene Genossen und Genossinnen, die statt in die VSP zu gehen zu den Grünen gingen. Wir denken dabei an die recht eigentümliche Situation in den USA, in Ecuador oder Polen, wo zwei Organisationen konkurrieren - natürlich, um, nach dem Motto "doppelt hält besser", die "IV. Internationale aufzubauen". Wir denken dabei an Leute wie Moneta, Klein, Dubois usw., die die Gründung des RSB öffentlich denunzierten - und nebenbei Mitglieder oder Freunde der IV. Internationale zu sein beanspruchen und in den Zeitungen anderer Sektionen lobend hervorgestrichen werden. Offenkundig stehen auch sie auf dem "programmatischen" Boden des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale - mit dem feinen Unterschied freilich, öffentlich gegen den Aufbau des RSB aufzutreten. Und es sind in Deutschland diese Leute, auf die das VS setzt, nicht der RSB, der entgegen Eurer Hoffnungen wohl nicht als die Sektion des VS anerkannt werden wird.

Wir denken, daß es für die Genossinnen und Genossen im RSB an der Zeit ist, sich nach den politischen Gründen des Niedergangs der eigenen Internationale zu fragen. Wir haben dafür eine Erklärung und ein Interesse, diese mit Euch zu diskutieren.

 

2. Die Ursache der Krise des Vereinigten Sekretariats

Kurz gesagt, glauben wir, daß der Grund für die momentane Krise des VS schon in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt, als die Vierte Internationale (wie ihre späteren Spaltprodukte) nicht fähig war, das Programm des Trotzkismus zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Das zeigt sich an der Frage des tiefen Entrismus Pablos, aber insbesondere auch an der Position, die angesichts der Revolution zu Jugoslawien entwickelt wurde.

Trotzkis Übergangsprogramm basierte auf einer bestimmten Perspektive für die kommende Periode:

a) eine Welle des revolutionären Aufschwungs, insbesondere in imperialistischen Kernländern,

b) eine qualitative Transformation der IV. Internationale zu einer Kraft mit Masseneinfluß, die auf der Basis des Übergangsprogramms die Führung der Arbeiterklasse erringen würde,

c) mache die Todeskrise des Kapitalismus seine Überleben nur auf einer diktatorischen, (halb)faschistischen Basis möglich,

d) die Zerstörung der stalinistischen Bürokratie in der UdSSR durch die politische Revolution oder den siegreichen Imperialismus,

e) die Desintegration der traditionellen Führungen der Arbeiterklasse, des Stalinismus und Sozialdemokratie, da ihre materiellen Wurzeln mehr und mehr verschwinden würden.

Doch die Vierte Internationale ging nach dem Zweiten Weltkrieg nicht daran, eine neue Perspektive zu erarbeiten, sondern schrieb sie z.B. in der Resolution der internationalen Vorkonferenz vom April 1946 "Der neue imperialistische Friede und der Aufbau der Parteien der IV. Internationale" fort.

Doch wie auf der Ebene der Perspektive für einige Zeit ein Katastrophismus fortgeschrieben wurde, so gab es auf der Ebene des Programms und des Parteiaufbaus eine opportunistische Degeneration. Letztere ist es, worin wir den Bruch mit dem revolutionären Programm in der Vierten sehen. Dabei sind vor allem zwei Ereignisse herauszustreichen:

1. Die Anpassung an den Titoismus nach dem Bruch von Stalin und Tito.

So wurde die Errichtung des jugoslawischen degenerierten Arbeiterstaates fälschlicherweise mit einem Bruch Titos mit dem Stalinismus identifiziert, Tito und der Bund der Kommunisten Jugoslawiens zum Zusammenschluß mit der IV. Internationale aufgefordert:

"In Jugoslawien, dem ersten Land, in dem das Proletariat nach der Degeneration der UdSSR die Macht ergriffen hat, spielt der Stalinismus keine Rolle mehr in der Arbeiterbewegung."

"Wenn Stalinismus als Unterordnung der Interessen der Arbeiter eines beliebigen Landes unter die der Sowjetbürokratie definiert wird, dann ist die KPJ, die seit 1941 eine Politik verfolgte, die zu dem Bruch von 1948 führt, keine stalinistische Partei mehr im vollen Sinne des Wortes."

Die KPJ wurde aufgrund dessen, daß Stalinismus mit Unterordnung unter den Kreml gleichgesetzt wurde, als zentristische Organisation charakterisiert, deren Herrschaft nicht mehr politisch-revolutionär überwunden, sondern durch "brüderliche Kritik" auf den richtigen Kurs gebracht werden müsse:

"Nur eine Änderung des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, ein Aufschwung der revolutionären Weltbewegung, die Hilfe und brüderliche Kritik dieser Bewegung und ein wachsendes Verständnis seitens der Führer und Kader der KP, wird es ermöglichen, die Herausbildung falscher Positionen zu vermeiden, die zu einer Liquidierung der fortschrittlichen Effekte der jugoslawischen Affäre führen dürfte."

2. Die Lostrennung von Trotzkis Entrismuskonzeption zum sog. Entrismus sui generis.

Wenn die jugoslawische KP unter dem Druck der Ereignisse von der stalinistischen Spielart des Reformismus brechen konnte, so war es nur ein logischer nächster Schritt, das auch für andere KPen (und schlußendlich für Sozialdemokratische Parteien) anzunehmen:

"Die jugoslawische Affäre hat ebenso wie Verlauf und Sieg der chinesischen Revolution und wie die anderen heutigen Kolonialrevolutionen (Korea, Vietnam, Burma, Malaya, Philippinen) gezeigt, daß es den Kommunistischen Parteien unter bestimmten Umständen nach wie vor möglich ist, eine revolutionäre Orientierung zu skizzieren, d.h. sich gezwungen sehen, einen Kampf um die Macht zu führen."

Da die Ereignisse (d.h. die in der Sicht der damaligen Vierten noch andauernde revolutionäre Krise) die stalinistischen (und sozialdemokratischen) Parteien oder Teile davon ohnedies nach links zum Bruch mit dem Reformismus und unwillkürlich auf die Bahn der proletarischen Machtergreifung treiben würden, wurde der unversöhnliche Kampf gegen diese Tendenzen durch eine Politik der langfristigen, geduldigen Beratung abgelöst. Zahlreiche Sektionen traten in reformistische Massenparteien ein und lösten sich darin als sichtbare ideologische Strömung für Jahre, ja Jahrzehnte auf.

Das Problem des VS wie auch der anderen Strömungen, die sich auf den Trotzkismus berufen, besteht darin, daß trotz heftiger Kritik aneinander, diese zentristischen Fehler nicht korrigiert, sondern in immer neuen Formen wiederholt und teilweise mit neuen ergänzt wurden. So fungierten nach Tito und Mao Fidel Castro, Che Guevara, die lateinamerikanische Guerilla und die Sandinisten als neue Ersatzavantgarden. In Europa wurde die Studentenbewegung zu einer neuen Massenavantgarde hochstilisiert, um dann in manchen Ländern von einer Orientierung auf die Grünen und einer "Neuzusammensetzung der Revolutionäre" abgelöst zu werden.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wird diese Abkehr vom Trotzkismus vom VS in den Dokumenten zum kommenden Weltkongreß vertieft:

"Gewisse historische Bezüge zu den komplexen Scheidelinien und Spaltungen im Schoße der kommunistischen Bewegung der 30er Jahre werden relativ werden, überlassen einer Neubewertung der klassischen und grundlegenden Trennung zwischen Revolutionären und Reformisten den Platz."

Aus dem Zusammenbruch des Stalinismus und der weiteren Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie wird nicht die Notwendigkeit des revolutionären Programms, sondern, im Gegenteil, dessen Überholtheit gefolgert.

"Das 'Übergangsprogramm' ist direkt betroffen:

Wir befinden uns nicht in einer 'vorrevolutionären Periode der Agitation, der Propaganda und der Organisierung', sondern in einer nicht-revolutionären Periode weitgehender politischer Ohnmacht, in der den Kämpfen der Massen adäquate politische und organisatorische Mittel fehlen, in der sie keine Gesamtperspektive und keine Hoffnung haben, die gegenwärtige Gesellschaft grundlegend ändern zu können;

Wie soll es somit möglich sein, 'die Brücke' zu errichten, die von den 'aktuellen Bedingungen und dem aktuellen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse' ausgeht - und was für Bedingungen sind das -, und sie davon überzeugen, daß ihre 'einzige Schlußfolgerung sein muß: die Eroberung der Macht durch das Proletariat' (Trotzki, 1938)?"

Der Autor dieser Passagen übersieht freilich, daß den Massen auch 1938 - und erst recht während des Zweiten Weltkrieges Ð "adäquate politische und organisatorische Mittel" fehlten. Die ganze Crux des Übergangsprogramms besteht ja darin, daß es von der Unreife der subjektiven Voraussetzungen der Revolution ausgeht und einen Weg zur Überwindung ebendieser skizziert. Gerade dazu gilt es, ein revolutionäres Aktionsprogramm zu entwickeln, damit zu intervenieren und darum die Partei aufzubauen. Doch statt sich dieser Aufgabe zu stellen, wird uns der Rat erteilt, die "klassische und grundlegende Trennung zwischen Revolutionären und Reformisten" neu zu bewerten. Genossinnen und Genossen, das ist kein Ausweg aus der Krise der IV. Internationale, sondern der Auftakt zur endgültigen Liquidation selbst von existierenden Prinzipien und organisatorischen Strukturen.

Unserer Auffassung nach ist es nicht möglich, eine revolutionäre IV. (oder sonstwie numerierte) Internationale zu schaffen, ohne mit diesen programmatischen Fehlern in der Vergangenheit und Gegenwart zu brechen. Wir lehnen daher, wie wir schon in unserem Brief an das Sekretariat des RSB schrieben, den Aufbau der IV. Internationale nicht "grundsätzlich" ab, sondern ihren Aufbau auf einem nicht-revolutionären Programm.

 

3. Warum sollen wir dem RSB nicht beitreten?

Unsere Charakterisierung der IV. Internationale und politische wie programmatische Schlußfolgerungen, die wir daraus zogen, sind es, die es laut Sekretariat des RSB nötig und konsequent machen, daß wir nicht eintreten könnten.

Dabei übersieht das Sekretariat freilich, daß sich, wenn schon nicht unbedingt die Antworten, so doch die Fragen, die wir hier aufwerfen ganz unabhängig von der Existenz der GAM stellen. Eine Krise des Vereinigten Sekretariats kann selbst der größte Optimist nicht leugnen? Doch was sind seine politischen Gründe? Daß der RSB kein Aktionsprogramm für Deutschland hat, ist ebensowenig zu übersehen, wie dessen Notwendigkeit für eine prinzipienfeste und zielgerichtete Intervention in die wichtigen Klassenkämpfe der kommenden Periode.

Weiter. Die Spartacus-Gruppe in Essen, die von ihrer politischen Tradition vom Standpunkt des VS aus Euch genauso nahe oder fern wie wir steht, konnte gleich als Fraktion in den RSB eintreten (etwas, was wir nie beanspruchten!). Sie unterhält weiter Beziehungen zur französischen Gruppe Lutte Ouvrier, die dort neben der VS-Sektion existiert. Ansonsten findet die Spartacus-Gruppe das VS ganz gut, an dem sie ja nur die "Tendenz zur Selbstauflösung" gestört hat. Freilich hätten wir gerne erklärt, worin eigentlich für Euch der Vorzug besteht, die internationale Führung des VS als "permanente Selbstauflöser" - denn irgendwer muß ja für die länderübergreifende Umsetzung und Fortschreibung dieser Methode verantwortlich sein -, denn als Zentristen zu bezeichnen?

Wir fragen weiter, warum es für Euch ein programmatisches Problem mit unserem Eintritt geben soll, wo das programmatische Manifest der IV. Internationale erklärt:

"Übereinstimmung für den Aufbau einer Internationale ist also keine Vorbedingung für den Aufbau nationaler Parteien mit anderen Strömungen, sofern es eine Übereinstimmung über die grundlegenden Ziele und Praxis gibt."

Schon in unserem Brief haben wir dazu festgestellt:

"Beim Gespräch zwischen unseren Vertretern und Hans Jürgen Schulz schien es uns vielmehr so, daß über zentrale nächste Aufgaben - die Notwendigkeit der Jugendarbeit und des Aufbaus einer revolutionären Betriebs- und Gewerkschaftsopposition - Übereinstimmung bestehe. Hinzu kommt, daß wir uns auch darin einig waren, daß heute kein überhasteter Eintritt in die PDS im Osten gemacht werden solle."

Wir würden bis heute gerne wissen, was das Sekretariat des RSB hier anders sieht, was es näher diskutieren möchte usw. Wir warteten bisher vergeblich darauf.

Ebenso vergeblich warten wir bisher auf eine Erklärung, worin die programmatischen Grundlagen des VS genau bestehen, wo doch umgekehrt Vorbereitungsdokumente zum Weltkongreß feststellen, daß "unsere programmatischen Antworten nicht ausreichen".

Wir denken, daß der wirkliche Grund darin besteht, daß die RSB-Führung zwar gern nach außen den Eindruck erweckt, alle Kräfte bündeln zu wollen, die am Aufbau einer starken trotzkistischen Organisation in Deutschland und international interessiert sind, jedoch dann die Tür zumacht, wenn diejenigen, die diese Aufforderung aufgreifen nicht ganz nach ihrem Geschmack sind.

Das betrifft nicht nur die Frage der Mitgliedschaft, sondern selbst die von Euch öffentlich ausgeschriebene RSB-Schulung in Amsterdam. Kaum hatten sich zwei Genossen unserer Gruppe dafür angemeldet, kam eine "neue" Entscheidung, daß nämlich Mitglieder anderer Gruppen keinen Zutritt dazu haben.

Es ist natürlich das gute Recht einer Organisation, die Teilnahme an ihren Schulungen auf wen immer zu begrenzen. Wir halten es aber für unseriös, so zu tun, als gebe es diese Einschränkungen nicht, um sie dann, wenn das Angebot wahrgenommen wird, hervorzuzaubern. Im übrigen würden wir gerne wissen, ob das auch für VSP-, SPD- oder PDS-Mitglieder gilt. Dabei hätten gerade bei der Schulung in Amsterdam die Mitglieder des RSB die Möglichkeit gehabt, zu sehen, ob eine gemeinsame konstruktive Zusammenarbeit sinnvoll und möglich ist. Doch diesem Test wollte uns die Leitung des RSB erst gar nicht unterziehen - trotz des unbestimmten Angebots einer "solidarischen Zusammenarbeit" zwischen den beiden Organisationen.

Der Grund für die Weigerung, die GAM in den RSB zu lassen oder das zumindest seriös in der Leitung und der Mitgliedschaft des RSB zu diskutieren, besteht darin, daß wir eine linke Kritik am VS und seiner deutschen Sektion haben. Es besteht darin, daß wir von Beginn an auf eine ernsthafte programmatische Debatte gedrängt haben. Doch, ob mit oder ohne GAM, Ihr werdet um sie nicht herumkommen. Ihr werdet nicht um die Frage herumkommen, warum die IV. Internationale in der heutigen Krise ist.

Einige Genossen und Genossinnen werden argumentieren, daß wir nur einen Entrismus in den RSB machen wollten, um Mitglieder abzuspalten. Sie werden argumentieren, daß die schwedische Sektion unserer internationalen Tendenz aus der dortigen VS-Sektion, der "Sozialistischen Partei" (SP), hervorging. Freilich waren das keine von uns kreierten "Entristen", sondern langjährige Mitglieder dieser Organisation, von denen manche seit ein oder zwei Jahrzehnten Mitglieder des VS und in der Leitung und der Redaktion der schwedischen SP tätig waren. Sie hatten vielmehr seit Ende 1993 einen Tendenz- und später einen Fraktionskampf um ein Aktionsprogramm und gegen das im Februar 1994 schließlich angenommene Programm der SP geführt, das einen Vorgeschmack darauf liefert, was die "Neuformulierung des Verhältnisses zwischen Reform und Revolution" in der Praxis bedeutet.

Das Ziel ist dort nicht mehr Sowjetdemokratie, sondern "eine zentrale nationale Volksversammlung, ein Parlament, das vom Volk in freien, allgemeinen und direkten Wahlen" gewählt wird. Die proletarische Staatsmacht wird hier nicht als Form der Klassenherrschaft des Proletariats präsentiert, sondern zur "idealen" bürgerlichen Demokratie umgebogen. Kein Wunder, daß laut neuem SP-Programm "die Arbeiterbewegung (bloß) unmittelbar die Zusammenarbeit mit jenen Kräften des Volkes suchen muß, die die Bevölkerung und die Umwelt an erste Stelle setzen. Das Ziel muß darin bestehen, eine gemeinsame Regierung zu schaffen, die einen guten Sozialstaat im Interesse des Volkes und der Umwelt verteidigt und entwickelt." Armee und Polizei müssen für die SP auch nicht mehr durch die proletarische Revolution zerschlagen werden, sondern "die alten Loyalitäten und Hierarchien sowie die Nähe zwischen diesen Körperschaften müssen durch demokratische Reformen zerbrochen werden."

Womit wir freilich bei nichts Neuen, sondern beim Reformismus der Zweiten Internationale wären. Welcher Kommunist, welche Kommunistin kann gegen einen programmatischen Kampf und notfalls einen organisatorischen Bruch mit diesen Auffassungen und der Organisation, die sie vertritt, sein? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten.

Wir haben nie verhehlt, daß wir auch in Deutschland gegen solche Auffassungen offen im RSB wie im VS eintreten würden. Wir haben nie verhehlt, daß wir für unsere politischen Auffassungen im RSB offen argumentieren würden. Doch wir meinen keineswegs, daß sich in einer organisierten, gemeinsamen Debatte keine revolutionäre Organisation auf fester programmatischer Basis aufbauen ließe. Die Führung des RSB hat dem freilich ohne inhaltliche Diskussion und Argumentation eine Absage erteilt. Wir wissen nicht, ob und wie sehr die Frage überhaupt in der Mitgliedschaft des RSB diskutiert wurde, ja ob diese die Briefe, die wir an den RSB schickten, kennt und über Originaldokumente von uns informiert wurde.

Wir senden daher mit diesem Brief Kopien des Briefwechsels, zentrale politische Dokumente von uns und zwei unveröffentlichte Dokumente, die sich mit dem kommenden Weltkongreß des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und der Einschätzung der VSP befassen.

Wir ersuchen Euch, im RSB für eine politische Diskussion mit der GAM und die Unterstützung des Eintritts der GAM einzutreten. Für weitere Informationen und Nachfragen stehen wir gerne zur Verfügung.

Mit kommunistischen Grüßen
Gruppe Arbeitermacht

 

 

 

Die VSP-Pleite und die Lehren im RSB

Zur Delegiertenkonferenz des "Revolutionär Sozialistischen Bundes" (RSB) im Herbst 1994 wurde ein Papier mit dem Titel "Das Projekt VSP - die richtigen Lehren ziehen" als Resolutionsentwurf vorgelegt.

Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten einer Organisation, die sich ernsthaft auf marxistisch/trotzkistisches Erbe beruft, nicht mit der eigenen politischen Vergangenheit nach dem Motto zu verfahren "was kümmert mich mein Geschwätz von gestern". Um so mehr gilt das, wenn es sich dabei um eine mehrjährige Periode handelt, die am Anfang zu einer organisatorischen Trennung (Arbeit in den Grünen) und am Ende zur Neuformierung einer Gruppe, dem RSB, geführt hat. Mit dem Titel hat sich allerdings auch schon das Feld ungeteilter Zustimmung zu den "Lehren" erschöpft.

In der "Vorbemerkung" wird der Anspruch schon wieder heruntergeschraubt:

"Eine Bilanz... wäre schön und nützlich, ist aber nicht unerläßlich....Unerläßlich... ist dagegen, daß die richtigen Lehren aus dem siebenjährigen Projekt VSP gezogen werden."

Wie die "richtigen Lehren" ohne eine solche Bilanz gezogen werden können, bleibt freilich das Geheimnis des Autors dieser Zeilen. Schon hier führt er einen ersten Fehler ein, der sich wie ein roter Faden durch die "Lehren" durchzieht: Eine Bilanz wäre schön, das wir uns aber nicht darauf einigen werden können, wollen wir zumindest die "gemeinsamen Schlußfolgerungen" daraus ziehen.

Die Diskussion innerhalb der GIM und des VS, wie dort überhaupt der Gedanke an eine Fusion mit einer Organisation aus fremder Tradition aufkommen konnte und begründet wurde, wird daher gleich gar nicht rekapituliert. Ebenso hätten die Mitglieder des RSB das Recht und die Verantwortung, eine Bestandsaufnahme der VSP-Gegner über ihren organisatorischen (Irr)Weg (in den Grünen) einzufordern. Auch hier findet sich kein Bezug auf ein entsprechendes Dokument. Wenn man zu wirklichen Lehren kommen will, müssen die Voraussetzungen und Erwartungshaltungen an eine heute als falsch erkannte Politik säuberlich und lückenlos offengelegt werden.

Statt dessen beginnt der Autor gleich mit den Schlußfolgerungen aus dem Scheitern des VSP-Projekts:

"Das Kapitel VSP ist für die Vierte Internationale in Deutschland zu Ende."

"Unabhängig von den Gründen für diese Entwicklung oder einer Vereinheitlichung in der Analyse muß diese Schlußfolgerung die erste verbindliche Lehre der Vierten Internationale in Deutschland aus dem Projekt VSP im Jahre 1994 sein. Wenn es nicht einen ausdrücklich neuen Beschluß der Mitglieder der Vierten Internationale gibt, auch die heute veränderte VSP aufzubauen, dann ist dieses Projekt der deutschen Sektion beendet. Für einen solchen neuen Beschluß gibt es keine Mehrheit, noch nicht einmal einen Antrag, sondern nur eine Unterstützergruppe, von denen sich mehrere bewußt außerhalb der Vierten Internationale in Deutschland stellen."

Die politischen Lehren reduzieren sich hier auf die Feststellung politischer Mehrheiten. Hinzu kommt, daß der Autor unterschlägt, daß der RSB trotz der Tatsache, daß er die überwiegende Mehrheit der VS-Mitglieder in Deutschland vereinigt, um seine Anerkennung auf dem Weltkongreß des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale als offizielle Sektion zittern muß und die Frage nicht als bloße Formalie abtun kann. Schließlich befinden sich innerhalb der Reihen der Vereinigten Sozialistischen Partei gleichfalls Mitglieder des VS; jene "Unterstützergruppe", deren Repräsentanten wie W. Wolf ebenso wie J. Moneta von Seiten der internationalen Führung unverhohlen als deutsche Vorzeige-Trotzkisten gefeiert werden.

Statt nach den politischen Ursachen dieser Entwicklung zu suchen und der Frage nachzugehen, ob diese nicht schon in der Art und Weise der VSP-Gründung selbst angelegt war, will der Autor vor allem zeigen, daß keiner gewußt haben kann, zu welch unerfreulichem Resultat die Fusion mit der KPD führte:

"Die alten Einwände (gegen die VSP-Gründung, d. Red.) sind kein Bezugspunkt mehr."

Natürlich ist es sehr bequem, die damaligen Kritiken gegen das Projekt VSP aus den eigenen Reihen oder "grundsätzlich befreundeten Kreisen" (?) oder aber aus dem "Reich der Toten" den Vorwurf, "die Trotzkisten hätten den Marxismus-Leninismus weggeputscht" als historisch belanglos zu entkräften. Aber die These "Die VSP ist gescheitert, aber aus Gründen und Entwicklungen, die von keiner Seite erkannt wurden" unterschlägt die "Stellungnahme der GAM zur Gründung der VSP", die in einer Flugschrift aus 1987 separat und dann in Arbeitermacht Nr.8 Winter 1987/88 nochmals erschien.

In dieser Schrift legen wir dar, daß nicht etwa ausschlaggebend ist, ob mit der Fusion chemische Risikoelemente (Trotzkisten und Maoisten) aufeinandertreffen würden, sondern die opportunistische Methode, mit der die Vereinigung vollzogen wurde. Wir schrieben damals als Quintessenz aus unserer Einsichtnahme in die Diskussionsabläufe der verschiedenen Arbeitsgruppen beim Gründungskongreß der VSP: "Differenzen werden offengelegt, um sie anschließend untern Teppich zu kehren." Dies betraf v.a. drei Punkte: das Verhältnis zu den degenerierten Arbeiterstaaten, das Verständnis von Aktionsprogramm und die Frage der Notwendigkeit einer Internationale. Sonst die "heilige Kuh" für die GIM-Anhängerschar, wurde die Organisierung beim VS auf die individuelle Mitgliedschaft abgeschoben, für die Gesamtorganisation aber ausgeklammert. Ein Normalsterblicher würde hier unter Garantie als Fall von schwerer Schizophrenie in die Psychiatrie eingeliefert werden. Ein VS-Zentrist aber dichtet sich seinen politischen Bankrott in eine "Dialektik der partiellen Errungenschaften" um.

Ansonsten vertraute man auf die "innere Dynamik", die es in Analogie zum "objektiven Geschichtsprozeß", der für Revolution arbeitet, schon richten würde. Das ist genau die Logik, die der Schreiber der Bestandsaufnahme auch heute noch verbreitet. Wie hat es faktisch später in der VSP ausgesehen? Der Autor beklagt zentral, daß die Programmdebatte nur innerhalb Inprekorr geführt wurde. Nicht jammern, schonungslos die Wahrheit aufdecken - nur das hilft weiter. Und die lautet: die Folgen sind sonnenklar, wenn man sich auf die Vorbedingung des Ausklammerns einläßt. Nur logisch, daß nie die Verpflichtung herausgearbeitet wurde, die Debatte bis zur Klärung der ungelösten Fragen zu führen, weil von Anfang an die Einheit der VSP über die politische Klarheit der Organisation gestellt wurde. Die Abarbeitung allein der offiziell als ungeklärt geltenden Differenzen wie Internationale, Stalinismus, Verteidigung der degenerierten Arbeiterstaaten, ganz zu schweigen von den unter der Oberfläche rumorenden Spannungen, die z.B. sichtbar wurden bei den Schwierigkeiten, eine gemeinsame Gruppenposition bei aktuellen Themen zu finden, mußte auf dieser opportunistischen Grundlage zwangsläufig immer wieder aufgeschoben werden, wollte man die "Einheit der Revolutionäre", die "partielle Errungenschaft" nicht gefährden.

So wurden Dokumente zu wichtigen Fragen, wie zur Perspektive des Imperialismus, niedergelegt in den "Deutschland-Thesen", namentlich gezeichnet. Diese Thesen wurden aber nur von einem Teil der Gruppe geteilt. Es gab jedoch kein Alternativdokument, so daß man darauf als Organisationsposition Bezug nehmen mußte. Oft genug wurden im VSP-Organ "Sozialistische Zeitung" auch mehrere konträre Positionen veröffentlicht. Übrigens eine langgeübte Praxis auch in der GIM. Nun ist es immer schlecht, wenn eine Organisation mit mehr als einer Stimme spricht und kein klares Positionsprofil zeigt. Der Hinweis auf eine "lebendige Streitkultur" in der Gruppe verbirgt allerdings das in Wahrheit monadistische statt kollektive Antlitz der Diskussionsprozesse. In den Publikationen werden nur Schaustellungen geboten nach dem Prinzip: "jeder darf mal seinen Senf dazu geben". Mit zielgerichteter Debatte, die der Organisation wirkliche Fortschritte in Bezug auf Gruppenkonsolidierung und Interventionsfähigkeit im Klassenkampf bescheren soll, hat das nicht das Geringste zu tun.

Die Unlust an theoretischen Auseinandersetzungen wird durch die Schaffung von Spezialforen natürlich weiter gefördert. Diese Maßnahme ist nur die logische Konsequenz in eine Sackgasse, wenn die programmatische Debatte in luftdichte Exklusivgremien verlagert wird, statt sie breit angelegt in der Gesamtorganisation zu führen, oder wenigstens ihre Ergebnisse dorthin zurückzutragen. Auch hier hat der angeblich politisch bewußtere Teil der VSP konzeptionell auf der ganzen Linie versagt, immer davon ausgehend, daß die Einheit der VSP überhaupt gewollt war.

Zu brauchbaren Ergebnissen scheint aber auch die Inprekorr-Strömung nicht gekommen zu sein, denn es existiert kein Manifest, das zu wesentlichen Fragestellungen des Klassenkampfs Stellung bezieht: Imperialismus, neue Weltordnung, Herausforderung durch die Rechte, Stand der Arbeiterbewegung. Gründe für positionelle Klarstellungen hat es allemal gegeben. Auf einer VSP-Veranstaltung in Hamburg prallten Meinungen zu elementaren Fragen, wie dem Verhältnis von Revolutionären zu Gewerkschaften in der VSP, diametral aufeinander. Wenn der Schreiber der Resolution zur VSP konstatiert, es fand keine ideologische Schlacht statt, sondern die "VSP litt von Anbeginn an einer fast hundertprozentigen Nichtwahrnehmbarkeit des einen (ex-stalinistischen) Partners der Vereinigung in allen Fragen der Theorie, des Aufbaukonzepts und des Programms", so unterstreicht dies nur, daß eine stillschweigende Arbeitsteilung, oder besser noch: Hobbypflege, sämtlichen möglichen Differenzen nicht nur aus dem Wege ging, sondern damit auch jede gemeinsame Weiterentwicklung, in welchen Belangen auch immer, praktisch ausschloß.

Weil es nirgends ein Feld echter Herausforderung gab, mußten sich die verschiedenen Teile neutralisieren und schließlich sogar in eine gegenseitige Blockade münden. Aber man vertraute sich lieber den Mysterien der "inneren Dynamik" an, die das Fusionsschiff schon über den schwierigen Kurs steuern würden. Wie aber sollte die Passivität in theoretisch-propagandistischer Hinsicht durch den Kitt einer gemeinsamen Praxis ausgeglichen werden können? Auf der Basis von bloßen Grundsatzerklärungen und einem Parteistatut ohne die angeleitete Zusammenarbeit in allen Bereichen des Organisationslebens konnte gar keine wirkliche kooperative (Außen)Interventionspraxis entstehen. Im Gegenteil, weil zu viele uneingestandene Meinungsverschiedenheiten herrschten, auch v.a. weil die Gruppe über keine gemeinsames Instrumentarium verfügte, sich die Tragweite dieser Unterschiedlichkeiten überhaupt erst begreiflich zu machen und Methoden zu entwickeln, sie zu überwinden, war der Weg in die Katastrophe vorgepflastert. Meistens kam gar keine kollektive Praxis mehr zustande. Die Unerträglichkeit der Klimastörung innerhalb der VSP gipfelte darin, daß bspw. in Hamburg ein Teil der Ortsgruppe (mit maoistischer Herkunft) jegliche Gemeinsamkeit offen sabotierte. Das bedeutete die faktische jahrelange Lähmung einer der wichtigsten Hochburgen der VSP. Anderswo führten die Ortsgruppen in Bezug auf eine willkürliche Kampagnenpraxis ein Eigenleben.

Dieses förderalistische Laissez faire-Prinzip, gepaart mit der Wundergläubigkeit an eine "innere Eigendynamik", deren Ausbleiben dann durch Administration statt Mobilisierung ersetzt wurde, ist ein weiteres Erbübel der GIM und potenzierte sich noch in der Allianz mit einem Zerfallsprodukt des entwurzelten Maoismus. Die Konzepte der VSP und des Eintritts in die Grünen, so unterschiedlich sie sich auf der Ebene der organisatorischen Konsequenz auch auswirkten, hatten eins gemeinsam: sie waren Produkte einer krampfhaften Suche nach Abkürzungswegen im Parteiaufbau, getrieben von einer tief sitzenden Selbstunsicherheit und einem krassen Opportunismus. Das ist auch bei einer Organisation wie der GIM, die ja Erfolg an "Politikfähigkeit", d.h. Mitgliederstatistiken und Promikult mißt, ganz naturwüchsig.

Als dritte Lehre zieht der Resolutionsinitiator den Schluß, "...daß die Fehlentwicklung der VSP weitestgehend unabhängig von diesen äußeren Vorgängen begründet ist und fast vollständig nur subjektives (Fehl-)Verhalten der VSP-Mitglieder, VSP-Führung und Vierte Internationale-Mitglieder als Ursache hat." (Mit "diesen äußeren Vorgängen" ist die Klassenkampfsituation gemeint.)

Wenn das mal kein Irrtum ist! Erst einmal gilt allgemein, daß der Umbruch in der Weltlage mit seinen ideologischen Folgen, speziell auch in Deutschland, innerhalb der Linken einen rapiden Umgruppierungsprozeß in Gang gebracht hat. Wer keinen Zusammenhang zwischen Klassenkampfbedingungen und dem Werdegang von politischen Gruppen unterstellt, ist entweder ein Schelm oder ein Apologet von Fehlkonstruktionen wie der VSP. Wenn die Formation der VSP schon nicht selber als Moment im Teilchenbeschleuniger Klassenkampf angesehen wird, können dessen Auswirkungen auf die VSP jedenfalls kaum geleugnet werden.

Die verheerende Politik zum "Aufbau Ost", wo einem Genossen, der korrekterweise die Gründung von VSP-Verbänden in der Noch-DDR befürwortete und betreiben wollte, der Ausschluß aus der Organisation angedroht worden ist, beweist wohl zur Genüge, daß hier durch die deutsche Wiedervereinigung die Organisation von außen vor eine Zerreißprobe gestellt worden ist, was der Verfasser an anderer Stelle im 2. Absatz seiner 3. These dann auch eingesteht.

Auch bei der subjektiven Verhaltensschelte ist eine gleichrangige Schuldzuweisung bequem und verschleiert die Ursachenforschung nur. Als Gründungsfundament der VSP wird stolz das "Selbstverständnis als demokratisch-zentralistische Klassenpartei" hervorgehoben. Eine solche Charakterisierung legt u.E. fest, daß die bewußtesten Kräfte, v.a. die Führung, aber auch die Elemente, die sich auf den Trotzkismus berufen, Verantwortung für alles, was im Namen der Organisation geschieht, zu übernehmen haben und den Mitgliedern Rechenschaft schulden. Wenn alle ein bißchen Schuld haben, kann am Ende niemand wirklich haftbar gemacht werden für den Scherbenhaufen und eine weitere Wesensfrage des Organisationsaufbaus, nämlich die der politischen Leitung, bleibt unbeantwortet.

Die 4. These rührt nun scheinbar ans Eingemachte. Jedenfalls ist die Erwartung nach der Überschrift "Bruch mit den zwei wichtigsten Prinzipien der revolutionär-sozialistischen Arbeiterbewegung" hochgespannt. Und was lesen wir da:

"Die ungleiche und kombinierte Entwicklung hat der Arbeiterbewegung ihr heterogenes und in Strömungen und Fraktionen gespaltenes Dasein beschert; die Dialektik der partiellen Errungenschaften führte zudem zum 'Normalfall', daß die revolutionären Sozialisten darin eine Minderheit sind. Daraus folgt das erste wichtige Prinzip der revolutionären SozialistInnen- KommunistInnen: Mehr werden!"

Lassen wir einmal die auch nicht unumstrittene Prämisse beiseite, so liegt hier eine schlimme Vertauschung von Methode und Ziel vor. Das Prinzip, das in Wirklichkeit von der VSP mißachtet worden ist, war das von "Klarheit vor Einheit".

Bevor zur Jagd auf numerische Rekorde geblasen werden kann, muß man erst einmal die eigenen Reihen stabilisieren und aus 600 Karteikarten 600 Parteikader schmieden, die die Überzeugungs- und Tatkraft aufbringen, um selber rekrutieren zu können. Gerade dieser Ausbildungssektor aber wurde in der VSP vernachlässigt. Dann erst, mit gefestigten Kadern, hat man einen Gradmesser für Erfolg und nicht kurzfristige Gewinne, wie die VSP, die sich nur als eine äußerlich stattliche Erscheinung, innen aber hohles und künstlich aufgeblasenes Gebilde entpuppte. Deswegen ist es auch müßig darüber zu spekulieren, wieviel die VSP in der Ex-DDR hätte gewinnen können. So wie die VSP war, mit ihrer Politik des Ausweichens vor einer dezidierten Stellungnahme zum Stalinismus, hätte sie die Leute gar nicht oder nur an ihre eigene Verwirrung binden können. Das eigentliche Problem wollen offenbar auch diejenigen nicht ansprechen, die jetzt die VSP verlassen haben und damit "weniger" geworden sind, denn nicht die Größe einer Organisation, sondern deren Verankerung in den Klassenkämpfen und ihr Beitrag zur Lösung der Führungskrise der Arbeiterbewegung ist allein ausschlaggebend.

Als zweites Hauptprinzip wird die "Partizipation des oder der Einzelnen an Planung, Entwicklung und Umsetzung der Gesamtzielsetzung" vorgestellt. Als Verletzung dieses Prinzips wird moniert: "statt Entscheidungen, die eine Entwicklung ermöglicht hätten, gab es eine Inflation an kompetenzlosen Konferenzen und sorglos daherfabulierenden EinzelautorInnen bei der Zeitungsmache, mit entsprechendem Nomadentum bezüglich konkreter politischer Positionen,... statt die Mitglieder zur Krisenlösung zu mobilisieren, wurden sie verstärkt ausgeschaltet." Nach dieser halbwegs korrekten Aufzählung von Symptomen verblüfft der Autor mit folgendem Kernargument: "bewährte und gerade von der Vierten Internationale systematisch entwickelte Parteimechanismen wie Tendenz- und Fraktionsstrukturen, die ja vor allen anderen Spaltungen verhindern, also Einheit wahren sollen, wurden verteufelt."

Wenn Tendenz- und Fraktionsrecht dahingehend pervertiert wird, daß sein Zweck die Wahrung von Einheit sei, dann verdient es allerdings auch, verteufelt zu werden. Eine so schwerwiegende Maßnahme wie Fraktionsbildung kann in trotzkistisch-leninistischem Vermächtnis natürlich nur ein letztes Mittel sein, die Mehrheit hinter sich zu bringen, die Führung zu erringen und das Ruder für den Gesamtkurs der Organisation herumzuwerfen. Und dieser Kampf muß auf eine alsbaldige Klärung drängen, an dessen Ende in der Regel ein Führungs- und Kurswechsel oder aber ein organisatorischer Bruch (also die Spaltung!) stehen muß. Als Dauereinrichtung aber verkommen Tendenzen und Fraktionen zu einem scheindemokratischen Stillhalteabkommen, das den eingefleischten heimlichen Dirigismus der Zentrale in Wahrheit zementiert. Dieses (Miß)verständnis von Tendenz- und Fraktionsfunktion ist ein typisches Merkmal des VS-Zentrismus.

In der 5. These "Verlust der Einheit von Form und Inhalt" wird gesagt, erst hätte die "(Selbst)Zerstörung des organisatorischen Projektes" stattgefunden, was die VSP in Widerspruch "zu ihrer revolutionären Programmatik" hätte geraten lassen. Das sind jedoch Behauptungen. Dazu gehören Beweise auf den Tisch; Beweise, worin denn die revolutionäre Programmatik der VSP gelegen haben soll. Soziale Orientierung auf die Arbeiterklasse, Ausnützen gesellschaftlicher Widersprüche und Partei als verschworene Gemeinschaft sind bei x-beliebigen anderen Organisationen von der DKP bis zur Spartakist Arbeiterpartei Deutschlands anzutreffen. Außerdem wird vom Verfasser ja immerhin selber bemängelt, daß die Programmdebatte innerhalb der VSP zumindest stagniert hat. Auf welches Programm will man sich also beziehen? Bliebe höchstens das der GIM, aber über die Illusion ihres revolutionären Programmgehalts haben wir sehr ausführlich in unserer "Stellungnahme der GAM zur Entstehung der VSP" Bericht erstattet.

Wenn der Urheber dieser Bilanzierung kritisiert, daß wieder "altbekannte reformistische Vorstellungen mit einer entsprechenden Partei der Trennung von Maximal- und Minimalprogramm" aufgetaucht wären, und von da nur ein kurzer Schritt war, um bei einer Debatte um einen "neuen Parteitypus" (wie bei der PDS) anzugelangen, soll das dann etwa heißen, daß revolutionäre Methodik der Übergangsforderungen anfangs bei der VSP Konsens gewesen wäre? Dieser Punkt gehört nämlich genauso wie andere Grundfragen einer revolutionären Organisation zu den Themen, die bei Gründung entweder gar nicht erst angeschnitten wurden, oder die man mit der Strategie des Aussitzens einfach wegzuzaubern hoffte. Bei Anzeichen von Krise kehren diese ungelösten Probleme durch die Hintertür wieder ein, und der totgeglaubte Stalinismus ist doch gar nicht so tot, um seine verschimmelte Version der Trennung von Maximal- und Minimalprogramm nicht wieder frisch überzuckert auftischen zu können. Es verhält sich eben doch vielmehr so, daß das organisatorische Projekt trotz der Erkenntnis über gravierende Defizite an inhaltlichen Gemeinsamkeiten (und methodischer Klarheit fügen wir hinzu) zusammengeschustert wurde.

Mit dem nächsten Kapitel "Die Kontinuität der Vierten Internationale" führt der Protagonist der VSP-Rückschau die eigene These vom Bruch der Einheit von Form und Inhalt ins Absurde. Er legt dort dar: "Zum Gelingen der VSP-Gründung hat die Vierte Internationale einer organisatorischen Regelung zugestimmt, die ihre unabhängige Organisation... suspendierte zugunsten einer Organisierung innerhalb der neuen Organisation.... Dies selbstverständlich nur als Übergangsregelung bis zur tatsächlichen Auflösung der Vierten Internationale in Deutschland oder eben bis zur Selbsterklärung der Gesamt-VSP zur Sektion." Dieser Darstellung wird im übrigen in anderen Aussagen führender RSB-Vertreter widersprochen, wonach dieser organisatorische Schritt zur Verschmelzung von GIM und KPD zur VSP nicht mit Billigung des VS der IV. Internationale vonstatten gegangen sei.

Erstaunt zeigt sich dann der Autor über den Sinneswandel bei den eigenen Genossen: "Was niemand bei der VSP-Gründung für möglich gehalten hatte, daß ohne Diskussion, ohne Druck eine Reihe von GenossInnen sich gegen die Vierte Internationale stellen würde, war eingetreten." An diesem Verhalten läßt sich v.a. eins ablesen, nämlich daß das vielbeschworene besondere, enge Verhältnis zur IV. Internationale bei Licht besehen ein äußerliches, von Opportunismus geprägtes ist. Wer die Chance zum "Mehr werden" eben außerhalb des VS wittert, der braucht sich um solche organisatorischen Hülsen, denen jeglicher inhaltlicher Kodex fehlt, nicht mehr zu scheren. Der Schreiber dieses Papiers strickt selber fleißig an der Aufdeckung dieser Legende mit, indem er sich in seiner Enttäuschung über diesen "Verrat" zu der Äußerung hinreißen läßt, die letzte Möglichkeit, "die Reste der VSP in eine aktive(re) Zukunft zu retten", wäre eine "Abstimmung über den Anschluß an die Vierte Internationale ohne vorherige Debatte" gewesen. Hier vollführt der Autor Purzelbäume. Putschismus ersetzt den prinzipienfesten Fraktionskampf. Wie ernst soll man da seine Klagen über den undemokratischen manövristischen Charakter des VSP-Organisationslebens, über Diskussionsdefizite und über die Abkapselung der Inprekorr-Strömung eigentlich noch nehmen?

Kehren wir noch einmal zurück zum zentralen Argument, was der VSP den Garaus gemacht hat. Da heißt es in These 3:

"Tödlich für solche (Propaganda)Organisationen sind allerdings Fehler in der Beziehung der Propaganda zu den PropagandistInnen (Widersprüche im Parteileben) im Umgang mit Unklarheiten und offenen Posten in der Propaganda (Lebendigkeit und Überprüfbarkeit von Politik und Programm) und im Umgang der eigenen Kräfte untereinander (innere Demokratie, Bürokratisierung, Verhältnis formeller zu informellen Strukturen."

Waren diese Faktoren nicht von Anfang an auf den Treibsand einer Vereinigungshysterie gebaut und nicht ein einziges Versteckspiel in Bezug auf Parteiaufbaukonzept, Programmverständnis und Prioritätensetzung bei der Intervention im Klassenkampf? Das Scheitern der VSP wird von vielen RSB-Mitgliedern letztlich auf die starke Demoralisierung eines Teils der Mitgliedschaft reduziert. Wer das annimmt, hat ein Interesse daran, Spuren zu verwischen. Individuelle Demoralisierungstendenzen sind auch in gesunden revolutionären Organisationen nicht auszuschließen. Aber wenn sie als Gruppenphänomen epidemisch auftreten, zumal noch an einem bestimmten politischen Teil, nämlich der KPD, festzumachen sind, müssen sie rückreichende Ursachen haben.

Ein Blick auf den Werdegang dieser Ex-Maoisten hätte schon darauf aufmerksam machen müssen, daß diese Gruppierung sich im Niedergang befunden hat. Verluste ihrer einstigen Leitbilder und Mitgliederschwund müssen ihre negativen Spuren in der politischen Gemütsverfassung hinterlassen haben, so daß die Fusion für sie ein Platz im Rettungsboot war, aber rudern sollten andere. Die Ex-KPD glänzte von Anbeginn, nicht erst im Laufe der VSP-Geschichte, durch Nichtwahrnehmbarkeit in Theorie, Aufbaukonzept und Programm. Bei beiden Teilen stand nur der Wunsch, durch die Spritze des Mitgliederzuwachses die eigene Degeneration zu betäuben, im Mittelpunkt. Konnte bei der VSP-Gründung noch niemand diese Krisenzeichen vorausahnen? Doch, man konnte:

"Hinter der propagierten Aufbruchstimmung steckt in Wirklichkeit ein tiefliegender Pessimismus, ein Pessimismus, der sich mit 'revolutionärer' Ungeduld paart.." (Arbeitermacht 8, 'Stellungnahme der GAM zur Entstehung der VSP')

Wenn wir immer wieder die Notwendigkeit des "Programms zuerst" betonen, machen wir damit unser Programm keineswegs zur Ikone, sondern wir haben das Verständnis, daß ein Programm nur so viel wert ist, wie es seine Korrektheit in der Praxis beweist und zur Leitschnur des politischen Handelns wird. Wird jedoch keine klare Methode der Programmerarbeitung verfolgt, muß auch der Parteiaufbau auf der Strecke bleiben. Genau das war bei der VSP der Fall.

Das vorgelegte Dokument läßt nicht erkennen, daß die Lektion aus dem "Betriebsunfall" VSP gelernt worden ist. Es besteht andererseits jedoch kein Grund, bei einem Scheitern des RSB heute sich genüßlich zurückzulehnen mit der selbstgerechten Pose, "es ja schon immer gewußt zu haben". Gerade deshalb ist es notwendig, die Lehren aus dem Scheitern der VSP ernsthaft und schonungslos zu ziehen, um deren Wiederholung zu vermeiden.

 

 

 

Quelle: www.arbeitermacht.de